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Stunden der Andacht
zur Beförderung
wahren Chriſtenthums
und
häuslicher Gottes verehrung.
Dritter Band.
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—— *
...
Sechsundzwanzigſte vollftändige Original» Auflage
In acht Bänden.
Aarau 1846.
Im Verlag bei Heinrich Remigius Sauerländer.
Frankfurt am Main,
Johann David Sauerländer.
IBRARN
4 JAN 2 8 1969
7
—
1.
Im Anfang des neuen Jahres.
Pſalm 46, 11.
Du haſt auch im verfloſſ'nen Jahr
Mich väterlich geleitet;
Und wenn mein Herz voll Sorgen war,
Mir Hilf' und Troſt bereitet.
Von ganzer Seele preiſ' ich Dich,
Und übergeb' aufs Neue mich,
Gott, Deiner weiſen Führung.
Laß, Gott, dies Jahr geſegnet ſein,
Du haſt es mir gegeben.
Verleih' mir Kraft — die Kraft iſt Dein! —
In Dir beglückt zu leben.
Sei in der Lebensnacht mein Licht, 4
Im Sturme meine Zuverſicht,
Sei Du der Hort der Meinen!
Gib mir, wofern es Dir gefällt,
Des Lebens ſtille Freuden;
Doch ſchadet mir das Glück der Welt,
So ſende, Herr, auch Leiden.
Nur ſtärke Du mit Muth mein Herz,
Dann wird mir auch der größte Schmerz
Die höchſte Luſt nicht rauben.
Wie bange pochen Millionen Herzen! Furcht und Hoffnung
bewegen ſie. Wenige mögen in die Vergangenheit zurückblicken,
die Meiſten ſtarren in die Zukunft hinaus, forſchend, horchend,
ſorgenvoll, betrübt. Was bringt uns das neubeginnende Jahr?
oder vielmehr, was wird es uns noch nehmen? Was wird aus
uns nach abermals zwölf Monden geworden ſein? was aus unſern
Familien? Haben wir die ſchwerſten Schickſale des Lebens ſchon
überſtanden, oder ſtehen ſie uns noch bevor? — Wie mancher
würde ſich nicht eben jetzt das Vermögen wünſchen, einen hellen
Blick in die Verborgenheit der nahen unbekannten Zeiten zu thun!
Wien ſollen wir fragen? — Sturm iſt die Zukunft. Gott ver⸗
hüllt ihr Antlitz.
— 4 —
Der Leidende, ſchon muthlos durch frühere Unfälle, zittert
vor noch größern. — Der Glückliche, welcher die Erfüllung
mancher Hoffnung ſchon nahe vor ſich liegen ſieht, erſchrickt bei
dem Gedanken, daß ein unerwarteter Zufall ihm alle Luftſchlöſſer,
die er ſich gemacht, gänzlich zerſtören könne.
Ach, wie verzeihlich ſind des Menſchen Beſorgniſſe! — Sollen
wir aber deswegen in Angſt und Verzagtheit untergehen vor der
Zeit? — Nein. Wir ſollen nur als weiſe Menſchen uns mit
Muth gegen Alles waffnen, was da geſchehen konne.
Wahrer Muth iſt aber nicht jener Leichtſinn, der, ohne der Ge⸗
fahr ins finſtere Auge zu ſehen, ihr entgegen ſcherzt und ſich von
ihr unvorbereitet überraſchen läßt; wahrer Muth iſt auch nicht
jene an Allem verzagende Verzweiflung, die ſich blindlings, ohne
Hoffnung und ohne Vorſicht, in die Noth hineinſtürzt: ſondern
der Muth des Weiſen beſteht in der Furchtloſigkeit, welche aus
der Ueberzeugung entſteht, daß auch das Schrecklichſte nicht un⸗
überwindlich ſei; in Unerſchrockenheit, weil man die Mittel und
Wege kennt, mit denen die Gefahren, wenn ſie herannahen, zu
beſeitigen ſind, daß ſie uns nicht ganz verſchlingen. |
Gewöhnliche Menſchen, die, ohne Herrſchaft über fich ſelber,
im Sturm der Zeiten daſtehen und nur ſo handeln, wie es ihnen
eben im Augenblick beifallen will, folglich ohne höhern Plan,
ohne, jene erhabene Beſonnenheit des ächten Weiſen, pflegen ſich
auf zwei ganz entgegengeſetzte Arten den fehlenden Muth zu er⸗
fünfteln. Denn des Muthes in ſo ſchickſalvollen Zeitläuften haben
ſie vonnöthen; das fühlen ſie täglich.
Die Einen, weil ihr Temperament dazu geneigt macht, wollen
ſich wegen deſſen, was da kommen ſoll, nicht harmen; täuſchen
ſich ſelbſt mit Schönen Erwartungen; glauben an das Erſcheinen
der unwahrſcheinlichſten Zufälle, die aller Noth ein Ende machen
ſollen; mögen nicht ſehen, nicht glauben, was vor ihren Augen
liegt; legen Alles anders und vortheilhafter aus, als es iſt; leben
nach wie vor einen guten Tag, und berauſchen gleichſam mit
Träumereien, die nie erfüllt werden können, ihren geſunden
Meuſchenverſtand. Sie gleichen Seefahrern, deren Schiff im
wilden Sturm über Untiefen ſchwankt, welche Vernichtung
—
Pr.
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ee
drohen, und die, um ſolche Gefahr nicht zu ſehen, ſich mit geiſti⸗
gen Getränken betäuben. Unvorbereitet auf die Schläge des
Schickſals, werden ſie nachher nur deſto härter von demſelben
überfallen. Ihre Heiterkeit verwandelt ſich dann um ſo ſchneller
in dumpfes Verzweifeln. Ihr werdet ſie am Tage des Unglücks
um fo gebeugter erblicken, je trotziger vorher ihr lachender Leicht-
ſinn ſtand.
Die Andern, vielleicht von Natur verzagt, halten es fur
klüger, immer von den Verhängniſſen der Zukunft das Schlimmſte
zu erwarten. In den unbedeutendſten Zufällen erkennen fie ſchon
Vorboten irgend eines Uebels. Sie quälen ſich immerdar mit
bangen Vermuthungen; hören gleichgültige Nachrichten mit Arg—
wohn, frohe Botſchaften mit Unglauben, böfe Gerüchte mit Leicht-
gläubigkeit. Perſonen von dieſer Denkart leiden ſchon alle Noth,
ehe ſie da iſt, find ſchon von der Gefahr überwunden und ent⸗
kräftet, ehe der wirkliche Kampf mit ihr beginnt. Sie gleichen
Kriegern, die aus Furcht vor der Moglichkeit eines nahen Streites
ſich weder mit Nahrung noch Schlummer ſtärken können; und
ſchon erkrankt und beſiegt da liegen, ehe der Feind heranzieht.
Dies iſt nicht der Muth des Weiſen, mit welchem er ſich zum
Empfang bevorſtehender Schickſale rüſten ſoll.
Wo aber ſoll ich den edeln Muth finden, der mich in den
bedenklichſten Umſtänden aufrecht halten kann?
Du findeſt ihn nicht in deinem Fleiſch und Blut, in deinem
Irdiſchen, in deinen angenehmen Erwartungen, oder in der Ge-
wöhnung, das Schlimmſte zu befürchten. Der wahre Muth muß
eine Sache deiner ſelbſt, das heißt, deines Geiſtes ſein. Du
mußt dich überzeugen können, daß derjenige noch nichts verloren
hat, der ſich ſelbſt nicht verliert. Du mußt dich überzeugen, daß
dein Geiſt Alles, und alles Irdiſche, was dir gegeben iſt, dein
Amt, dein Einkommen, dein Vermögen, dein Anſehen vor den
Menſchen, deine Bequemlichkeiten Nichts ſind. Du mußt dich
überzeugen, daß die Ruhe deines Geiſtes eigentlich das iſt,
was du Glück nennſt, was du mit ſo vieler Mühe ſuchſt und
weder im Gelde, noch in den Ehrenſtellen, noch in äußerlichen
Vorzügen findeſt. Kannſt du nicht glücklich ſein, du ſteheſt hoch
a
oder niedrig, arm oder reich, geprieſen oder verkannt, jo bift du
noch nie glücklich geweſen, ſo wirſt du es niemals werden; ſo
biſt du würdig, unglücklich zu ſein, auf daß du endlich lerneſt,
dich zu dir ſelbſt zu erheben.
Haſt du aber das Ziel erreicht, haſt du dich ſelbſt gefunden;
fühlſt du, daß deine Seele ſchon auf Erden in der Geiſterwelt iſt,
nicht in der vom Spiel des Staubes abhängigen Thierwelt;
kannſt du in gänzlicher Verarmung voll heitern Bewußtſeins,
auch unter Verachtung vom großen Haufen voll edeln Selbſt⸗
gefühls bleiben: dann hörſt du, o Geiſt, dann verſtehſt du andere
Stimmen, als diejenigen ſind, welche aus dem Staube hervor⸗
klingen; dann, o Geiſt in deiner göttlichen Natur, Hörft du nicht
mit Entſetzen vom Untergang der Völker, vom Untergang deiner
Erdengüter, von der Gefahr deines Leibes und Lebens, ſondern
über dem blutigen, grauenvollen Weltgewühl die Stimme Gottes,
wie ſie aus der heiligen Schrift redet: Seid ſtille, 2 er⸗
kennet, daß ich Gott bin! (Pf. 46, 11.)
Seid ſtille! Denn es iſt nicht die Kunſt der Menſchen,
nicht ihre Kraft, nicht ihre Klugheit, die das hervorgebracht hat,
was geſchehen iſt, und was noch im bevorſtehenden Jahre mit
euch geſchehen ſoll: es iſt ein Anderer, es iſt der Höchſte, nach
deſſen Werken die Sternenwelten des Himmels ihre Bahnen, und
die kleinſten Gewürmer des Staubes ihre Wege ſuchen müſſen.
Er iſt's, und es iſt kein anderer Gott, als Gott.
Er waltet, er immerdar unerforſchlich groß, weiſe, Alles un
faſſend! Kein Anderer waltet neben ihm in der Unendlichkeit. Du
mögeſt nun furchtſam zittern, oder gelaſſen ſeine Verhängniſſe
erwarten und empfangen; du moͤgeſt wegen fehlgeſchlagener
Wünſche trauern, oder getröſtet bleiben; du mögeft um das, was
vergangen iſt, und das, was noch erſcheinen will, verzweifeln
oder frohen Sinnes fein: es iſt vergebens. Deine Thränen und
Sorgen, dein Jauchzen und Frohlocken ändern nichts in der
ewigen Weltregierung. Es geſchieht fein Wille, ob ihn der Sterb—
liche erkenne oder nicht, preiſe oder beklage. Ein goldener Thron,
oder ein Häuflein, von Ameiſeu zuſammengeſchleppt, was gelten
fie im Blick des Allerhöchſten mehr, denn Staub, aus welchem
— U —
ſie durch Menſchen und Ameiſen gemacht wurden? Da nun,
Sterblicher, deine Furcht nichts rettet, deine Angſt nichts ändern
kann: warum zitterſt du vor dem, was den Völkern, was dem
Vaterlande, was deinem eigenen Hauſe, was ſelbſt deinem Leibe
in dem neubegonnenen Jahre widerfahren koͤnnte? O Geiſt von
uͤberirdiſcher Natur, erhebe dich zu dem hohen Ueberixdiſchen, der
ewiglich und ernſt waltet, und du wirſt mit frommer Ergebung
in feine Verhängniſſe eintreten. Vollziehe in der Welt als Haus⸗
vater, als Hausmutter, als Untergebener, als Vorgeſetzter, als
Bürger, als Menſch und Chriſt deine Pflichten, und für das
Uebrige zittere nicht. Vollziehe deine Pflichten, denn dieſe ſind
dir, nicht die Weltregierung, übertragen.
Seid ſtille und erkennet, daß ich Gott bin! — Der
Allmaͤchtige waltet! Haſt du, der heute mit Verzagtheit in die
kommenden Tage des jungen Jahres blickt, Gott nicht aus den
vergangenen Tagen und ihren Schickſalen erkannt? — Er war's,
der im Ewigen waltet, der Allem ſein Maß und Ziel ſetzt, und
jeder Kraft ihre Grenze. Er war's, der da iſt der Gott der Heer⸗
ſchaaren und der Freudentage, vor dem nichts klein und nichts
groß iſt. Das Außerordentliche wirkt er mit Dingen, welche den
Sterblichen ſehr geringfügig ſcheinen, und das Unerhörteſte vers
richtet er durch den alltaͤglichſten Vorfall. Darum iſt er Gott,
und kein Allmächtiger iſt außer ihm!
Und Tauſende und Millionen gehen dahin, und ſind Zeugen
der beiſpielloſen Begebenheiten, und hören das Unerhörte, ohne
dadurch zu einer höhern Denkart geſtimmt zu werden. Ihr Ge⸗
danke rührt kaum an Gott. Sie ſprechen: Gut, daß es ſo kam,
laſſet uns froher Dinge fein! — So geht das Thier und ver—
zehrt den Samen, der auf der Erde liegt, ohne hinaufzublicken
zu den Zweigen, welchen die wohlthätige Nahrung entſank. Es
iſt keiner Gedankenerhebung faͤhig. Es lebt, um ſich zu ſaͤttigen,
und fättigt ſich, um für den Tod reif zu werden. Iſt es anders
mit dem Menſchen, der, ohne über ſich emporzuſchauen, nichts
ſieht, als das gegenwärtige Ereigniß des Augenblicks?
Und Tauſende und Millionen ſahen moglich werden, was
aller Klugheit unmöglich ſchien, und gehen bang und ſchüchtern
re
dahin, ins neue Jahr ein, und zittern vor dem, was noch kommen
ſoll! — Noch immer nicht haben ſie den Herrn erkannt. Welche
Wunder und Zeichen ſollen geſchehen, daß ihr glaubet? daß ihr
euch ſeiner Führung mit ſchweigendem Vertrauen überlaſſet?
Warum fürchtet ihr die Zukunft, da der Herr der Vergangenheit
noch lebt und waltet?
Seid ſtille und erkennet, daß ich Gott bin! — Gott
waltet, der allein zu walten die Weisheit hat. Was geſchehen iſt,
war die Wohlthat für kommende Zeiten und Geſchlechter; was
geſchehen wird, iſt der Segen für uns Alle. In ſeiner Hand
wird der Augenblick einer That zum Samenkorn, welches durch
Jahrhunderte keimet, reifet, und nach Jahrhunderten noch Frucht
trägt. Was dir im gegenwärtigen Jahre zu Theil werden ſoll,
hat ſeine Weisheit ſchon in undenkbaren Zeitaltern geſäet. Erſt
jetzt ſollſt du es genießen. Kleinmüthiger, kannſt du glauben,
daß der, welcher den Grund deiner Schickſale ſchon damals gelegt
hat, als du noch nicht wareſt, deiner in den Tagen vergeſſen
könnte, da du dieſe Schickſale empfangen ſollſt? Erkenne endlich
feine Weisheit, das wird deine höchſte Lebensweisheit fein! —
Murre nicht, wenn dich Verluſte treffen; klage nicht die Vor⸗
ſehung an, wenn dir die Schickſale der Welt und deines Lebens
unverſtändlich ſind. Thue deine Pflichten, wie Chriſtus ſie dich
lehrte, und für das Uebrige laß den ſorgen, der allein zu walten
die Weisheit hat. Murre gegen deines Herzens Schwächen, klage
über die Fehler, welche deine Seelenruhe ſtören. Was du durch
eigene Ungerechtigkeit verſchuldet Haft, mußt du dir ſelber zu⸗
rechnen. Was dir geſchieht ohne dein Zuthun, was du weder
herbeiführen, noch abändern kannſt: das iſt das Werk des All⸗
weiſen, dies dein und der Deinigen Glück. Darüber ſei harmlos,
wenn es auch noch ſo ſchrecklich ſcheinen ſollte. Denn der die
Nacht ſendet, ſchuf auch die leuchtenden Sterne! — Es blickt der
Thiermenſch, wie das Thier, überall nur vor ſich in den Staub
nieder, hält mit verdüſtertem Verſtande Alles nur für eine Vers
kettung ſinnloſer Zufälle, baut auf feine Klugheit und eigene
Kraft viel; das Uebrige nennt er Glücksſpiel. Der Menſch Gottes
blickt aufwaͤrts; die Ueberwindung ſeiner ſelbſt, das heißt, ſeine
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a
Tugend ift das geiftige Band, welches ihn an Gott knüpft, und
eben dadurch wird ſeine eigene Klugheit wirkſamer, heller, ſeltener
fehlſchlagend, weil fie nie ohne Rechtlichkeit iſt; darum wird feine
eigene Kraft gewaltiger, weil ſie ſich auf ein hoͤheres Vertrauen
ſtützt. Darum wird mit Recht nur derjenige weiſe genannt, der
tugendhaft handelt; und darum iſt der Tugendhafte der Furcht⸗
loſeſte. Wer mit Gott ſtehet, wer will wider ahn ſtehen?
Seid ſtille und erkennet, daß ich Gott bin! — Er
waltet, deſſen zärtliche Vaterliebe allein zu walten das Recht hat.
Warum biſt du bekümmert um das, was dir die Stunden des
neuen Jahres entgegenführen werden? Haſt du noch immer nicht
die ewige Liebe erkannt in deinen längſtvergangenen Tagen? Wie
oft haſt du nicht ſchon, wie heute, ebenfalls das allerſchönſte
Loos erwartet, oder das böſeſte befürchtet? Und was geſchah dir?
Das ſchönſte, wenn es erfüllt ward, war weder ſo ſchön, noch
das furchtbarſte ſo böſe, als du es dir vorgeſtellt, ehe es da war.
Kein einziges deiner Lebensjahre war eigentlich durch und durch
ſchrecklich; immer brachte es dir von Zeit zu Zeit auch eine Hand
voll unerwarteter kleiner Freuden, die dich erquicken mußten. Keines
deiner Lebensjahre war durch und durch voller Wonne; immer
mengte ſich in die Süßigkeit auch ein bitterer Tropfen. — Wohlan,
erkenne im Spiegel deiner Vergangenheit das ganze Bild deiner
Zukunft! Die Dinge um dich her mögen andere Geſtalten und
Namen annehmen: im Weſentlichen bleiben die Sachen ſich gleich.
Immerdar wird ſich zu großem Schmerz bald eine große Luſt,
zum Schatten ſich wieder ein erhebendes Licht geſellen. In dieſem
wohlthuenden Wechſel erkenne die ewig waltende Liebe deines
Vaters bis zur letzten deiner Stunden.
Haſt du die Liebe Gottes in deinen vorigen Jahren erkannt,
ſo gehe dann hin, und glaube jedes Jahr und jeden Tag feſter
an fie, und dein Glaube wird dir helfen! Und mit den drohen—
den Gefahren wird dein Muth ſteigen; denn du kennſt den, deſſen
Güte für dich wacht. Und rufen wirft du mit jedem Gläubigen,
rufen mit David: Gott iſt unſere Zuverſicht und Stärke, eine
Hilfe in den großen Nöthen, die uns getroffen haben. Darum
fürchten wir uns nicht, wenn gleich die Welt unterginge und die
Berge ins Meer ſänken; wenn gleich das Meer wüthete und wal⸗
lete und von ſeinem Ungeſtüm die Berge einſänken. Der Herr
Zebaoth iſt mit uns, der Gott Jakobs iſt unſer Schutz. Sela.
Kommet her und ſchauet die Werke des Herrn, der auf Erden
ſolches Zerſtören verrichtet; der den Kriegen ſteuert und aller
Welt; der Bogen zerbricht, Spieße zerſchlägt und Wagen mit
Feuer verbrennt. Seid ſtille und erkennet, daß ich Gott bin!
(Pf. 46, 1 — 11.)
Du, Herr, Du Alleingewaltiger auf Erden, wie im Himmel,
Du biſt Gott, biſt mein Gott! Ich habe Dich erkannt in den
Begebenheiten meiner bisherigen Jahre. Ich habe Dich erkannt
in Deiner unendlichen Macht, oft mit Entzücken, oft mit Beben.
Darum biſt Du meine Zuverſicht, meine Hoffnung. Mein Muth
wanket nicht, denn ich halte mich an Dich, mögen die Wetter des
Schickſals noch ſo gewaltig um mich her toben.
Unverzagt trete ich in die Tage des neuen Jahres ein. Viel⸗
leicht bringt einer dieſer Tage mir Elend, Flucht und Armuth —
ich werde das Schwerſte mit Gleichmuth tragen, und denken, daß
Du, Allweiſer, mich, Dein Kind, prüfen wolleſt, ob ich mehr
hange an Dir oder an den Bequemlichkeiten des ſinnlichen Lebens.
Vielleicht raubt mir einer dieſer Tage nicht nur Hab und Gut,
ſondern ſelbſt das Leben der Theuerſten meiner Lieben auf Er⸗
den — — ich ſchaudere bei dieſem Gedanken, — Vater, o Vater
der Liebe, mein Herz will bluten — aber ich werde ſprechen wie
Hiob: Du haſt ſie mir gegeben, Du haſt ſie mir genommen! Ich
werde denken, Du wolleſt durch ſie meine Seele nur feſter an
die Ewigkeit knüpfen. Vielleicht führt mir einer dieſer Tage
meinen eigenen Todesengel zu — Vater, Dein Wille geſchehe!
Mein brechendes Auge wird ſehnſuchtsvoll emporſchauen zu Dir,
und meine Seele wird Dich anrufen: Allbarmherziger, laß mich
eingehen in Dein Reich.
Und haſt Du es anders über mich verhängt — ſoll dies Jahr
beglückt und ſegensvoll für mich und die Meinigen werden —
mit tiefer Dankbarkeit werde ich, mein Gott, die Gaben Deiner
Liebe nehmen, mit Weisheit benutzen für mich und Anderer.
er
Wohl; kein Glück ſoll mich übermüthig machen. Denn ich kenne
den Wechſel der Dinge. Alles währet nur eine kurze Zeit.
Aber daß ich Dich immer heller erkenne, auf daß mein Geiſt
immer freudiger und muthiger ſei für das Leben und für das
Sterben — dazu, o dazu verleihe mir die Kraft Deines heiligen
Geiſtes, ohne welche ich nichts vermag. Daß ich Deinen durch
Jeſum Chriſtum mir geoffenbarten Willen immer genauer er—
kenne, immer fleißiger übe, daß ich mit Recht Dein Kind heißen
dürfe — dies ſei nun mein Streben das ganze Jahr hindurch,
und heute geſchehe der Anfang meiner Beſſerung vom größten
wie vom kleinſten Fehler. Amen. Verleihe mir Deine Gnade!
Amen.
2.
Der göttliche Name.
2. Moſ. 20, 7.
Bewahre meinen Mund,
So oft er, Gott, Dich nennet,
Dich, den mein ew'ger Geiſt
Anbetet und erkennet; a
Daß nie, Erhab'ner, ich
Durch Leichtſinn ihn entweih',
Mir nie ein Spiel und Spott
Dein großer Name ſei.
Stets heilig bleib' er mir;
Und muß mein Ohr es hören,
Daß Andre ihren Gott,
Und was er thut, entehren:
So reiße nie der Strom
Der Spötter mich dahin.
Die Schuld wird mein, wenn ich
Ihr Mitgenoſſe bin!
Kommet, laſſet uns anbeten und knieen und niederfallen vor
dem Herrn, der uns gemacht hat, denn er iſt unſer Gott. (Pf.
95, 6.)
Wer iſt größer, herrlicher, wunderbarer und gnädiger, als
der Ewige, vor dem die Mächte der Erde verſchwinden, wie ein
— 12 —
Nichts, und die Pracht der Sterblichen Staub iſt? Kann der
Gewaltigſte hienieden einen Grashalm bauen, oder einen Regen⸗
tropfen vom Gewölk des Himmels ziehen? Kann der Furcht⸗
barſte auf Erden ſeinem Leben einen Augenblick zulegen, wenn
das Maß ſeiner Schulden voll iſt?
Warum rühmen ſich die Thoren ihrer Größe, von denen man
nach wenigen Jahren nichts mehr weiß? — Warum dünfen ſie
ſich allgewaltig, weil ſie Ihresgleichen, Menſchen aus Staub ge⸗
ſchaffen, unterdrücken können? Fielen nicht die Gewaltigſten unter
den Streichen ihrer Feinde, oder mit dem ärmſten Bewohner der
Erde ins gleiche Grab? — Nur Einer iſt groß und allgewaltig
und mächtig, und ſein Name iſt Gott!
Warum erſtaunet ihr über die Kunſt des menſchlichen Gei⸗
ſtes? Was ſind ſeine Werke, auch die köſtlichſten? Er hängt
Staub mit Staub zuſammen, um ſich Hütten zu bauen, Gewaͤn⸗
der zu weben, oder von den Werken der Natur, dem äußern
Scheine nach, Ebenbilder zu machen. Bauet nicht auch der thie⸗
riſche Geiſt ſinnreich ſeine Wohnungen, wie der Menſch, und oft
zweckmäßiger, als er? Biene und Ameiſe müſſen wir auch be=
wundern, und wie die Vögel des Himmels ihre Neſter wählen
und aufrichten, oder ihre Reiſen machen von Welttheil zu Welttheil.
Nein, nur Einer iſt unendlich weiſe, unbegreiflich wunderbar
in ſeinen Werken; er fügt nicht Staub zu Staube, wie das Thier
oder der künſtliche Menſch, ſondern er durchdringt den Staub
mit verborgenen Kräften und Seelen, daß Alles lebt: und dieſer
Wunderbare iſt Gott!
Was preiſet ihr, das nicht ſein Werk wäre? Was liebet ihr,
das Er nicht gebildet? Was entzückt euch hienieden, welches
nicht eine Wundergabe ſeiner Huld wäre? Was fürchtet ihr,
das nicht feinem Scepter unterthänig wäre? Was hoffet ihr,
daß nicht Er allein verleihen könnte?
Je länger wir Gott in feinen unermeßlichen Schöpfungen
betrachten, oder im Wechſel des Lichts und in der Finſterniß
unſerer Schickſale: je tiefere Ehrfurcht empfindet unſer ganzes
Weſen vor dem Großen, dem Unnennbar-Erhabenen, dem Hei—
ligen. Wir rufen betend und anbetend wie Paulus: „O, meld’
a
eine Tiefe des Reichthums, beides, der Weisheit und Erkenntniß
Gottes! Wie gar unbegreiflich find feine Gerichte und uner⸗
forſchlich ſeine Wege! Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt?
Oder wer iſt ſein Rathgeber geweſen? Oder wer hat ihm etwas
zuvor gegeben, das ihm werde wieder vergolten? Denn von
ihm, und durch ihn, und in ihm ſind alle Dinge! Ihm ſei
Ehre in Ewigkeit!“ (Röm. 11, 33 — 36.)
Dem wahrhaft erleuchteten Weiſen, das heißt, dem von der
Größe Gottes tief durchdrungenen Chriſten, iſt daher kein heili⸗
gerer Name, als der Name der Gottheit. Und wenn ſein Herz
das gedankenreiche, erhabene Gebet Jeſu nachbetet, ſpricht er keine
Stelle mit größerer Ehrfurcht aus, als jene Worte: „Dein
Name werde geheiligt!“ Ihn durchſchauert der Gedanke an
das Höchſte im ganzen Weltreich.
Alle Völker, fo verſchieden auch ihre Religionen fein mögen,
empfinden dieſe Ehrfurcht vor dem erhabenen Weſen. Manche
wagen ſeinen heiligen Namen kaum auszuſprechen. Andere
ſprechen ihn nicht aus, ohne durch Entblößung ihres Hauptes
oder das Beugen des Knies, oder durch einen Blick, der ſich
demuthsvoll zur Erde ſenkt, oder ſich andachtsvoll zum Himmel,
wie zum Throne des Weltregenten, emporhebt, ſchon äußerlich
zu bezeugen, was ihr Inneres bei dem Gedanken an die Majeſtaͤt
des Allerhöchiten empfindet.
Wie aber iſt es in den Gemeinden der Chriſten, welche durch
die Offenbarungen Jeſu erleuchtet worden find? Sind die Chri⸗
"sten nicht noch von größerer Hochachtung Gottes durchdrungen?
Sind ſie nicht für alle Völker des Erdbodens ein Muſter der an⸗
betenden Ehrfurcht bei der Erinnerung an ihren Schöpfer? Iſt
ihr ganzes Weſen nicht voller Ernſt, Würde und Liebe und Ver⸗
ehrung, wenn ſie den heiligen Namen nennen?
Ach nein, ſie nennen ihn, ohne an ihn zu denken, und ſprechen
ihn aus, wie ſie das Nichtswürdigſte ſprechen. Kinder rufen ihn
aus auf den Gaſſen, wie zum Spiel; und Erwachſene ſchwören
und fluchen bei ihm, als müſſe er ein Gehilfe ihrer Frechheit ſein.
Ja, die gleichen Menſchen, welche vor dem Namen ohnmächtiger
Weſen, Fürſten geheißen, erzittern, treiben ihren Spott mit dem
”
1
Namen des Beherrſchers vom Weltall! Die gleichen Menſchen,
welche aus Demuth vor ihren obrigkeitlichen Perſonen kriechen,
wenn ſie mit ihnen reden, plaudern ihre Anreden und Gebete zu
Gott lachend, mit unanſtändiger Zerſtreuung, ohne ein Zeichen
von Ehrerbietung her, als wäre im Himmel und auf Erden kein
Gott, und das Gebet zu ihm nur ein ſinnloſes Poſſenſpiel!
Woher dieſe Verachtung und Geringſchätzung des Heiligſten,
was die Welt hat? Woher dieſe Entweihung und Läſterung des
großen Namens, vor dem alle Welten ehrfurchtsvoll beben —
und, was das Unglücklichſte iſt, unter denen, die ſich Nachfolger,
Bekenner, Jünger, Geweihte des göttlichen Sohnes, des Himmels⸗
offenbarers, des allgemeinen Heilandes Jeſu Chriſti nennen?
Groß muß die Unwiſſenheit derer ſein, die ſich ſo ganz
vergeſſen, daß ihnen unter allen Gegenftänden und Namen der
göttliche einer der gleichgültigſten iſt! Ach, wie fehr muß es den
Menſchenfreund ſchmerzen, wenn er unter den Chriſten Menſchen
findet, die in ihren Vorſtellungen von der Größe und Majeſtät
Gottes noch niedriger ſtehen, als die blinden Heiden!
Wohl ſind noch viele Chriſten, ungeachtet ihres Namens,
ihrer Taufe, ihres Abendmahls, roher und unwiſſender, als die
Heiden, und um nichts beſſer, als dieſe. Sie haben einen Gott,
aber keine Scheu vor ihm.
Dies iſt eine Folge der großen Gemüthsverwilderung, in
welcher man das Volk läßt, indem man lieber auf kriegeriſchen
Glanz, auf Schaufpiele, Feſte und ſchimmernde Thorheiten Sum⸗
men über Summen verwendet, als die Schulen des gemeinen
Volks in Städten und Dörfern veredelt. Dies iſt eine Folge der
Nachlaͤſſigkeit, mit welcher ſelbſt chriſtliche Diener des Altars ihr
wichtiges Amt verwalten, denen genug gethan iſt, wenn nur der
große Haufe ihren Perſonen Ehre bezeugt; wenn nur der große
Haufe die von der Kirche vorgeſchriebenen Pflichten erfüllt, die
Tempel beſucht, lange Gebete ſinnlos herſchwatzt, und die Sa—
kramente beobachtet. Es iſt die Folge der unverantwortlichen
Nachläſſigkeit der Seelſorger, die oft unvorbereitet die heiligen
Lehrſtätten betreten, immer und immer zum Glauben an Gott
ermahnen, ohne von der Majeſtät Gottes würdige Vorſtellungen
re
erwecken zu können; immer und immer an das Verdienſt Jeſu,
oder an die Fürſprache der Heiligen erinnern, ohne die Pflichten
deutlich zu entwickeln, wie man ſich durch gottgefälligen Wandel
und durch ein Leben in Jeſu Geiſt und That der ewigen Gnade
nicht unwürdig machen müſſe.
Die Un wiſſenheit des Volkes in göttlichen Dingen und
Pflichten erzeugt jene verachtungswürdige Rohheit, von der wir
alltäglich Zeuge ſein können; — jene Rohheit, die vor der Ruthe
bebt, welche ſie ſieht, aber des Unſichtbaren ſpottet; mehr auf den
Augenblick ſieht, der da iſt, als an die Ewigkeit denkt, die noch
kommen ſoll; mehr aus Furcht vor der Hölle, als aus Liebe zum
Himmel Verbrechen unterläßt.
Aehnlich dieſer Verwilderung des Gemüths, die aus Un⸗
wiſſenheit entſteht, iſt jene Rohheit unſittlicher Menſchen aus
höhern Ständen, welche in aller Kunſt und Wiſſenſchaft des
Lebens Unterricht empfingen, aber nicht in dem, was eigentlich
das Göttliche in ihnen angeht, und die Veredelung ihres Geiſtes
für das ewige Sein. Sie dünken ſich weiſer und größer, die
ſchwachen Thoren, als andere Menſchen, wenn fie deren Religion
verhöhnen. Sie meiden das Böſe nur um der Schande willen;
fie thun das Gute nur des Vortheils wegen; fie halten die Re⸗
ligion nur für ein abergläubiges Mährchen, den Pöbel damit zu
ſchrecken; fie halten die Tugend nur für etwas Anftändiges, das
vor den Augen der Welt beobachtet werden muß, aber in der
Stille ohne Schaden beſeitigt werden kann. Sie ſind gebildete,
künſtlich erzogene Halbthiere, die unter ſich nur eine Erde, über
ſich keinen Himmel erblicken.
3 Nicht immer iſt es Rohheit, Unwiſſenheit und alberner Aber-
glauben, der zur Entweihung des Göttlichen verleitet. Noch weit
ölter iſt es bloß der tadelnswürdigſte Leichtſinn, welcher der Gott⸗
heit die ſchuldige Ehrerbietung verweigert; — Nachahmungs-
ſucht, welche im Schwören und Fluchen und im Mißbrauch der
heiligſten Namen etwas Großes zu thun vermeint; — Selbſt⸗
dünkel, welcher ſich auszuzeichnen gedenkt, wenn er im Tempel
oder beim häuslichen Gebete die größte Unachtſamkeit zur Schau
trägt; — Gewohnheits verdorbenheit, welche bei dem, was
a
fie täglich thut, nur die Lippen walten läßt, und mit den Ge⸗
danken umherflattert.
Alles dieſes wirkt zur Verminderung der Ehrfurcht vor Gott,
der Ehrfurcht vor Jeſu Chriſto, und zum täglichen Mißbrauch
heiliger Namen, die nie ohne ein heiliges Gefühl der Andacht
und Dankbarkeit geſprochen werden ſollten.
Oft iſt das beſtändige Ausrufen des Namens Gottes oder
Jeſu auch bei den unbedeutendſten Anläſſen nur Beweis von
einer gewiſſen Armuth an Gedanken, wo etwas geſprochen wer⸗
den ſoll, ohne daß man gleich etwas Schicklicheres weiß. Dies
wird vielen Menſchen, ohne daß ſie dabei etwas Arges wollen,
ohne daß ſie damit Unrecht zu thun glauben, ſo zur Uebung, daß
ſie ſich von dieſer ſchändlichen und für die Religioſiät ſo nach⸗
theiligen Gewohnheit nicht wieder befreien können, ohne die an⸗
geſtrengteſte Aufmerkſamkeit auf ihre Reden zu haben.
Eben ſo iſt der Mißbrauch des göttlichen Namens beim Fluchen
und Schwören oft mehr eine gedankenloſe Gewohnheit, eine Folge
ſchlechtgenoſſener Erziehung, als das Zeichen eines grundver—
dorbenen Herzens. Das Fluchen und Schwören iſt überhaupt
ſchon der untrüglichſte Beweis von aller Abweſenheit des Ge—
fühls für das, was anſtändig, edel und recht iſt; ja noch mehr,
es iſt ein Beweis, daß der Menſch, welcher ſeine Ausſagen mit
ſo übermäßigen, oft wahrhaft gottesläſterlichen Betheurungen
verſtärkt, von jeher viel Unwahrheit geredet haben und keinen
Glauben verdienen müſſe. Denn von wem wir gewohnt ſind,
Wahrheit zu hören, dem glauben wir, auch wenn er feine Aus⸗
ſagen nicht jedesmal mit Fluch und Eid bekräftigt. Wer aber im
Rufe des Lügners ſteht, welchem nicht allezeit zu trauen ſei, dem
ſchenken wir auch kein Vertrauen, und wenn er die ſchaudervoll—
ſten Flüche mit gelaͤufiger Zunge herſagt, oder die Gottheit zum
Zeugen nimmt, da uns ſeine gedankenloſen Uebereilungen be—
kannt ſind.
Die Rede des Chriſten, ſeine Verſicherung, mit der er etwas
beſtätigt oder läugnet, ſei die Rede jedes wahrhaften und von der
Rechtlichkeit ſeines Wortes überzeugten Mannes, ein einfaches
Ja, Nein! Alles, was darüber iſt, jeder Zuſatz von Fluch oder
1
Schwur, macht fein Wort und ſeine Redlichkeit nur verdächtig,
und iſt, wie ſchon Jeſus ſagt, vom Uebel. (Matth. 5, 37.)
Ich ſage euch, ſprach Chriſtus, ihr ſollet allerdings nicht
ſchwören, weder bei dem Himmel, denn er iſt Gottes Stuhl, noch
bei der Erde, denn fie iſt feiner Füße Schemel. (Matth. 5, 34. 35.)
Der Mißbrauch göttlicher Namen im allgemeinen Leben iſt
allerdings tadelnswerth und ſträflich, ſelbſt wenn damit nicht
immer ein abſichtlich böſer Wille des Herzens verbunden märe.
Denn wenn Jemand weiß, daß das, was er thut, ſeiner und der
Gottheit unwürdig iſt, wenn er weiß, daß es ihn entehrt, daß es
ihm und ſeinem Gemüthe ſchadet, daß es, als Beiſpiel ſchlechter
Art, Andern nachtheilig wird, — wer dies weiß, und fährt den⸗
noch fort, mit ruchloſem Munde zu läſtern, mit Andachtloſigkeit
das Heiligſte anzurufen: iſt der nicht ein Sünder? Kann er ſeinen
Leichtſinn rechtfertigen, weil es Leichtſinn ſei? Dies hieße
eine Sünde damit entſchuldigen, daß ſie Sünde wäre.
Der unehrerbietige Gebrauch heiliger Namen iſt eine fträfliche
Liebloſigkeit gegen das allerheiligſte Weſen. Wer kann
es dulden, daß der Name deſſen entweiht werde, den er liebt?
Wo iſt ein gutes Kind, welches gleichgültig dabei bliebe, wenn
man den Namen ſeiner guten Aeltern mißbrauchte? Wo iſt ein
Liebender, dem es gleichgültig wäre, den Namen ſeiner Braut
oder Gattin bei allen, ſelbſt bei den unanſtändigſten Gelegenheiten
ausrufen zu hören? — Wie? und ſollten wir gelaſſen die aller⸗
heiligſten Namen beſudeln laſſen durch unwürdige Anwendung?
Wenn dich Jemand anredet, aber dir den Rücken wendet,
deine Gegenwart kaum bemerken will, ſich mit allen Nichts⸗
würdigkeiten lieber beſchaͤftigt, als mit dir, mit dem er ſich unter⸗
halten ſollte: würdeſt du nicht dadurch überzeugt werden müſſen,
dieſer Menſch verachte dich, ziehe dir das Schlechteſte vor, und
habe für dich nie einen Funken der Liebe und Hochſchaͤtzung in
ſeiner Bruſt genährt? — Wie? und wenn du Gottes des Aller⸗
höchſten Namen anrufeſt, ohne an ihn nur denken zu mögen;
wenn du zu ihm beteſt, ohne von ihm zu wiſſen; wenn du ihm
dankeſt mit dem Mund, ohne dich im Herzen mit ihm zu be⸗
en
ſchaͤftigen — find dies geringere Beweiſe der größten Liebloſigkeit
gegen deinen Schöpfer, deinen unaufhörlichen Wohlthäter?
Der unehrerbietige Gebrauch heiliger Namen entehrt das
Herz des Menſchen und ſeinen Verſtand — nicht Gott!
Nicht Gott entehrſt du, Läfterer, der in ſinnloſen Flüchen,
Schwüren und Ausrufungen das Schändlichſte mit dem Heilig⸗
ſten gemein macht, ſondern dich ſelbſt. Du bekenneſt der Welt
mit ſchamloſer Zunge die beklagenswürdige Verwilderung deines
Gemüths, die Haͤßlichkeit deines Leichtſinns, der auch über das
Ehrwürdigſte mit frecher Unbeſonnenheit hinwegtändelt; die Un⸗
zuverläſſigkeit deines Ja- und Neinworts, da du jeden Augen⸗
blick Alles zu Zeugen und Bürgen für dich aufforderſt, was das
Weltall Großes und Heiliges hat; die Beſchränktheit deines Ver⸗
ſtandes, der nicht erkennt, was er thut, und von der Große und
Majeſtät der Gottheit die elendeſten Vorſtellungen haben muß! —
Dich ſelbſt, nicht Gott, entehrſt du; deine eigene Würde, nicht
die göttliche, entweihſt du, o Staub, vom Staube gekommen,
wie möchte dein Wahnwitz, und wäre er der größte, das Unend⸗
liche und Allherrliche entweihen? Wie kann das Auffliegen eines
Sonnenſtäubchens das große Tagesgeſtirn verdunkeln, welches
feine blendenden Strahlen durch die ungemeſſenen Raͤume des
Himmels ausgießet, um große Welten zu erwärmen und zu be—
glaͤnzen? .
Der unehrerbietige Gebrauch heiliger Namen wirkt ſchadlich
zurück auf den Sinn des Menſchen für Tugend und
auf ſein religibſes Gefühl. Denn wer ſich in ſolcher ange—
ſtammten oder angenommenen, wirklichen oder erfünftelten Roh⸗
heit gefaͤllt: wie kann der auf die feinere Bildung ſeines Ge⸗
müthes zu allem Edeln, Großen und Schönen recht aufmerkſam
fein? Wie wäre es auch nur möglich, daß er einen aufgeſchloſ—
ſenen Sinn dafür hätte? Wie kann der in einer Stunde mit
wahrer Inbrunſt zum Vater im Himmel beten, welchen er eine
Stunde vorher ohne alles Gefühl in den unanſtaͤndigſten Ges
legenheiten nannte?
Der Chriſt, dem fein geiſtiges Gedeihen hoher Ernſt iſt, und
daß er in den Augen Gottes angenehm erſcheine, kann nur damit
— 11 —
den Anfang machen, daß er alles Anftößige von ſich entfernt,
und ſein Gefühl für Tugend, ſeine herzliche Liebe zur Gottheit
in allen Handlungen hervorleuchten laßt. Aber Rohheit des Ge⸗
müths, welches ſich durch freche Reden äußert, erſchwert die
Läuterung des Herzens und die Selbſtverklärung des Geiſtes.
Vielmehr wird durch jene Rohheit das Gute oft ſchüchtern zurück⸗
geſchreckt, der Wüſtling und ſchlechtere Geſellſchaften herangelockt.
So erfolgt gegenſeitige Ermunterung zum Böſen, zum Unan⸗
ſtändigen, zum Befriedigen niederer Leidenſchaften, die des Kör-
pers Geſundheit und den Frieden der Seele zerrütten.
Der unehrerbietige Gebrauch heiliger Namen verdirbt Herz
und Sitten der unſchuldigen Jugend. Hier wird das,
was oft nur Thorheit, nur verachtungswürdige Gewohnheit war,
zum Verbrechen durch die ſchädliche Gewalt des Beiſpiels. Ihr,
die ihr den Namen eures Gottes mißbrauchet, wie hoffet ihr,
Kindern Ehrfurcht vor dem Allerheiligſten einflößen zu koͤnnen?
Ihr Aeltern, die ihr gedankenloſe, lange Gebete herplappern laſſet,
ſei es am Morgen, oder am Abend, oder beim Tiſche, den die
Wohlthaten des gütigen Gebers ſchmücken: wie fönnet ihr hoffen,
daß eure Kinder ſich innig und mit ſeligem Vertrauen mit dem
ewigen Vater unterhalten lernen? Aeltern, Erwachſene, ihr ſeid
es, die ihr durch euer Beiſpiel die Gottesliebe und Gottſeligkeit
in den Herzen der Kinder ausrottet! Ihr ſeid es, welche bei ihnen
die Religion nur zur Sache des Gedächtnifjes oder der alten, ein⸗
geführten Gewohnheiten machet — das heißt, die Religion töd⸗
ten! Ihr ſeid es, die ihr den Unſchuldigen ein Aergerniß gebet,
von denen Jeſus jagt: Wehe denen, durch welche Aerger—
niß kommt!
Mancher hat vielleicht niemals die finſtern Folgen ſeines
Leichtſinns ernſt berechnet, mit dem er oft den Namen ſeines
Gottes mißbrauchte; Mancher hat vielleicht nie das Schmachvolle
und Strafbare dieſes Mißbrauchs recht erkannt; o, er denke über
ſich ſelbſt nach, und über die Uebel, welche er unwiſſend ſtiftete,
und — wenn ſein Herz noch nicht dem Guten ganz fremd gewor—
den — er zittere und bereue ſeine Sünde!
Nur zwei wirkſame Mittel gibt es, die zur Gewohnheit ge-
E Bi
wordene Untugend wieder von ſich zu ſtoßen. Das erſte ift, eine
anhaltende, ſtrenge Aufmerkſamkeit auf jedes unſerer Worte, und
daß wir uns auch nicht den gelindeſten Ausdruck erlauben, der
gegen die Ehrfurcht verfehlt, die wir dem Schöpfer unſerer Tage
und dem Erlöſer unſerer Seele ſchuldig find. Das zweite iſt:
ein anhaltendes Beſtreben, Gottes Größe, Macht und Erbar-
men immer heller und beſſer kennen zu lernen.
Denn, Vater im Himmel, Liebevoller, Gnädiger, wer Dich
recht erkannt hat, wie kann der mit Gleichgültigkeit zu Dir empor⸗
blicken, mit Unachtſamkeit zu Dir beten? Wer Deine Größe und
Wundermacht in den Werken der Natur bemerkt, oder in den
Verhängniſſen feines Lebenslaufes erfahren hat: wie kann der
Deinen heiligen Namen, gleich einer nichtswürdigen Sache, ge⸗
mein machen und mißbrauchen?
O Du Erbarmer, in deſſen Namen ſich alle Knie beugen
ſollen; vor dem alle Engel anbetend verſinken, alle Welten ehr⸗
furchtvoll erzittern: nie will ich mich entweihen durch Mangel
der Ehrfurcht, die meine arme Seele Dir ſchuldig iſt. Selbſt in
den äußerlichen Zeichen der Ehrerbietung will ich ſtrenge fein,
denn ſie verkünden ja das Innere meiner Empfindungen andern
Menſchen, werden Andern ein Beiſpiel, und verdoppeln meine
eigene Andacht wieder.
Ja, Vater im Himmel, Dein Name werde geheiligt!
8.
1e Vor ſe hung.
Pfalm 37, 5.
Mein Glaube lebt, Gott kann mich nie verlaſen;
Wenn auch der Hoffnung letzter Anker bricht,
Und wenn die ſchönſten Freuden mir erblaſſen:
Verzage nicht!
Und geh' ich oft ſchon über düſt're Pfade,
Und ſtrahlt in meiner Lebensnacht kein Licht,
Mich führt die Hand der Vorſehung und Gnade:
Verzage nicht!
Es kann Augenblicke und Stunden, es kann Schmerzenswochen
geben, die unſern ganzen Muth beugen, die alle unſere Hoffnungen
auslöſchen. — Es können ſich in manchen Zeiten Schickſale und
Unglücksfälle von allen Seiten wider uns vereinigen, die uns
irre machen in unſern heiligſten Ueberzeugungen, und ſelbſt den
Glauben unſerer Seele an die ewige Vorſehung erſchüttern.
Wir ſehen oft mit Entſetzen den Triumph der Bosheit, und
das Recht unterliegen; wir ſehen den rechtſchaffenen Chriſten, der
feine Pflichten treu erfüllt, der mit Beſcheidenheit in der Stille
viel Gutes ſtiftet, wir ſehen ihn verkannt, verhöhnt, verleumdet,
verfolgt, während irgend ein ſelbſtſüchtiger, ſchlauer oder gewal⸗
tiger Böſewicht in allen ſeinen Unternehmungen mit Glück be⸗
günſtigt wird; — wir fragen uns ſelbſt mit Zweifel: Wie? wacht
über den Sternen nicht das Auge der Vorſehung?
Ach, wie manche fromme, ſtille, einſt glückliche Familie iſt
das Opfer des Krieges geworden! — Was hatte ſie verbrochen,
daß ihre Wohnung, dieſe Heimath aller häuslichen Tugenden,
ein Raub der Flammen werden mußte? — Der gebeugte Vater,
was hat er denn verſchuldet, daß ſein ganzer Wohlſtand ihm in
wenigen Stunden entriſſen werden mußte, woran er ſo unver⸗
droſſen, ſo mühſam ſein ganzes Leben gearbeitet hatte? Jene
Nächte voller Sorgen, jene Tage voller Mühe, jene tauſend
Schweißtropfen, die er für das Wohl der Seinigen vergoß, der
Kummer und die Hoffnung eines langen Lebens — das Alles
=
war umſonſt? Was hat denn der arme Säugling geſündigt, der
die einzige Freude und Liebe ſeiner Aeltern war, daß die Raub⸗
ſucht kriegeriſcher Schaaren ihn und die Seinigen in den Jammer⸗
ſtand der tiefſten Armuth hinſchleuderte; daß er künftig ſein Leben
hindurch mit Dürftigkeit ringen muß, und vielleicht künftig, wenn
ihm endlich ſeine Aeltern fehlen, wie ein Verſtoßener von Hütte
zu Hütte gehen ſoll, um fremden Beiſtand anzuflehen? — —
Wir ſchaudern, wir ſehen die beklagenswürdigſten Opfer, und
fragen: Spielt der blinde, grauſame Zufall mit den Menſchen⸗
kindern, oder wacht eine höhere Vorſicht über uns?
An des kranken Kindes Sterbebette kniet eine troſtloſe Mutter.
Der Liebling, den ſie mit Schmerzen gebar, und mit zarter Sorg⸗
falt erzog, — er liegt, einer welkenden Blume, gleich, vor ihr,
und ihre beſten Freuden in der Welt verwelken mit ihm. Sie
hebt die weinenden Augen flehend zum Himmel, und ſenkt ſie
mit Sehnſucht wieder auf den duldenden Engel nieder. Sie küßt
ſein blaſſes Antlitz; zum letztenmal öffnet er die Augen und laͤchelt
mit ſüßer Unſchuld noch einmal die gute Mutter an; er ſtreckt
noch einmal die kleine Hand der mütterlichen Hand entgegen, wie
zu einem Abſchiede. Ach, er verläßt das treue Mutterherz ſo
ungern! — Aber Liebe wird von Liebe, und Herz von Herz ges
riſſen. Ohnmächtig ſinkt die Mutter über den entſeelten Leichnam
ihres Lieblings hin. — Alſo waren alle ihre Schmerzen, alle
ihre Sorgen vergebens? alle ihre tauſend Hoffnungen vergebens
gehofft, ihre tauſend Thränen vergebens geweint? — Umſonſt
waren die innigen, heißen Gebete der Einſamkeit, die ſie für
ihres Kindes Geneſung zum Himmel betete? Hienieden alſo un⸗
fäglicher Gram, und von oben keine Erhörung? — Düſter ſtarrt
fie in die Nacht des Lebens hinaus, als ſuchte ſie Hilfe, Erloſung
und Gott. Und ihr Seufzer aus der beklemmten, zitternden
Bruſt ſcheint den Himmel zu fragen: Iſt eine Vorſehung, warum
verläßt ſie mich?
Wenn die Fluthen der aufſchwellenden Ströme zahllofe Fa—
milien mit ihren Wohnungen hinwegreißen, und in den Tiefen
der Gewäſſer begraben; wenn Erdbeben ganze Städte mit ihren
Einwohnern, mit Gerechten und Sündern verſchütten; wenn,
1
wie vor wenigen Jahren in einem benachbarten Lande, Berghöhen
niederſtürzen, und ein ganzes Thal voll froher und glücklicher
Hirten, Männer, Weiber, Säuglinge, Greiſe, Fremdlinge und
Einheimiſche, in einem Augenblicke vernichten, unter ungeheuerm
Schutt begraben, daß keine Spur von Allem mehr geſehen werden
mag: — wer kann unerſchrocken bleiben? Wer wirft nicht einen
fragenden Blick auf die dunkeln Verhältniſſe der ewigen Vorſicht?
Ja, es kann Augenblicke und Stunden, es kann Schmerzens⸗
wochen geben, die unſern ganzen Muth beugen. Es können in
unſerm ganzen Lebenslauf unglückliche Ereigniſſe zuſammen⸗
treffen, die ſelbſt den Glauben und das Vertrauen des Chriſten
erſchüttern, mit dem er an der göttlichen Vorſehung hängt. —
Es ſind oft Zeiten, in denen ſich Alles in dem Leben gegen uns
und unſer Glück verſchworen zu haben ſcheint; wo wir auf nichts
mehr mit Zuverläſſigkeit rechnen können; wo unerwartete Be⸗
gebenheiten zuſammentreffen, die uns jede Stütze rauben. Es
kömmt uns in ſolchen ſchwarzen Stunden vor, als wären wir
einſam in der Welt, als lebe kein Gott für uns, als ſeien wir
mit unſerm Wohl und Weh einem blinden Ohngefaͤhr preisge⸗
geben, welches Dieſen emporhebt und Jenen ohne Abſicht ftürzt.
Unſer Glaube an eine Alles leitende, weiſe ordnende Vorſehung
erſcheint uns nur als bloßes Täuſchungsmittel des Verſtan⸗
des, wie ein ſelbſterfundenes Beruhigungsmittel gegen unſere
Schmerzen.
Aber prüfen wir uns nur ſelbſt mit rechter Beſonnenheit, —
wir werden bald erkennen, daß nicht die Vorſicht zu wachen und
zu handeln aufgehört habe, daß nicht die Gottheit aus der Welt
entflohen ſei; ſondern erkennen werden wir die Urſachen, woher
eigentlich der Mangel unſers Vertrauens auf die Vorſehung, die
Schwäche unſers wankenden Glaubens entſtanden ſei.
Gewöhnlich — und wer wird es doch läugnen können? —
denken die meiſten Menſchen erſt in der Mitte des Un⸗
glücks an die helfende Vorſehung. So lange ſie in ruhigen,
glücklichen Umſtänden zufrieden lebten, fiel es ihnen felten, oft
nie ein, recht lebhaft über die Anordnungen Gottes in den Schick⸗
ſalen derer, die er in's Leben rief, nachzudenken. So ſieht
=
der Kranke erſt auf dem Lager der Schmerzen auf das Glück
feiner gefunden Tage zurück. So lange er geſund war, verachtete
er den Gedanken an Krankheit, und lebte ohne Enthaltſamkeit
ſeinen Vergnügungen, bis ſie ihm Gift wurden. — Erſt wenn
die Noth von allen Seiten gegen den verſinkenden Menſchen an⸗
dringt, ſchlägt er den Blick zum Himmel auf, und fragt unter
ſeinen Leiden: Wacht auch die Vorſehung für mich? — Aber
eben in dieſer bedrückenden Lage, in dieſer bangen Gemüthsver⸗
faſſung iſt er am allerwenigſten geſtimmt, ſich von den weiſen
und fortdauernden Führungen der göttlichen Vorſehung recht leb⸗
haft zu überzeugen. Sein Herz iſt von andern Dingen zu ſehr
überwältigt, um ſich ruhigen und anhaltenden Nachforſchungen
überlaſſen zu können. Er denkt nur an das, was er fürchtet, er
fühlt nur, was ihn quält; und weil ſein beſtürmtes Gemüth nicht
eine plötzliche Ueberzeugung von Gottes weiſer Regierung gewin⸗
nen kann, weil es ſich nicht ſogleich alle Umſtände gegenwärtig
machen kann, die von der höhern Weisheit göttlicher Rathſchlüſſe
ihn einſt belehren konnten, wird er irre und zweifelhaft. Er ſieht
nur den nahen drückenden Augenblick; nicht Zuſammenhang und
Plan des ganzen Lebens. Er reißt die einzelne Begebenheit, wo⸗
durch es getrübt wird, aus der wunderbaren Kette von Millionen
anderer Ereigniſſe heraus. Und ſo iſt dann kein Wunder, wenn
dies ſchwache, im Betrachten göttlicher Weltregierungen ungeübte
Gemüth das Einzelne für ein Ganzes, die Nebenſache für eine
Hauptſache anſieht — wenn es ſich und Alles für ein Spiel des
blinden, todten Ohngefährs hält.
Hätten wir in ruhigen Tagen, wo unſere Seele zu Betrach-
tungen höherer Art fähiger war, der dunkeln Hand des ewigen
Weltregierers im Leben und im Schickſale der Menſchen fleißiger
nachgeforſcht: ſo würden wir unſerm Gemüthe eine Uebung, eine
Kraft erworben haben, die das größte Unglück nicht hätte erſchüt⸗
tern können. — Hätten wir in mancher einſamen Stunde über
die ſeltſamen, frohen und traurigen Begebenheiten unſers eigenen
Lebenslaufes öfters nachgedacht, jo würden wir mit freudigem
Erſtaunen mehr als einmal bei uns ausgerufen haben: Siehe,
das war die Hand Gottes! — Wir würden geſehen haben, wie
1
Manches, das uns ein unheilbares Unglück ſchien, die ſegenvollſten
Früchte für unſer ganzes Leben, oder für das Heil der Unſrigen
brachte. Wir würden erkannt haben, daß, wenn dieſer oder jener
von unſern heißeſten Wünſchen erfüllt worden wäre, wir auf
unſer gegenwärtiges Glück, auf unfere gegenwärtige Lage Ver⸗
zicht thun müßten. Wir würden nicht läugnen können, daß
Manches, wofür wir einſt vergebens arbeiteten, rangen, beteten
und weinteu, endlich bei dem Gange der Dinge unſer und An-
derer Unglück geworden wäre. Wir würden eingeſtehen, daß
mancher ſchreckliche Zufall, der uns in unſerm Leben einſt hart
angriff, von den herrlichſten Wirkungen auf unſer Herz, auf
unſere Denkart ward, und daß wir nun dieſer beſſern, weiſern
Denkart der ruhigen goldenen Lebensſtunden viele zu danken haben.
Ein in ſolchen Betrachtungen der weiſen Führung des Men-
ſchengeſchlechts durch Gottes Hand geübter Chriſt wird wahrlich
durch keinen Unfall im Leben an feinem Gott und deſſen allwal⸗
tender Vorſehung irre werden. Für ihn iſt kein Ohngefähr, ſon⸗
dern feſte, zur Ueberzeugung gewordene Harmonie im Weltall.
Er wird in der Tiefe der Noth zu Gott ſchreien, und eingedenk,
wie oft der kurzſichtige Menſch ſich in ſeinen eifrigſten Wünſchen
betrügen kann, zu ſeinen Gebeten allein hinzuſetzen: Aber, Herr,
nicht mein Wille geſchehe, ſondern der Deinige! Er wird
ſich mit einer Zuverſicht, die das verwundete Herz erquickt, auf
Gottes weiſen Rath verlaſſen, wie ein Kind, das, ohne einzuſehen
warum, von ſeinem Vater ſcheinbar hart behandelt wird.
Eine andere Quelle menſchlicher Zweifel an der ewigen Vor⸗
ſehung liegt in der ſtolzen oder leichtſinnigen Anmaßung un-
ſeres Veſtandes, über das Weltganze zu urtheilen, in—
dem wir über ein einzelnes Schickſal nachdenken und träumen. — —
Thöbrichter Sterblicher, du willſt über deinen Lebenslauf ſprechen
und richten, wie es hätte beſſer ſein können, und kannſt nur nicht
ſagen, welchen Inhalt deine nächſte Stunde hat! — Du willſt
„ 8
das Daſein einer Alles ordnenden Vorſehung in Zweifel ſetzen,
weil du es nicht einſiehſt, welchen Nutzen dieſes oder jenes Un⸗
glück, worin Städte oder Länder verderben, bringen könne. Aber
du kennſt vom Weltall nur ein Staubkorn, von der Ewigkeit nur
II, 2
a
einen Augenblick, und was du Unglück nennſt, ift es in Deinen
Augen; aber weißt du, ob es das Unglück derer war, die den
Unfall litten?
Du bezweifelſt Gottes dworſehüng weil dein beſchränkter
Geiſt ſie nicht faßt und begreift. Wer Gottes Weltordnung be⸗
urtheilen will, muß Gott ſein!
Wir tadeln oft, was uns ſchrecklich zu ſein ſcheint, und da⸗
von wir keine heilſame Folgen weder für uns noch für die Welt
abſehen können, und Ereigniſſe, die nicht von Menſchen herbei⸗
gerufen oder verhindert werden konnten.
Aber nicht Alles, was unſerer Einbildungskraft grauſenvoll
erſcheint, iſt denen ſo ſchrecklich, die das Schickſal trugen. Wenn
ein Erdbeben blühende Städte mit tauſend glücklichen Geſchlech⸗
tern verſchlingt — wenn ein herabſtürzender Berg die Bewohner
eines ganzen Ländleins zermalmt: welches war denn das größte
Unglück bei dieſem entſetzlichen Ereigniſſe? — Der Tod aller
dieſer Einzelnen, ihr ſchnelles Verſchwinden aus dem Reiche der
Lebenden. — — Wie, der Tod? Iſt er ein ſo furchtbares Un⸗
glück? Iſt nicht unſer Aller letztes Ziel jene Minute, die uns
verwandelt? Sterben nicht nach den wahrſcheinlichſten Berech⸗
nungen von der ungeheuern Zahl der Lebendigen auf Erden in
einem einzigen Tage, aber zerſtreut und einzeln in allen Welt⸗
theilen, immer hundert und tauſend hin, während hundert und
tauſend wieder geboren werden? Iſt es ein großes Unglück für
uns, wenn wir im gleichen Augenblick mit allen denen, die un⸗
ſerer Seele lieb find, die Verwandlungszeit gemein haben? Stürbe
nicht gern der zaͤrtliche Gatte mit der entſchlummerten Gattin zu⸗
gleich? Stürbe nicht gern mit dem ſterbenden Kinde das blutende
Mutterherz zugleich? — Von welchem Unglück, Zweifler, redet
ihr nun? Daß Tauſende im gleichen Augenblick verſchwinden? —
Aber alltäglich verſchwinden Tauſende an Krankheiten und ans
dern Zufaͤllen von der Erde. — Oder daß Tauſende in einem
gleichen Traum vergingen? — Was hat ein Traum mit der
Größe eines ſogenannten Unglücks gemein? — Was Gott thut,
das iſt wohlgethan! O welch eine Tiefe des Reichthums, beides
der Weisheit und Erkenntniß Gottes! Wie gar unbegreiflich ſind
8
ſeine Gerichte und unerforſchlich ſeine Wege! Denn wer hat des
Herrn Sinn erkannt? oder wer iſt ſein Rathgeber geweſen? (Röm.
11, 33. 34.)
Ueberhaupt liegt darin ein vorzüglicher Grund des Verzagens
an göttlicher Vorſehung, daß wir zu ſehr an dem Sinnlichen
und Irdiſchen hangen, dem unſere Leibesbedürfniſſe gehören, und
nicht inniger verbunden find mit dem Gedanken an die Geiſter⸗
welt, zu der unſere Seele gehört. — Wer in der geiſtigen Welt
eben jo viel lebt, wie in ſeinen irdiſchen Geſchäften, für den iſt
der Tod kein ſo entſetzliches Uebel. Er weiß es, er lebt in Gott;
von ihm, in ihm und durch ihn ſind alle Dinge; in Gott aber
iſt kein Tod! Verluſt unſers Vermögens, unſers Wohl—
ftandes, iſt dies dem Chriſten, dem Weiſen endlich das größte
Uebel der Welt? — Nein, dem iſt er das größte Uebel, der nur
dieſen irdiſchen Gütern, und ausſchließlich nur ihnen gelebt hat.
Aber welcher Chriſt, welcher Weiſe wird wohl hauptſächlich für
das leben, was ihm doch nur geliehen iſt, was er doch nie be⸗
halten kann, was beſtändig wechſelt, und für das, was von einem
Todtenbette zum andern, von einem Erben zum andern über⸗
geht, ſo ſehr zittern? — Wer nicht in das, was Staub iſt,
ſein höchſtes Gut geſetzt hat, dem iſt der Verluſt deſſen, was
Staub iſt und bleibt, auch nicht das größte Uebel. Mancher muß
erſt verarmen, ehe er an ſein höheres Glück, an das Gluck, Menſch
zu ſein, Gott und hoͤhern Beſtimmungen zu gehören, denken kann.
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EFT S * *
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Oft iſt es auch nur eine augenblickliche Kleinmüthigkeit, die
uns im Vertrauen auf die ewig dauernde, Alles durchherrſchende
Vorſehung wankend macht. — Eingedenk unſerer Kleinheit, aber
uneingedenk der namenloſen Vollkommenheit Gottes, verzagt
Mancher und ſpricht bei ſich: Gott iſt allzuerhaben; wie kann er
ſich um meine geringen Angelegenheiten und Wünſche, oder um
das Wohl und Uebel eines jeden einzelnen unbedeutenden Ge⸗
ſchöpfes bekümmern!
Wie, und doch biſt du das Geſchöpf Gottes? — Und doch
iſt Gott das hoͤchſte Weſen, welches in unbegreiflicher Vollendung
das unendliche Weltall ordnet und erhält? — Wohin führt dich
Vein Kleinmuth? Du würdigeſt die Gottheit zu dem beſchränkten
Pe 10,0
Verſtande und zu der beſchraͤnkten Macht eines Sterblichen herab,
der nicht Alles überſehen kann. Du vergleichſt ihn mit dir, o
Wurm, und ſtellſt den Schöpfer in gleichen Werth mit dem Ge⸗
ſchöpfe. e e
Siehe, er, der die Geſtirne des Himmels, dieſe zahlloſen
Welten, täglich durch das unbegrenzte All des Daſeins führt,
und ihren Lauf ordnet; er, der auch das kleinſte Sandkorn an
unſern Erdball feſt bindet mit unſichtbaren Banden, daß es ſich
nicht von ihm verliere; der für die Welt kleiner Würmer ſorgt,
wie ihres Lebens froh auf einem Roſenblatte als Mehlthau wohnt —
er ſollte das große Reich todter Kräfte mit ſo unendlicher Weisheit
regieren, und der Geiſter zuweilen vergeſſen können, die, edler als
Alles, ihn loben, ihn nennen, ihn anbeten können? — Ver⸗
geſſen! Welch ein unwürdiger Begriff von dem Vollkommenſten!
Und iſt er dies, ſo iſt ſeine Allwiſſenheit und Allbarmherzigkeit
und Allweisheit und Alles umfaſſende Liebe eben ſo unendlich
vollkommen. — Ohne feinen Willen, ſpricht Jeſus, fällt kein
Sperling vom Dache, und die Haare meines Hauptes find ge⸗
zaͤhlt. So Gott das Gras auf dem Felde bekleidet, das noch
heute ſteht, und morgen in den Ofen geworfen wird, ſoll er das
nicht vielmehr an euch thun, o ihr Kleingläubigen? (Matth. 6, 30.)
O Du, Unergründlicher, Ewiger, Allbarmherziger, den ich
Vater nenne, der Du Alles erhältſt, Alles ordneſt, Alles leiteſt:
Du leiteſt auch meine Schickſale! — Nie haſt Du mich, nie wirſt
Du mich verlaſſen, auch wenn hienieden mich Alles verlaͤßt.
Ruhig und vertrauensvoll gehe ich die dunkeln Wege, welche
Deine unſichtbare Hand mich führt; denn ſie fuͤhrt mich zu Dir.
Anbeten und verehren will ich die wunderbaren Pfade Deiner
Vorſehung und die ewigen Geſetze, in welchen ſich die Geiſterwelt
bewegen muß, die Du erſchufſt — anbeten und verehren auch
das, was das dunkle Licht meines Verſtandes nicht erhellen kann!
Denn Alles, o Unendlicher, o Gnadenreicher — o mein Vater,
Alles kommt von Dir, Alles führt zu Dir!
ä re
4.
Gottes Walten.
Pfalm 46, 11.
Nur Gott herrſcht in dem Reich der Seelen;
Darf es der Menſch — der Staub — verhehlen?
Wer droben herrſcht, der herrſcht auch hier!
Nichts gilt vor Dir der Witz der Weiſen;
Es ſei des Frevlers Nacken Eiſen:
Dein Wort zermalmt ihn doch vor Dir.
Dann eilt er ſelbſt, ſich zu verdammen,
Eh' Dein Gericht, o Herr, erwacht!
Und will der Herr ein Land beglücken,
Und Völkern ſeinen Segen ſchicken:
Wer kann ihn daran hindern, wer?
Wie Spreu verfliegt der Feinde Heer.
Drum, Völker, hört des Herren Schalten,
- Ihr Königreiche, betet an! —
Er iſt der Herr, Er! Laßt ihn walten; —
Wie Er thut, ſo iſt's wohlgethan!
Seid ſtille, und erkennet, daß ich Gott bin! So ſpricht
die Stimme des Herrn aus den Weltſchickſalen. Was allſeitig
und ohne Ausnahme ſeit vielen Jahren die Volker und Fürſten
wünſchten, ward ſelten erfüllt. Immer ward es anders. Die
wenigſten begriffen es. Sie hielten es fir Menſchenwerk, was
Gottes Walten war. So verwandelte ſich Vieles. Aber die thoͤ⸗
richten Sterblichen wollten es nicht. Sie wähnten, es ſei kein
Heil, kein Segen, als im Alten. Sie wollten die alten Zeiten
mit Gewalt zurückrufen, und machten ſich elender, und das Neue
immer neuer. Was Gottes Arm einmal gebrochen hatte, ſollte
nicht wieder aufgebaut werden. Die Fürſten und Völker rangen.
Das Alte kam nicht wieder: aber das neue Gebäude ward wider
Aller Verlangen immer feſter und vollendeter. Umſonſt das Toben
und Wüthen der Menſchen — es geſchah, was geſchehen ſollte,
und nicht mehr und nicht weniger. Alles hat ſeinen Grenzſtein.
Keiner kann ihn überſchreiten. Den Gewaltigſten hemmt in ſeinem
Lauf eine unſichtbare Hand.
5 Seid ſtille, und erkennet, daß ich Gott bin! — Erkennet des
*
Herrn Willen. Ihr beſchwöret mit aller eurer Macht und Kunſt
die Vergangenheit nicht, daß ſie zurückkomme zu euch aus ihrem
Grabe. Aber das iſt die Weisheit, das Neue zu nehmen und zu
benutzen, daß es der Freude, des Friedens, der Stärke, des Wohl⸗
ſeins mehr gewähre, als das Alte jemals zu gewähren vermochte.
Thöricht find die, welche das Gute des heutigen Tages verſchmaͤ⸗
hen, in Hoffnung des viel Beſſern, das noch kommen Fönnte:
aber noch thörichter die, welche das Heutige verachten, weil ſie
wollen, Geſtern müſſe wieder Morgen werden. Wann ſtand der
Strom der Zeiten ſtille, oder wann ging jemals der Lauf der
Welt zurück? — Alles eilt vorwärts. Nichts iſt immer das
Gleiche. Dem Guten wird Alles gut; der Weiſe weiß von Allem
das Beſte zu nehmen. f
Erkennet das Walten Gottes! Er hat das Hohe zerſchmettert,
vas Niedrige erhoben. Wer war ſo ſtark, als er; wer konnte ihn
hindern, zu thun nach ſeinem Rath? — Was vermochten die ge⸗
waltigſten Flotten der Meere? Er ſandte einen Windſtoß, der die
Wellen bewegte, und die Schiffe flogen zerſtreut von einander,
und was Keiner berechnet hatte, geſchah; was Menſchenſinn aus⸗
geklügelt hatte, unterblieb. Was vermochten die furchtbarſten
Kriegsheere? Er hauchte ſie an, und es war ein Hauch des Todes.
Ihre Leichen und Waffen bedeckten die Felder; und was fie ver⸗
richten ſollten, ward nicht verrichtet; der Schwache ward ſtark
und der Mächtige kraftlos. So wollte es der Herr. Was ver⸗
mochte die Schlauheit der Rathſchläge, die Tapferkeit der An⸗
führer? Eine Kleinigkeit vereitelte die Rieſenentwürfe; ein Staub⸗
korn machte das große Uhrwerk ſtille ſtehen; in die Bahn der
tödtlichen Kugel trat unwiſſend der tapfere Held, und der dem
Leben von Tauſenden drohte, lag ſelbſt ohne Leben im Staube.
Niemand iſt mächtig vor dem Herrn. Weiſe ſeufzten in Kerkern,
und ihr Wort begeiſterte Millionen, und verwandelte den Zuſtand
ganzer Welttheile. Niemand weiß, wozu ihn Gott beſtimmt hat.
Jeder iſt ein Werkzeug der Vorſehung. Dir gehort der gute Wille,
o Menſch, bei deiner That: aber ihr Erfolg gehört Gott an.
Vom Willen biſt du verantwortlich, die Folge iſt die Sache der
1
Weltregierung. Seid ſtille, ſpricht der Herr, und erkennet,
daß ich Gott bin!
Erkennet ihn, den Einzigen, den Allesleitenden, der über
uns in majeſtaͤtiſchem Dunkel wohnet; der den Flug der Sonnen
und Monde und das leiſe Schweben des Schmetterlings ordnet;
der die Thaten des Fürſten und des Bettlers mit gleichem Maß⸗
ſtabe richtet; der Wohl und Wehe ganzer Welttheile und der
kleinſten, vergeſſenſten Familie mit gleicher Weisheit beſtimmt;
ohne deſſen Willen nichts geſchieht. Er hat die verurtheilie Un-
ſchuld gerettet, und den geheimen Verbrecher mit ſeinen Leiden
an das Licht des Tages gezogen, daß Alle vor ihm erſchrecken.
Wenn der redliche Mann das Opfer der Verleumdung neidiſcher
Seelen geworden; wenn er unter ſchändlichem Verdacht erlag,
und er ſelbſt kein Mittel hatte, ſich zu rechtfertigen vor der Welt,
weil aller Schein wider ihn ſprach; wenn dann ein unbemerkter
Umſtand plötzlich zum Vortheil des Verleumdeten redete, ſeine
Redlichkeit eben fo ſehr, als die Bosheit ſeiner verächtlichen Gegner
ins Licht ſetzte — in dieſem Umſtande (ihr nennet ihn Zufall!)
war Gottes Walten.
Wenn der glückliche Sünder lange unentdeckt ſeine Werke der
Finſterniß trieb; wenn Dieſer hier mit Wucher, Erbſchleicherei,
Bedrückung der Wittwen, Ueberliſtung der Schwachen, Ueber⸗
vortheilung der Gutmüthigen, Unterſchlagung fremder Gelder,
ſein Vermögen beſſerte, ſeinen Aufwand beſtreiten konnte; —
wenn Jener im Verborgenen Ränke ſchmiedete und den Ehrlichen
verdächtigte, welchen er öffentlich ehrte; hinterrücks verrieth, den
er ins Angeſicht lobte; abweſend anſchwarzte, den er anweſend
umarmte: — eine Stunde, ein Augenblick war genug, Alles zu
offenbaren, was Schändliches im Geheimen getrieben worden;
ein Lichtſtrahl brach durch einen unbemerkten Spalt in das Laſter⸗
gewölbe hinab, und die ſchwarzen Verbrechen wurden hell —
hier war Gottes Walten! Denn ſo iſt das heilige Geſetz des Welt-
ganzen; das Verdammenswerthe kann ſeiner Verdammung nie
entfliehen. — Wenn die ekelhaften Folgen gemeiner Wolluſt
endlich den ehrloſen Heuchler vor aller Welt an den Pranger ſtellen,
oder dem entlarvten Siechling auf frühem Sterbebette den Lohn
5
der Geilheit reichen; wenn ein unbeſonnen ausgeſtoßenes Wort,
oder ein unverwiſchter Blutstropfen, oder das Plaudern eines
Kindes, oder eine Handvoll friſcher Erde, oder ein treues Haus⸗
thier, oder ein Erblaſſen zur unrechten Zeit, nach Jahr und Tag,
den Urheber eines Mordes, den heimlichen Giftmiſcher, den rache—
luſtigen Würger an die weltlichen Gerichte ausliefert — o nenne
es nicht Zufall! es iſt Gottes Walten! — Jedem geheimen Sün⸗
der kommt endlich ein Tag ſeines Gerichts: und wälzte er Berge
über die Zeugen ſeines Vergehens, und hätten nur die Nacht und
die ſtummen Mauern und die Wälder feine Frevelthat geſehen —
die Berge verwehen wie Staub, und entblößen das Verborgene;
die Steine der Mauern klagen ihn an; die Blätter des Waldes
werden rauſchende Zeugen, der Blitzſtrahl fällt rächend vom
blauen Himmel. Seid ſtille, ſpricht der Herr, und erkennet,
daß ich Gott bin!
Erkenne das Walten Gottes. Er allein iſt Herr, der den
Gebeugten aufrichten, den Zerſchlagenen heilen, den Ohnmächti⸗
gen ſtärken, den Verzagenden tröſten, den Wehrloſen ſchützen
kann. Es waltet kein Zufall im Himmel und keiner auf Erden,
ſondern eine ſehende, weiſe, liebende Macht; ſie leitet Alles hin⸗
aus, nicht auf die Straßen des Ungefährs, ſondern nach den
ewigen Geſetzen des Guten zum Guten. Laß immerhin die
Menſchen mit ihren Leidenſchaften feindſelig wider einander
fahren; laß immerhin durch Macht oder Witz eine Zeit lang den
Irrthum ſtatt der Wahrheit glänzen; laß immerhin die wilden
Wünſche einer unreinen, ſelbſtſüchtigen Menge ſich durchkreuzen:
was zitterſt du denn, Kleinmüthiger? Gott waltet. . 3
Gott waltet! Darum muß endlich das Tiefverborgene offene
bar, das Verbrechen verrathen werden, und was ſchlecht iſt, ver—
derben. Darum wird nur beſtehen und ſiegen, was an ſich gut,
gerecht und wahr iſt. Hat die Welt nicht ſchon oft erfahren, wie
ganze Völker, vom Schwindel der Mode und Sitte ergriffen,
den Irrthum zur Wahrheit prägen wollten? Aber ihr Bemühen
war eitel. Haben nicht ſchon mehr denn einmal Tirannen mit
ſtolzer Willkühr vom Thron herab ihre Thorheit für Weisheit
gegeben, die Wahrheit als ein Majeſtätsverbrechen verbannt, und
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mit ſchamloſem Uebermuth alle Rechte der Menſchheit verhöhnt?
Die Elenden! Ihr Staub iſt in allen Winden verweht, ihr Ge—
ſchlecht iſt vertilgt, ihr Name nur lebt noch, um damit Abſcheulich⸗
keiten zu bezeichnen. Iſt nicht ſchon oft von eigenſüchtigen oder
wahnſinnigen Gewalthabern verſucht worden, die Völker in Un⸗
wiſſenheit und Barbarei zurückzudrängen, damit ſie dieſelben deſto
leichter in Sklavenfeſſelun behielten? Aber den Weltgebietern und
ihren vermeſſenen Träumen begegnete zerſtörend Muth und Wort
eines einzigen gotterleuchteten Weiſen — da zerflog vor dem Hauch
aus deſſen Munde die ganze Macht der Weltgebieter, und die
Menſchheit trat ins Licht, und die Throne der Finſterlinge ſtürzten
zuſammen. Ihre Donner, ihre Scheiterhaufen, ihre Kerker, ihre
Flüche waren vergebens. Darum ſeid ſtille, ſpricht der Herr,
und erkennet, daß ich Gott bin!
Erkenne das Walten Gottes in allen deinen vernichteten
Wünſchen; erkenne es in allen deinen erfüllten Hoffnungen. Die
Liebe war dort rege, wie hier, Alles zu deinem Heil. Denn
dies iſt das Ziel der Schöpfung. Selbſt da, wo dir das Herz
am ſtärkſten blutet, da, wo heilige Bande, Seelenbande zerriſſen
werden, — etwa am Sterbebette eines Gatten, eines Vaters,
einer Mutter, eines Kindes, einer Schweſter, eines Bruders —
ach, wo du meinteſt, der Tod ſolches geliebten Weſens ſei un⸗
möglich, Gott könne ihn nicht wollen, wo du ſchluchzend in deiner
einſamen Kammer die Haͤnde zum Himmel emporſtreckteſt, und
fragteſt: warum? o warum? — und das Geliebteſte dennoch ver⸗
loreſt, und damit das Beſte aus allen deinen Lebensfreuden —
ja, ſelbſt da hat dein Gott gewaltet, dem Verſtorbenen zu Liebe,
und — mag doch dein zärtliches, tief verwundetes Herz bluten! —
auch dir zu Liebe. 8
Der innere Werth und die herzliche Neligiofität der Menſchen
wird bei weitem nicht fo leicht aus ihren Anſichten der Pergangen⸗
heit und Gegenwart erkannt, als daraus, wie ſie die Zukunft be⸗
trachten. Man tröſtet ſich endlich wohl über das, was vorüber
iſt, und gewöhnt ſich an das, was da iſt: aber nicht jo gleich-
gültig oder gelaſſen richtet man immer den Blick auf das, was
kommt. Je mehr der Menſch Urſache hat, von der Zukunft zu
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befürchten, je geringer iſt der Werth feines Herzens, oder je
dürftiger ift feine Neligiofität. Je fröhlicher und zuverſichtlicher
der Menſch in die Tage hinausblickt, die noch nicht waren: deſto
reiner iſt ſein Gemüth, deſto wahrer ſeine Religion.
Denn nur der ſchwache, ſinnliche, an dem Irdiſchen haͤngende
Menſch, nur der Menſch, dem ſein Eſſen und Trinken, ſein Haus⸗
geräth, ſein Geld, ſein Anſehen, ſein Stand das Wichtigſte im
Leben iſt, muß vor der Zukunft am meiſten zittern, weil er
Dinge zu ſeinem Heiligthum macht, die durchaus vergehen müſſen.
Er muß zittern, trotz allem Vertrauen zu Gott; denn er weiß
voraus, Gott läßt ihm den Sinnentand nicht. Es ſagt ihm ſein
Gewiſſen, er hänge mehr am Staube, als am Ewigen und Gött-
lichen; mehr an dem Schein der Welt, als an der Tugend, die
über das Irdiſche erhebt.
Hingegen der wahrhaft gottergebene Chriſt ſieht fröhlich in
die kommende Zeit hin. Sie hat ihn für keine geheimen Sünden
zu züchtigen; er iſt ſchuldlos, wenn gleich nicht fehlerrein. Was
er Unrechtes beging, ſuchte er auf der Stelle zu beſſern. Er thut,
was der Menſch vermag, was der Nachfolger Jeſu ſoll. Er
ſieht fröhlichen Muthes in die Zukunft. Und was auch Gott ver⸗
hängt haben mag, Krieg oder Frieden, Wohlſtand oder Armuth,
Freuden im Umgange mit Geliebten oder Tod derfelben, Ruhe
oder Sturm — Gott waltet! Und wenn er ſchon die ſchwarze
Wetterwolke gegen ſich anziehen ſieht, es ſpricht der Herr: Seid
ſtille, und erkennet, daß ich Gott bin!
Warum ſollte ich mich denn fürchten? Du biſt es ja, mein
Gott, mein Vater, der die ſchwarze Wetterwolke des Schickſals
daher ſendet. Kann ſie mir denn ohne Deinen Willen ſchaden?
Und kannſt Du mich elend machen wollen, mich, Dein Kind,
das Du zur Seligkeit erſchaffen und erkoren haſt? mich, Dein
wehrloſes Kind, o Du Allmächtiger, das von Dir Alles hat? —
Nein, ich bin beruhigt. Da ich mein eigenes Sterben nicht
fürchte — denn es iſt ja Auflöſung der irdiſchen Bande, Freiheit
der unſterblichen Seele, ihre Vereinigung mit Dir — was könnte
ich denn wohl fürchten? Gib mir, nimm mir; erhebe oder er—
niedrige mich; laß mich die Freude meiner Freunde oder das
a Mi ie
Opfer meiner Feinde werden — ich empfange jedes Schickſal mit
Dank. Denn Du biſt mein Vater: Deine Liebe iſt mein Gut,
die Tugend mein Schatz; Alles Andere iſt Staub, und gehört
einem Grabe an. 5
Ich bin ſtill — ſtill und vertrauend — vertrauend und
freudig; denn ich erkenne, daß Du Gott biſt — mein Gott —
ewig! Amen.
J 3.
Unfere Abhängigkeit von Gott.
Jer. 5, 24.
Der Herr iſt groß und Keiner mehr;
Frohlockt ihm, alle Frommen!
Wer iſt ihm gleich? Wer iſt, wie er,
So herrlich, ſo vollkommen?
Der Herr iſt groß! Sein Nam' iſt groß!
Unendlich iſt und grenzenlos
Der Herr in ſeiner Gnade.
Wir ſind allein durch ſeine Kraft
Das, was wir ſind und werden.
Er kennet Alles, was er ſchafft
Im Himmel und auf Erden.
Vor ihm ſind wir ein welkend Laub,
Und ohne ihn ein nicht'ger Staub,
All' unſer Sein nur Ohnmacht.
Als Chriſtus wunderbar Tauſende fättigte, die ſich in der Ein⸗
öde am galilaͤiſchen Meer um ihn her geſammelt hatten, da nichts
mehr als ſieben Brode und einige Fiſche vorhanden waren, er-
ſtaunte das Volk und betete an. Aber die Gottheit wiederholt
das Wunder mit jedem Jahre. Wenige Samenkörnlein fallen
in den Erdboden, und nach wenigen Monaten werden damit
ganze Welttheile ernährt, und mit Vorrath und Ueberfluß reich
gemacht für Jahr und Tag. — Die Menſchen aber nehmen die
gewohnte Gabe, oft ohne des Gebers mit dankbarer Herzlichkeit
zu gedenken, und ſprechen nicht einmal in ihrem Herzen: Laffet
uns doch den Herrn unſern Gott fürchten, der uns Früh-
regen und Spätregen zu rechter Zeit gibt, und uns die
Aernte treulich und jährlich behütet.
— 36 —
Es wanken die Fruchtbäume unter der Bürde eines labenden,
heilſamen Obſtes; die Aecker ſenden ihre goldenen Aehren in die
Scheunen, und die Wieſen füllen dieſelben dem Vieh mit geſun⸗
den Kräutern; die Gartenfrüchte reifen in großer Mannigfaltig⸗
keit ſchön und kräftig. Der Winter tritt aus der Ferne heran;
unter ſeinem Hauche wird die Pflanzenwelt entſchlummern. Aber
furchtlos erwarten ihn die Geſchöpfe — Gott hat geſorgt!
Und hätte Gott nicht geſorgt — hatte er es in der geheimen
Haushaltung der Wolken anders geleitet, daß Hitze und Dürre
unſere Fluren verſengt, Hagelſchauer unſere Saaten zerſchlagen
oder anhaltende Regen und Kälte die Früchte der Erde vernichtet
hätten; oder würde er dem Ungeziefer Gewalt gegeben haben,
durch ungeheure Vermehrung die Aernten des menſchlichen
Fleißes zu zerſtören; oder hätte er nur in der Luft eine unmerk⸗
liche Entziehung derjenigen unbekannten Stoffe geſtattet, durch
welche die Pflanzen Kraft und Gedeihen empfangen — was
wären wir heute? Was hätte alle Mühe, alle Klugheit, alle
Sorge der Sterblichen genützt? — Was würde unſere Aernte
ſein? — Das Schrecken der Hungersnoth.
Denke dir einen Welttheil mit feinen vielen Millionen Be⸗
wohnern ohne die erforderliche Nahrung bis zur Wiederer—
ſcheinung eines beſſern Herbſtes. Denke dir, der du jetzt lüſtern
zwiſchen Leckerbiſſen wählen kannſt, daß dir deine Hungerbiſſen
zugewogen würden. Der Reiche wirft einen verächtlichen Blick
auf die zuſammengeſcharrten Goldhaufen; todt liegen die ge—
prieſenen Schätze, denn ſie ſind ungenießbar. Der Arme ſchleicht
verzweifelnd von Haus zu Haus; auch der Barmherzigſte wird
in der allgemeinen Noth grauſam, und weigert dem Sterbenden
die wenige Nahrung, mit der er ſich die Tage friſten will. Der
Säugling verſchmachtet wimmernd an der Bruſt einer gramver—
zehrten, ohnmächtigen Mutter. Die Heißgier eilt hinaus und ver⸗
ſucht ungeſunde Kräuter und Wurzeln. Das Recht des Eigen—
thums verſchwindet vor der Stärke der Verzweiflung. Die Bande
der Geſelligkeit und Freundſchaft löſen ſich auf; denn Einer be—
neidet den Andern um den letzten Biſſen. Aeltern und Kinder
entzweien ſich um eine Hand voll Speiſe, und der Knecht verläßt
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den hilfloſen Herrn, der ihn nicht mehr naͤhren kann. Bleiche
Geſichter begegnen ſich auf den Gaſſen, und hohle Augen fragen
ſich einander: Kannſt du mir geben? — Leichen neben Leichen
werden vorübergetragen, und glücklich geprieſen von den Leben⸗
den, die ihrem Elende kein jo nahes Ende ſehen. Mörderiſche
Seuchen gehen von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf, als
Folgen verderblicher Nahrungsmittel. Aller Ekel wird über-
wunden, und Dinge, vor denen die Natur des Menſchen ſonſt
ſchauderte, reizen wie köſtliche Gerichte. Wer ſich gefättigt hat,
gilt für den Beglückteſten; wer aus Mangel an Speiſen kraftlos
daliegt, wird nicht mehr beweint, denn die Andern erwarten kein
anderes Loos.
Es gebe der Herbſt mit freigebiger oder ſparſamer Hand,
immer ſteht ex da, uns unſere Abhängigkeit von Gott zu ver—
künden. Wir ſind Nichts, wir haben Nichts ohne ihn; und nur
durch ſeine Güte allein Alles. — Wenn der Menſch ſich ſelten
daran erinnern mag: der Herbſt mahnt ihn daran! Es bebt der
Landmann vor den Wetterwolken des Sommers, der Winzer vor
den kühlen, naſſen Tagen, in denen die Trauben reifen ſollen.
Jeder erwartet mit Beſorgniß die Entſcheidung des Herbſtes —
Wohlfeilheit oder Theurung gehen in deſſen Gefolge.
Wir find abhängig von Gott. — Jede Stunde, jeder Athem⸗
zug in derſelben lehrt es uns. Was wären wir ohne Obhut der
Vorſehung? — Und doch geht der Menſch ſtolz einher, als waͤren
feine Aernten bloße Erfolge feiner gehabten Mühe, feiner ver—
doppelten Kunſt. Er brüſtet ſich mit ſeinem Ueberfluſſe, mit
ſeinem Anſehen unter den Sterblichen, als waͤre dies Alles nur
die Frucht feiner Klugheit. Er zählt lächelnd die Reihe feiner
günſtigen Schickſale her, als hätte feine eigene Macht fie herbei⸗
gerufen. Ach, wie wenig bedarf es, um ihn und feine Herrlich-
keit zu vernichten! Ein Jahr, eine Stunde, ein Augenblick ohne
Gottes Segen, und der Strom unvorhergeſehenen Elendes hat
den Stolzen ergriffen.
Darum, was ich auch gewinne, wie glücklich mir meine Ent⸗
würfe auch gedeihen mögen, immerdar will ich mich meiner Ab⸗
hängigkeit von dem Geber alles Guten erinnern. Nicht an meiner
5
„ Be
Geſchicklichkeit und Kunſt, nicht an meinem Fleiß und Sorgen,
nein, an ſeinem Segen iſt wahrlich Alles gelegen.
Wir ſtehen in immerwährender Abhängigkeit von
Gott, jo wie ein Kind abhängig iſt von feinen Ael⸗
tern. Er ſorget für uns, wie die Mutter für ihren hilfloſen
Säugling, wie der Vater für ſeinen unmündigen Sohn. Wie
gehorſam auch das Kind den Aeltern ſein möge: kann es ſich
durch dieſen Gehorſam ſeine Nahrung und Kleider verdienen?
Was hat es ſeinen Aeltern zuvor gegeben, daß ſie ihm dafür
wieder geben ſollten? — Ach, noch unendlich ärmer und hilfloſer
ſtehen die Menſchen vor ihrem himmliſchen Vater da. Auch ihr
frömmſter Gehorſam iſt endlich kein Verdienſt vor ihm. Nichts
haben ſie, was ſie ihm geben und leiſten könnten. Ihm iſt Alles.
Nur er gibt ihnen immerdar, und er gibt gern und ohne Auf⸗
hören. |
Abhängig find wir, wie die unmündigen Kleinen von ihren
Aeltern. Dies Verhältniß, weit entfernt mich niederzuſchlagen,
ſoll nur meinen Leichtſinn, meinen Stolz auf eigene Macht ver⸗
mindern, aber dagegen meine Dankbarkeit, mein Zutrauen ver⸗
mehren. Warum verzage ich denn ſo ſchnell, wenn mir nicht
Alles nach Wunſch gelingt? — Warum werde ich denn muthlos,
wenn ich an den Gang der ſchweren Zeiten, an vielerlei mögliche
Unglücksfälle, an das Schickſal meiner lieben Angehörigen denke,
wenn ſie mich nicht mehr haben? — Bin ich nicht von meinem
Gott vollkommen abhängig? iſt er nicht mein und der Meinigen
Vater? hat er nicht bis auf den heutigen Tag noch Alles zum
Beſten regiert? Ich zittere vor Menſchengewalt, zittere vor den
Anſchlägen meiner Feinde. Aber find fie nicht abhängig von
Gott, wie ich? Können fie ohne feine Zulaſſung einen Athem⸗
zug nehmen? Iſt er nicht der Gebieter des Verhängniſſes, und
lenkt er nicht die Herzen der Fuͤrſten, wie der Bettler, durch das
Zuſammenwirken der Umſtände und Ereigniſſe?
O nein, meine Seele, verzage nie, auch wenn ſich deine
Sorgen am ſchwaͤrzeſten um dich her drängen; auch wenn die
Menſchen von dir ſcheiden, ohne Rath und Troſt zu hinterlaſſen.
Du biſt ja von dem abhängig, der dich erſchaffen hat, der dich
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liebreich bewahrte bis zur gegenwärtigen Stunde; der nie an
Hilfe arm wird, der dir, oft ganz unerwartet, die beſten Freuden
gab, und ſelbſt keinerlei Trübſal ſandte, das nicht für dich, zu⸗
weilen ohne dein Wiſſen, oder daß du es erſt lange nachher ein⸗
ſaheſt, die wohlthätigſten Wirkungen brachte. Freue dich deiner
Abhängigkeit von dem Vater aller Welten!
Wir ſind abhängig von Gott; er gibt uns, was wir bedürfen.
Aber er gibt es uns nicht, ohne daß auch wir unſer Nachden⸗
ken, unſere Arbeit zu Hilfe nehmen. Nicht daß wir damit
feinen Segen verdienen könnten — denn welchen Vortheil ſtifteten
wir der Gottheit jemals durch unſere Mühe und Kunſt? — ſon⸗
dern daß wir dadurch zu größerer Vollkommenheit reifen möchten.
Wie ein Vater ſein unmündiges Kind durch Geſchenke und Liebe,
jo erzieht Gott das Geſchlecht der Menſchen, indem er es nöthigt,
Gebrauch von den verliehenen Geiſtes- und Körperfräften zu
machen. Dieſer Gebrauch unſerer Anlagen befördert deren Stärke.
So gelangen wir von Zeit zu Zeit zu neuen Entdeckungen und
Erfindungen, die uns nützlich werden, und wiederum andere
veranlaſſen. So bringt die Hoffnung, unſern Zuſtand zu ver⸗
beſſern, uns zu einem thätigern, gemeinnützigern Weſen, zu
größerer, gegenſeitiger Dienſtgefaͤlligkeit, zu freundlichern, brüder⸗
lichern Verhaltniſſen unter einander; zu lebhafterm Gefühl un⸗
ſerer Pflichten; zu hellerer Erkenntniß der Natur, und dieſe zu
hellerer Erkenntniß des himmliſchen Vaters. So erzieht er uns,
und durch die Wohlthaten, welche wir mit Anwendung unſerer
Geiſtes⸗ und Lebensanſtrengungen gewinnen, empfangen wir am
Ende eine größere Wohlthat, die wir Anfangs kaum vermuthe⸗
ten, einen veredeltern, erhabenern, frömmern Geiſt, würdig, in
! der Ewigkeit Gefilden noch herrlichere Aernten zu halten.
Aber bei dieſen Gefühlen kann ich es, als ein würdiges Kind
Gottes, nicht bewenden laſſen; ſie müſſen Flügel meiner Andacht
werden, mich dankbar anbetend zum Thron der unendlichen Gnade
emporzuſchwingen; Flügel meiner Seele zu gottähnlichen Thaten.
Denn das iſt die höchſte Andacht und Anbetung, daß wir Gott
ſelbſt nachahmen, und wir in unſern kleinen Wirkungskreiſen ſo
— 40 —
beſeligend walten, wie er im unermeßlichen Reich der weten
Schöpfung.
Wie wir von ſeiner Huld, find auch andere Men-
ſchen wieder von uns abhängig. Es iſt Alles in Allem
von Gott ins Daſein ſo eng verkettet, daß das Größte vom Klein⸗
ſten, das Niedrigſte vom Höchſten in irgend einer Abhängigkeit
lebt. So laßt uns denn göttlich denken, göttlich thun auch gegen
diejenigen, die von uns abhängig ſind.
Es ſind unſere Kinder und Angehörigen, die Gott unſerer
Pflege und Vorſorge anvertraute. Laſſet auch ſie das ſüße Glück
der Abhängigkeit von einem wohlwollenden Vater- und Mutter⸗
herzen fühlen. Und wie Gott durch den Segen des Herbſtes
ſchon für Monden und Jahre unſere Erhaltung veranſtaltete,
laſſet auch uns für die anſtändige Erhaltung der Unſerigen in
den Tagen ihrer Zukunft Bedacht nehmen.
Gedenke in den Tagen der Fülle an die Zeit des
Bedürfniſſes, und im Frohgefühl deiner Geſundheit
an den Schmerz des Krankenlagers! — Wie Mancher,
der heute gewinnt, wirft mit verſchwenderiſcher Hand hinweg,
was ſeine Kinder einſt mit thränenden Augen aus dem Staube
und Koth hervorſuchen! — Zum Leben gehört wenig; fo wir
Kleider und Nahrung haben, ſagt Paulus, laſſet uns genügen.
Zum Glück gehört wenig; nur Mäßigung unſerer Begierden, nur
Zufriedenheit mit dem, was wir haben, und Zuverſicht auf die
Alles wohl leitende Hand der Vorſehung. Was wir ſelbſt mehr
beſitzen, als zu unſerer Nothdurft erheiſcht wird, gehört nicht uns
an, ſondern denen, die ſich nicht ohne Beiſtand erhalten können.
Der Ueberfluß iſt ein Kapital, welches die Vorſehung uns an—
vertraute, es zum Beſten Anderer zu verwalten. Der Menſch
nenne, was ihm Gottes Güte für Lebenszeit lieh, immerhin ſein
Eigenthum; es hat der Geiſt kein Eigenthum als ſeinen Willen,
ſeine Tugend, ſeine Kraft; alles Uebrige raubt ihm ein Zufall,
eine Nacht, eine Stunde, die wir Scheideſtunde des Lebens nennen.
Wer daher den Ueberfluß, welchen er vom Himmel empfing,
mit Leichtſinn vergeudet, um ſeinen Sinnen ein Feſt zu geben,
veruntreut das Vermögen, das zur Erhaltung und Erquickung
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anderer Weſen beſtimmt war. Er macht fich der Aernte unwür⸗
dig, die er erlebte. Nicht feine Geſchicklichkeit, nicht der Schweiß
ſeines Angeſichts gab ihm das reichere Einkommen, ſondern der
Wille und Segen des Höchſten, um denen mitzutheilen, die
nichts haben.
Seid ſparſam! Gedenket derer, die von euch abhängig ſind,
ſo wie Gott auch eurer heute gedachte. Ihr Gemeinden, gedenket
eurer Nachkommen, und hütet euch, das Gut zu zerſtreuen,
welches für künftige Unglückszeiten geſammelt ward! Ihr Aeltern,
gedenket eurer Kinder, die von euch Mittel zu fordern berechtigt
find, durch die fie ihr Daſein frei und anſtändig friſten können.
Nicht von euch, von Gott empfingen ſie das Leben; nicht für euch,
für fie gab euch Gott mehr, als ihr nöthig hattet.
Gedenket derer, die von euch abhängig ſind! Und
wer iſt abhängiger, als der Arme, dem Alles fehlt, der Alles
von der Gunſt ſeiner beglückten Mitmenſchen erwarten muß!
Werdet Gott ähnlich, indem ihr ſeine Milde nachahmet, die er
euch beweiſet. Er ſegnete euch auch für die Freude der Segen—
loſen; er machte euch nur zu Austheilern ſeiner Gaben, die er
ihnen aus eurer Hand beſtimmte. So lange noch, o Chriſt, in
deiner Gemeinde eine Familie mit Durſt und Hunger kaͤmpft;
ſo lange noch eine weinende Mutter da iſt, die nicht weiß, wie
ſie ihre Kinder gegen den Froſt des Winters ſchützen könne; ſo
lange noch ein Elender daſteht, der nicht findet, womit er ſeine
Blöße bedecken ſoll; ſo lange noch ein Kranker auf hartem Lager
ſchmachtend daliegt, der keinen pflegenden Freund kennt, dem
keine Arznei die innern Leiden mildert, kein Balſam den Schmerz
der Wunden löſcht: ſo lange iſt dein ſchwelgeriſches Gaſtmahl ein
Verbrechen, denn Lazarus weint vor deiner Thür! — ſo lange
it dein Seidengewand, dein köſtlicher Schmuck, in welchem du
ſtrahlſt, ein Zeuge deiner Grauſamkeit und der Verworfenheit
deines Gemüths. — Denn jene Leidenden, o vergiß es doch nicht,
ſind Gottes Kinder, und Gott gab dir den Ueberfluß, daß du ihn
im Namen des allgemeinen Vaters den bedürfenden Brüdern und
Schweſtern austheilen ſolleſt! — Denn deine Prachtkleider, deine
Gaſtmahler, o vergiß es doch nicht, find eine Verſpottung des
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Himmels und ſeiner Gebote, Verſpottung der Menſchheit und
ihrer Rechtſame auf dich! Denn dein Schmuck und dein Pran⸗
gen, o vergiß es doch nicht, iſt werthloſer Staub, Beute flüch⸗
tiger Stunden; aber die dankbare Thrane eines einzigen Geretteten
glänzt dir einſt in der Ewigkeit noch wie ein Stern aus der dun⸗
keln Vergangenheit, und der Seufzer durch dich beglückter Weſen
tönt vor Gott, dem Allvergelter! — So lange noch in deiner
Gemeinde ein einziger Menſch das Nothwendigſte entbehren muß,
haſt du kein Recht zum Ueberfluß; ſo lange noch ein Unglücklicher
jammert, dem durch dich geholfen werden könnte, haſt du kein
Recht zur Freude. f
Gedenket derer, die von euch abhängig ſind. — Gott machte
euch, die ihr begüterter ſeid, als ſie, nicht nur zu Verwaltern
ihres Antheils an dem allgemeinen Segen, welchen er ſeinen Ge⸗
ſchöpfen beſtimmte, ſondern auch zu ihren Vormündern und Er⸗
ziehern. Und ſo wie die Weisheit Gottes euch durch das Bedürfniß
mancherlei Nothwendigkeiten anſpornte, eure Kräfte in edler Thaͤ⸗
tigkeit zu eurer und anderer Menſchen Wohl zu entfalten: ſo
ſollet ihr auch diejenigen, die von euch abhängig ſind, zum weiſen
Gebrauch ihrer Kräfte anleiten.
Im Schweiß des Angeſichts föllſt du dein Brod
eſſen! war der Ruf Jehova's zum Geſchlecht der Sterblichen an
den Schwellen des verlornen Paradieſes. Der Müßiggänger iſt
des Lebens unwürdig, weil er es nicht zu leben weiß. Wie es
dem Reichſten zum Schimpf gereicht, ſeine Tage nutzlos für die
Welt verfließen zu laſſen, als wäre er nur ein Thier, welches
ſeinen Leib für den Tod mäſtet: ſo iſt auch der Müßiggang das
ſchwerſte Verbrechen der Armen. — Der unthätige Bettler iſt
der frechſte Verſchwender, denn er verſchleudert die Schätze einer
unwiederkäuflichen Zeit. Wer durch Almoſen und Spenden den
Müßiggang kräftiger Bettler unterſtützt, macht ſich ihres Ver⸗
brechens theilhaftig und wird Gehülfe ihres Seelenmordes, Be—
förderer aller Laſter, zu denen Müßiggang lockt.
Reiche kein Almoſen dem, der es nicht verdient.
Wehre der Bettelei durch wohlthaͤtige Anſtalten und Einrichtun⸗
gen, vermittelſt derer auch der Verdienſtloſeſte Arbeitsgelegenheit
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empfängt. Ob du dein Gut in einen grundloſen Strom wirfit,
oder in die Hand eines Faulen, Beides iſt gleich — du beraubſt
den Staat, machſt den Fleißigen ärmer und fütterſt verborgene
Laſter groß. Ungeheure Summen werden in Städten und Doͤr⸗
fern jährlich mit Almoſen verſchwendet, die man den Bettlern
hinauswirft. Zwar achtet die einzelne Haushaltung der einzelnen
kleinen Gaben nicht; aber aus beſtändig fallenden Tropfen wer⸗
den Quellen, aus Quellen Bäche und Ströme. Wo Almoſen,
aus unverſtändiger Barmherzigkeit, am freigebigſten geſpendet
werden: da hört die Armuth nicht auf, ſondern, die Erfahrung
lehrt es, die Bettelei wächſt.
Befördere in deiner Gemeinde Einrichtungen jeder
nützlichen Beſchäftigung der Armen, und wo dieſe An-
ſtalten mangeln, dringe, daß ſie entſtehen — dies iſt Almoſen,
das vor Gott gilt! Und vermagſt du es nicht, ſo gehe und forſche
du ſelbſt von Hütte zu Hütte; belauſche hilfloſe Familien in ihrem
ſtillen Jammer; werde ihr Rathgeber; verſchaffe ihnen Mittel,
ſich durch Arbeit zu nähren; wirb ihnen Freunde an, ſei ihr
Schutzengel in That und 9 780 Dies iſt Almoſen, das vor
Gott gilt.
Die Frömmigkeit unſerer Vorfahren ſtiftete hin und wieder
reich begüterte Armenhäuſer — aber das übelgeleitete Mitleiden
verwandelte dieſelben leider nur zu oft in Pflegehäufer der Faul⸗
heit und Laſter. Am gefahrvollſten wird die Luft derſelben den
unſchuldigen, verwaiſeten Kindern, welche darin wohnen. Sie
verlaſſen nur zu oft das Haus der Barmherzigkeit körperlich wohl⸗
genährt, an der Seele vergiftet. Nur zu oft ſind die Zöglinge
der Waiſenhäuſer die untauglichſten Glieder der bürgerlichen
Geſellſchaft geworden. Verbeſſere das Schlimme! Dies iſt Al⸗
moſen, das vor Gott gilt.
In tiefſter Abhängigkeit von dir leben diejenigen deiner Mit⸗
erſchaffenen, welche ſich ſelbſt nicht helfen können: kranke
Arme; Greiſe mit Gliedmaßen, die das Alter ent-
kräftete; Kinder ohne Schutz, ohne Rath, ohne Er-
ziehung, ohne Nahrung. — O weigere dieſen deine Liebes-
gabe nicht! Du hörſt von ihnen, du erblickſt ſie — denke, es iſt
a SA
die ewige Vorjefuug, die ſie vor dein Ohr und Auge führt. Du
biſt auserkoren, ihr Vater, ihre Mutter, ihr Fürſprecher zu ſein.
Vergiß ſie nicht, Gott hat dich auch nicht vergeſſen. Nein, mit
dem Pfenning, welchen du ihnen für ihren Gotteslohn hinfchleu=
derſt, iſt es nicht abgethan — dies iſt ja kein Almoſen, ſondern
nur ein Loskauf vom Anblick des Elendes, oder eine Ehrenſchuld,
die du deinem guten Ruf abträgſt. Nein, ſei barmherzig! —
Kaufe ihnen mit deinen Juwelen eine Freudenthräne; mache mit
deinen überflüſſigen Gewändern dem dürftigen Kranken noch ein
weiches Sterbebette; erquicke dem nothleidenden Greiſe noch die
letzten Stunden ſeines mühſeligen Lebenslaufes mit dem Wein,
den die Gäſte ſonſt verſchwendeten, mit den Leckerbiſſen, die ſie
ohne Eßluſt verderbten! Gib dem verwahrloſeten, bettelnden
Kinde einen Pflegevater, eine Mutter, daß es Jugendfreuden
wieder empfinde. Die Erhaltung dieſer Waiſe koſtet nicht mehr,
als die Aufopferung einiger Luſtbarkeiten im Jahr, welche dir
nie ein ſo frohes Andenken in der Sterbeſtunde gewähren, als
der Anblick des weinendſegnenden Auges deines Schütte
Das iſt Almoſen, das vor Gott gilt.
Habe ich auch, o Vater, o Du Segenvoller, Du Immer⸗
gebender, habe ich auch bisher geleiſtet, was ich hätte leiſten
müſſen, um mich Dein würdiges Kind zu nennen? — Habe ich
auch den Zweck meines durch Dich ſo vielfach beglückten Daſeins
und Deiner Segnungen erfüllt nach meinen Kräften? — Habe
ich mich nicht oft damit hartherzig gemacht, daß ich glaubte, ich
habe nur ſelbſt kaum für alle meine verſchiedenen Bedürfniſſe
genug? Ach, warum machte ich mir denn ſo vielerlei entbehrliche
Bedürfniſſe, daß ſie einen großen Theil des Segens verzehrten,
mit dem Du mich erfreuteſt? Warum iſt nicht, die Noth der
Brüder zu mildern, die Thraͤnen der Verlaſſenen zu trocknen,
mein köſtlichſtes Bedürfniß?
Wohl, Vater, wohl, es ſoll werden! — Ich will für meine
armen Brüder ärnten auf Erden, und mit ihnen Deinen Segen
theilen. Durch ihre Gebete ärnten ſie dann für mich bei Dir
ein. — O ſchöner Tauſch! was ich dem Geringſten meiner Brüs
der gethan habe, habe ich Gott gethan — habe ich mir ſelbſt ge—
a
leiſtet. Freudiger bete ich dann zu Dir: Und gib mir mein täg-
liches Brod! — ich bitte es auch für meine Brüder.
O Du, dem ich Alles danke, von welchem jeder Augenblick
meines Daſeins, mein und der Meinigen Freude und Wohl ab⸗
hängig iſt — ſei bei mir immerdar mit Deiner Gnade und Barm⸗
herzigkeit, wie ich, ſo weit mein Wirkungskreis geht, auch keinen
Leidenden ohne Barmherzigkeit verlaſſen will! Amen.
„
6.
Muth zur Tu gen d.
1. Petri 3, 13. 14.
Ich will auf ihn nur ſchauen, N
Feſthalten an ſein Wort;
Was ſollte mir denn grauen? f
Er iſt mein Schild, mein Hort!
Nach Recht und Wahrheit ſtreben,
In Jeſu Geiſt zu leben:
Iſt das nicht fein Gebot?
Ha, ſollt' ich darum beben,
Wenn alle Welt mir droht:
Ich ſollte in Gewittern
Vor Menſchenrache zittern ?
Nein, möge eine Welt vergehn,
Was Recht iſt, ſoll als Recht beſtehn!
Ob dornig oder enge
Der Weg der Wahrheit ſei,
Verlaſſen von der Menge:
Ich wall ihn, Gott, getren;
Und folgſam ſeinem Worte
Will ich auf ihn nur ſehn,
Und durch die enge Pforte
Zur beſſern Welt eingehn.
Und wie ich wall', erweitert
Die Ausſicht ſich umher,
Und ſehe dann erheitert,
Was mich geſchreckt, nicht mehr.
Sprich zum Adler: Verlaſſe dein Felſenneſt, königlicher Vogel,
und die Nachbarſchaft der Wolken; ſchleppe deinen Leib im Staub
des Erdbodens! Und zur Lilie ſprich: Edle Blume, trage Diſteln
und werde ſtinkend, wie die Giftpflanze in dem ungeſunden Schat⸗
ten! Dennoch wird die edle Blume ihren ſüßen Wohlgeruch aus⸗
gießen in die Lüfte, und der Adler wird emporfliegen zur Sonne.
Denn Thier und Pflanze haben ihr Geſetz, dem folgen ſie und
können nicht anders. Ihr Geſetz haben ſie von der Hand des Herrn,
darum ſind ſie, was ſie ſein ſollen, und werden nicht anders.
Und hat nicht auch der Geiſt des Menſchen ſein Geſetz von
der Hand des Herrn empfangen? Was er fein ſoll, weiß er; wo
hin er berufen iſt, weiß er. Aber ſelten iſt er, was er ſein ſoll;
und Viele ſind berufen, aber Wenige ſind auserwählet.
Willſt du den Grund der Verkehrtheit des heutigen Menſchen⸗
geſchlechts kennen? Es gleicht einer Pflanze, deren Gipfel, der
unſterbliche Geiſt, ſich in den Himmel emporſtrecken ſoll, und
deſſen Wurzel, der Leib und ſein irdiſches Alles, in die Erde zu
dringen beſtimmt iſt. Aber dieſe Gottespflanze, in dem Garten
der unendlichen Schöpfung, verkümmert in ſich ſelber, und breitet
nur wuchernde Wurzeln in die Erde aus. Was niedrig, gemein,
was thieriſch, was ſinnlich iſt, das ergötzt den großen Haufen
der Leute; dafür leben, dafür ſterben ſie. Es iſt ein feiges Volk,
das weder Muth zur Tugend, noch zum Laſter hat. Es fürchtet
nur, wie ein Sklave, die Geißel, darum meidet es das Böſe, und
hofft ſich auf Erden und jenſeits des Grabes gute Tage zu bereiten,
darum preiſet es das Gnte. Da iſt keine innige Liebe der Tugend,
da iſt kein inniger Abſcheu des Laſters. Nur Hang zum Gewinn,
zum Wohlleben, zur Macht, zu einem flüchtigen, Ruhm des
Namens, das iſt der Hebel, welcher Alles bewegt und aus der
Todtenruhe hervorreißt. Wie viele ſind unter Tauſenden, die
für Recht und Wahrheit und Freiheit und Unſchuld und heiligen
Glauben freiwillig Vermögen, Menſchenehre, Amtsſtellen und
das Leben ſelbſt aufopfern möchten? Aber in Noth und Tod
gehen ſie, um ihren Wohlſtand zu retten; in alle Gefahren für
ein Stückchen Gold oder eine Hoffnung zu Lobpreiſungen von
Ihresgleichen, und wagen ihr Leben daran, um bequemlich leben
zu können nach ihrem Sinn.
Sie ſchwanken zwiſchen Weisheit und Thorheit; ſind nicht
kalt, nicht warm; wollen Gott dienen und dem Mammon zugleich,
nach ihren Lüften leben und das ſchönſte Loos der Ewigkeit zu⸗
1
gleich fordern. Der Augenblick der Gegenwart ift ihr Abgott und
ihr Geſetzgeber, und das Urtheil der blinden Menge ihre Richt⸗
ſchnur. Sie laſſen ihre Kräfte ſchlafen, ihr beſſeres Gefühl ver⸗
ſtummen, um ſich nicht auszeichnen zu müſſen, und mit dem
großen Haufen den breiten ebenen Weg der Gemeinheit wandern
zu können. Denn ſie ſind verzagt, weil bei ihnen Menſchenfurcht
über Gottesfurcht ſteigt. Sie preiſen die Großen des Alterthums
in ihren Schauſpielen, Reden und Schriften; aber wer unter
ihnen groß ſein wollte, wie jene, und für Recht und Wahrheit
ſich ſelbſt aufopfern, und lieber untergehen, als Unrecht, Falſch⸗
heit und ſelbſtſüchtige Tücke anketten möchte, wird Schwärmer
geheißen und als Sonderling verſpottet. Es iſt für fie ſchänd⸗
licher, arm zu ſein, als boshaft; gefährlicher, ein zerriſſenes Kleid,
als verdorbene Grundſätze zu haben.
Dieſer Ton, dieſer Geiſt, dieſe Buhlerei mit der Gemeinheit
macht ſelbſt diejenigen irre, in denen noch lebendige Erkenntniß
des Beſſern lebt. Das allgemeine Geſchrei will die Stimme der
Wahrheit überlärmen in ihnen. Weil Alles wo anders hin⸗
ſtrömt, werden ſie zweifelhaft, ob ſie auf richtigem Wege gehen,
da fie jo einſam find. Und hören fie gleich alltäglich: was Jeſus
Chriſtus gelebt und gethan, ſei der Menſchheit Vorbild, und
göttlich ſein Thun und Leben geweſen, erblicken fie doch im Leben
und Thun der Menſchheit alltäglich das ſchnoͤde Gegentheil von
Allem, was der Göttliche that und lehrte.
Nein, es iſt an der Zeit, daß ſich auch die Edeln wieder er⸗
heben, und wie Jeſus Meſſias, wie die Jünger, wie die Heiligen
und Großen der Vorwelt, die ewige Wahrheit hoher, als die
Flitterpracht der Lüge, das ewige Recht höher, als den Stolz
der Gewalt, die ewige Tugend höher als Ueppigkeit, Rang und
Weihrauch feiler Schmeichler achten. Nicht wo der große Haufe
hintreibt, gefeſſelt und gezogen von der unreinen Leidenſchaft,
ſondern wohin Wahrheit und Religion und Gewiſſen wirken, da
iſt der Weg des Lebens. Nicht wie die Welt will, wie Gott will,
iſt es recht!
Wir wären beglückter, wären wir rechtſchaffener; wir wären
rechtſchaffener, wären wir müthiger, es zu fein; wäre uns der
BE
erhabene Gedanke des Wahren und Rechten mehr werth, als eine
erhabene Stelle unter Mitbürgern; einfache Weisheit ſchätzbarer,
als kluge Verſchmitztheit, und eine heilige That mehr, als der
Gewinn eines Goldſtücks!
Wer iſt, der euch ſchaden könnte, ſo ihr dem Guten
nachkommt? Und ob ihr auch leidet um der Gerechtig—
keit willen, ſo ſeid ihr doch ſelig. Fürchtet euch aber
vor ihrem Trotzen nicht, und erſchrecket wicht (1. Petri
3, 13. 14.)
Alſo ruft uns das göttliche Wort zu. Muth denn alſo zu
dem, was göttlich iſt! Mit dem Göttlichen iſt Gott, wer will
wider uns ſein? Fürchte nicht den Laſterhaften, den Frevler, den
Spötter; mag er läſtern, freveln, ſpötteln. Du, edler Menſch,
vollbringe ohne Scheu, was Gott gebeut, was Jeſus lehrt, was
dein Gewiſſen heiſcht, und dein Muth wird den Böſen ſchrecken,
und er wird ſich zuletzt feiner Klugheit wie feiner Thorheit ſchaͤmen.
Er kann trotzen, aber ſchaden nimmer. Wer das Böſe möchte,
kann trotzen, aber er iſt klug; feig iſt die ſchlaffe Selbſtſucht;
feig der von ihr beherrſchte Haufe. Darum iſt es an der Tugend,
daß ſie ſich in ihrer herrlichen Macht offenbare. Biſt du eines
edeln, heiligen Entſchluſſes voll, und des Gottgefälligen in deinem
Unternehmen ſicher: dann vollbringe es ohne Furcht. Gott iſt
mit dir im Bunde; im Bunde mit dir ſelbſt das zitternde Gewiſſen
der Böſen, darum wirſt du im Kampfe wider ſie obſiegen.
Siehe an die Leute, was wollen ſie? Sie tragen Schalkheit
im Herzen, aber Edelmuth auf den Lippen; denn ſie ſind feig,
weil ſie ſchlecht ſind, darum wollen ſie ſcheinen, was ſie nicht ſind.
Sie betheuern Freundſchaft, und lieben doch keinen Andern, als
nur ſich ſelber. Das wiſſen ſie alle, darum traut Keiner dem
Andern, und ſind unter ſich voll Argwohns. Das Reich der
Böſen ift immerdar unter ſich uneins; nur der Eigennutz bewegt
fie, aber doch konnen fie der Tugend nicht ihre Ehrfurcht ver⸗
ſagen. Auch die Teufel glauben einen Gott, und zittern. Darum
treiben die Schwächlinge im Dunkeln ihren eigennützigen Handel,
und brüften ſich öffentlich mit gemeinnützigen Abſichten; erſchleichen
Gewalt und Chrenſtellen, um zu glänzen, und ſprechen rührend
—
a
von des Volkes Wohlfahrt, als ihrer wichtigiten Sorge; fordern
zu Opfern für alles Gute auf, und treiben im Stillen Wucherei,
Betrug, Erbſchleicherei und Verfälſchung; reden von Gewiſſen⸗
haftigkeit, und brechen heimlich Eide und Gelübde; glänzen geiſt—
reich und durch muntere Laune und Witz in Geſellſchaften, und
find in ihrem Haufe die Plage der Hausgenoſſen; prahlen über-
müthig im Glück, und kriechen zaghaft zurück, wenn es miß⸗
lingt; ermahnen zur Kühnheit, und verſtecken ſich hinter den Be⸗
herzten; find allezeit da, wenn die Gefahr vorüber iſt, als hätte
kein Anderer ſo viel gethan, und reißen die Frucht des Sieges
und den Lohn des Siegers an ſich; ermahnen zur Dankbarkeit,
und vergelten mit Undank; wollen eine Welt vereinigen, und ent⸗
zweien ſich um ein Senfkorn.
Das ſind die Leute, welche das große Wort führen, die
Zwerge hinter den Masken der Rieſen, die Tonangeber, die Acht-
baren, denen nichts heilig iſt, als ihr Vortheil, und welche Re—
ligioſität bald zum Deckmantel einer Schandbarkeit, bald zum
Leitzaum des Volkes machen, um Gewinn zu haben, und im
Verborgenen über die Leichtgläubigkeit aller Betrogenen zu lachen,
und ſich ihrer großen Liſtigkeit zu freuen. — Das ſind ſie, Edler,
mit denen du zu kämpfen haſt; das ſind ſie, Gerechter, die deiner
ſpotten werden, wenn du dich ſelbſt verläugneſt, um dem Bei⸗
ſpiel Jeſu, der Jünger und aller Heiligen und Großen der Vor⸗
welt zu folgen; die dich verfolgen werden, wenn du ihre Ränke
vereitelſt, und die Wahrheit an die Stelle der Lüge ſtellſt; die
dich fürchten werden, wenn fie erkennen, daß du in der Wirklich-
keit biſt, was ſie nur ſcheinen möchten; die dir weichen werden,
wenn ſie Ueberzeugung empfangen, daß du ſie nicht mehr fürchteſt.
Muth denn zur Tugend! Wer iſt, der euch ſchaden könnte,
ihr Kämpfer Gottes, ſo ihr dem Guten nachkommet?
Dieſen Muth zur Tugend verleiht das wahre Chriſtenthum;
nicht das falſche Chriſtenthum, noch das Namens⸗Chriſtenthum
der blinden, verwahrloſeten, durch Laſter und Eigennutz entnerv⸗
ten Menge, welche Herr, Herr! ruft, und Gottes Gebot nicht
übt; Gott zu lieben ſchwört, und den Nachſten haßt; Gott an⸗
betet und den Leidenſchaften des Fleiſches dient. Nicht das Chri⸗
a III. 3
u, BD
ſtenthum der heutigen Welt gibt den Muth zur Tugend, ſondern
das Chriſtenthum der erſten Jünger, die für die Wahrheit des
Glaubens, für das Recht des Geiſtes, für die Heiligkeit der Tu⸗
gend Schmach und Noth, Armuth und Verfolgung, Hohn und
Tod mit ſtillem, ſtandhaftem Sinn duldeten.
Wer mir folgen will, ſprach der Meſſias Jeſus, der verläugne
ſich ſelbſt, nehme ſein Kreuz auf ſich und folge mir nach. Denn
wer ſein Leben erhalten will, der wird es verlieren; wer aber das
Leben verliert um meinetwillen, der wird es erhalten. (Luk. 9,
23. 24.) In dieſen wenigen Worten liegt der Schlüſſel zum Ge⸗
heimniß der Unüberwindlichkeit, zum Sieg des Guten über alle
Macht des Schlechten. — Ergreife das Heilige, und vollbringe
es, unbekümmert um dich ſelbſt; folge dem Muſter Jeſu nach,
und verläugne dich ſelbſt. |
Verläugne dich ſelbſt; das heißt, wenn du etwas Rechtſchaf⸗
fenes zu thun weißt, etwas Wohlthätiges und Gemeinnütziges,
frage nicht erſt: welchen Vortheil werde ich davon haben? oder
was werden die Leute davon denken? Sondern, weil das Gött⸗
liche göttlich, das Rechte recht iſt, darum ſoll es geſchehen. Be⸗
rechne nicht zuvor den allfällig daraus fur dich erwachſenden
Schaden; nicht, ob du dir mächtige Perſonen dadurch zu Feinden
machſt; nicht, ob du Amt und Brod verlierſt; nicht, ob man dich
verſtoßen wird. Du ſollſt kein Anſehen, kein Vermögen, keine
Bequemlichkeit, keine Menſchenfurcht groß achten, ſondern nur
was recht und gut iſt. Du ſollſt bei dem, was recht iſt, nicht
auf dich ſelbſt, ſondern auf Jeſum und deine Pflichten ſehen, du
ſollſt ſelbſt das Leben verachten. Erſt wenn du das kannſt, biſt
du wahrer Chriſt, wahrer Nachfolger des Göttlichen! Wer keine
Furcht hat, Alles einzubüßen, den müſſen alle fürchten, die
nichts wagen und verlieren wollen. Er iſt ihr Beſteger. Denn
wer ſein Leben erhalten will, der wird es verlieren. Wer um ein
gemächliches, irdiſches Wohlbehagen dem höhern geiſtigen Leben
entſagt, der hat die Ewigkeit um einen Augenblick verkauft. Wer
aber fein Leben verliert um Jeſu willen, der wird es erhalten.
Wer ein nichtiges, flüchtiges Gut verachtet um des Heiligen
a
willen, der hat ein Staubförnchen verloren und eine beſſere Welt
erobert. Darum thue Recht und ſcheue Niemand.
Und ob du gleich leideſt, um der Gerechtigkeit willen, ſo biſt
du dennoch ſelig! Wer durch Verbrechen und Ranke Ehren und
Würden erworben hat, meinſt du, er könne ſich derſelben freuen?
Selbſt der gekrönte Sünder ſchaudert unter ſeinem Purpur vor
der Gewalt der Wahrheit und des Rechts und vor dem Augen⸗
blick der Vergeltung, der endlich Jedem erſcheint. Meinſt du,
wer durch Betrug, Meineid, Anmaßung fremden Eigenthums
und ſchimpfliche Hinterliſt großes Vermögen geſammelt hat, er
ſei ſelig in deſſen Beſitz? Nein, das Gold wird ihm gleichgültig,
aber nicht das Bewußtſein feiner Schändlichkeit, in der er es er⸗
worben hat. Gern möchte er Gott aus dem Weltall hinweg⸗
läugnen, um ſich ſelber zu beruhigen; aber nicht einmal den
Schmerz des Gewiſſens kann er aus ſeinem Herzen fortläugnen.
Seine Weine konnen ihn berauſchen, nicht ermuntern; fein Glanz
kann ihn blenden, nicht beglücken. Säheſt du den Sünder in
der Stunde ſeiner Verborgenheit und Einſamkeit, du würdeſt
um all ſein Gold nicht einen ſeiner ſchrecklichen Augenblicke an⸗
nehmen wollen.
Du aber, Gottesmenſch, ob du gleich leideſt um der Gerech⸗
tigkeit willen, wirſt dennoch ſelig ſein. Und verſtieße dich dein
Vaterland: o, dem Tugendhaften ſteht überall eine Heimath
offen. Und verlöreſt du die Gunſt derer, die Macht haben; ver⸗
löreſt du deine Aemter, Würden und angenehmen Verhaͤltniſſe:
was liegt an Ehren, die keiner Ehre werth ſind? Aber die Tu⸗
gend wird dir überall Bewunderer und Verehrer erwecken, und
eine Hochachtung, welche keine Obrigkeit, kein König ſich mit
aller Macht erzwingen kann. Und verlöreſt du, um der Gerech⸗
tigkeit willen, Hab und Gut und müßteſt in Armuth einhergehen,
und dein Brod auf fremder Erde ſuchen: o, das innere Hochge⸗
fühl würde dir den ärmlichen Biſſen zum ſchwelgeriſchen Gaſt⸗
mahl verwandeln; in deiner Dürftigkeit würdeſt du erhabener ſein,
als ein Weltgebieter. Du hätteſt Zufälligkeiten verloren, die
im:mmer das Spiel des Erdenglücks find, aber dich ſelbſt, dein
wahres Weſen gefunden; du wäreft arm, von Allem verlaſſen,
— m
aber dennoch ſelig. Freudig würdeſt du auf deinen Gott, 590
ſtolz jedem Menſchen ins Angeſicht ſchauen. Deine Sieger wür⸗
den die Geſchlagenen, du Verfolgter würdeſt der Triumphirer
ſein. Mit David würdeſt du in Zuverſicht ſagen: Gott erquicket
meine Seele; er führet mich auf rechter Straße, um ſeines
Namens willen. Und ob ich ſchon wandere im finſtern Thal,
fürchte ich kein Unglück, denn Du biſt bei mir; Dein Stecken
und Stab tröſtet mich. Du bereiteſt vor mir einen Tiſch gegen
meine Feinde. Du ſalbeſt mein Haupt mit Oel, und ſchenkeſt
mir voll ein. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein
Leben lang, und ich werde bleiben in der Wohnung meines ewigen
Vaters immerdar. (Pſalm 23, 2 — 6.) N
Wer nun iſt, der mir ſchaden könnte, wenn ich dem Guten
nachkomme? Und ob ich auch leide der Gerechtigkeit willen, ſo bin
ich doch ſelig. Darum will ich mich nicht vor ihrem Trotzen fürch⸗
ten, und nicht erſchrecken. Muth zur Tugend, o mein Herz!
Dem Rechtſchaffenen fehlt der Triumph nie. Zittere nicht, der
gerechten Sache wegen deinen Wohlſtand, dein Anſehen zu ver⸗
lieren, ſondern zittere für die gerechte Sache allein! Mußt du
nicht, ſei es nun einen Tag oder ein Jahr ſpäter oder früher,
deinen ganzen irdiſchen Beſitz hinterlaſſen, und nackt aus dem
Leben treten, wie du nackt hereintrateſt? Aber die Heiligkeit deiner
Sache bleibt, dem Gerechten folgen ſeine Werke nach. Zittere
nicht, mein Herz, wo es die Sache Gottes und der Menſchheit
angeht. Das Zittern iſt an den Böſen, an den Eigennützigen,
die für den Augenblick, für den Staub, für Metall, für den
Gaumenkitzel, für die Heuchelei falſcher Ehrerbietung leben, ohne
die Ahnung von einem höhern Gut, von Kleinodien des Geiſtes
zu haben, für welche das Leben abzuwerfen ein Spiel iſt.
Wo du, was recht iſt, erkennſt, verläugne dich ſelbſt, und
bekenne es unerſchrocken und ſtandhaft. Wo ein Bekenner der
Wahrheit redet, handelt wider die Falſchheit, ſtehe ihm bei; halte
mit ihm; dulde, leide, wie er; ſein Lohn vor Gott wird auch der
deinige ſein. Bekenne Jeſum, er wird auch dich einſt bekennen!
Biſt du der Juden König? fragte von feinem Richterſtuhl
herab Pilatus der Landpfleger den Meſſias, der im erhabenen
Stolz der Unſchuld vor ihm ſtand. Rings ſtand der geblendete,
wankelmüthige, lärmſüchtige Pöbel, rings die rachebrennende,
feige Schaar der Ankläger und Feinde der Wahrheit, der Tugend
Verleumder; fern ſtand Golgatha, die drohende Richtſtaͤtte; in
des Schwächlings Pilatus Blicken der Wunſch, den Edeln zu
retten, an welchem er keine Schuld fand; fern umher der ſchüch⸗
terne Haufe der Jünger, der weinenden Freunde. Biſt du der
Juden König? fragte Pilatus, und hoffte, eine der Welt übliche
Klugheit, ein feiges Nein, werde den erhabenen Beklagten retten.
Chriſtus Jeſus aber antwortete, und ſprach: Du ſagſt es!
O Gottes Sohn, o Heiland der Menſchheit! Für mich, auch
für mich haſt Du Dich der Schmach und dem Tode hingegeben.
Wie? ſollte ich nicht mit gleich göttlichem Muthe auch mich fortan
verlaͤugnen, wenn es darauf ankommt, Dich und die Tugend zu
bekennen? Vor weſſen Drohen ſollte ich denn erſchrecken, wenn
mir vor dem Weltrichter nicht bange iſt? Wer kann mir denn
Glück geben oder rauben? Wahrlich nicht Menſchengunſt oder
Menſchenhaß. Meine innere Seligkeit iſt doch wohl unabhaͤnigig
von Menſchenlaunen! Wer kann mir Ehre geben, oder Ehre
nehmen? Doch wohl nicht der Einfall eines Großen, die Ge—
wogenheit oder Ungnade eines Obern, oder das Urtheil des ge-
meinen, leichtgeführten Volkshaufens? Nein, meines Geiſtes
ewige Ehre iſt die Tugend, die vor Gott gilt. Meinen Leib kön—
nen ſie tödten, aber den Geiſt nicht. Das Recht verdrehen kön-
nen fie mit Bosheit, die Unſchuld verdächtigen in Feigheit;
aber mögen ſich die ſchwärzeſten Wetterwolken vor die Sonne
lagern, ſie können nicht deren Strahlen auslöſchen. Die Maje-
ſtät der Wahrheit ſtrahlt nach Jahrhunderten noch über den
Gräbern der Bekenner. s
7.
unterlaſſung des Guten.
Jak. 4, 17.
Wir fehlen Alle viel und ſehr,
Du Vater aller Seelen!
Ach, aller unſ'rer Sünden Heer,
Wer kann und will fie zählen?
Wie oft vergeſſen wir, o Gott,
Dich und Dein väterlich Gebot,
Die Würde unſers Lebens!
Wer kennt ſein Herz und ſchämt ſich nicht
Vor Deinem Angeſichte!
Wer ſcheut ſich nicht vor Deinem Licht,
Bebt nicht vor dem Gerichte,
Das, Herr, Herr, Deine Heiligkeit,
Dein Ernſt dem ſchlaffen Sünder dräut?
Wer kann vor Dir beſtehen?
Nicht Einer! — Dennoch fchoneft Du,
Und willſt nicht Tod, willſt Leben;
Schauſt uns mit Vater-Langmuth zu,
Und willſt ſo gern vergeben!
O Du, der ſchonen will und kann,
Wir beten Dich mit Thränen an,
Vergebender Erbarmer!
—
Wenn wir vom Werthe der Menſchen reden, von der Herzens⸗
güte unſerer nähern oder entferntern Bekannten, wie unſicher iſt
da nicht oft der Maßſtab, welchen wir waͤhlen! — Ja, ſelbſt
über unſern eigenen Werth haben wir nur zu oft die irrigſten
Begriffe, indem wir uns mit Andern vergleichen, die etwa dieſen
oder jenen Fehltritt begingen, und wo in uns, wenn gleich nicht
jener von Jeſu mit Recht getadelte Phariſäerſtolz, doch das Ge⸗
fühl auffteigt, in welchem wir ſagen möchten: Ich danke Dir,
Gott, daß ich nicht bin, wie dieſer da!
Gewöhnlich halten wir uns ſchon befugt, denjenigen für
ſchlechter gelten zu laſſen, der irgend eine That begangen hat, die
wir noch nicht begangen haben, auch wirklich bei unſerer gegen—
wärtigen Gemüthsſtimmung und Lage nicht begehen möchten,
oder in unſern wirklichen Verhaltniſſen nicht thun könnten. —
Sind wir darum beſſer, als der anerkannte Fehlbare?
er
Gewiß gibt es viele Menſchen, die in ihrer Art und in ihren
Umſtänden tugendhaftern Gemüths ſind, als wir, und doch durch
ein grobes Vergehen ſowohl die Verachtung ihrer Mitbürger auf
ſich ziehen, als auch obrigkeitliche Strafen verdienen können.
Theils durch Erziehung, theis durch ihr Temperament, theils
durch allerlei zuſammenwirkende Ereigniſſe werden ſie wider ihren
beſſern Willen zu Vergehungen geleitet, vor denen uns unſere
Erziehung, unſer Temperament, unſer Schickſal vollkommen
ſicher geſtellt hat. Sind wir darum beſſer, als fie? Haben wir
ſchon die gefaͤhrlichſte Stunde der Verſuchung erfahren, und glüd-
lich darin unſere Grundſätze gegen den Drang der Umſtände und
der ſtürmiſchen Leidenſchaften behauptet?
Mit wie hartherziger Liebloſigkeit wird oft die unglückliche
Uebereilung eines vom Zorn Ueberraſchten beurtheilt, der vielleicht
in einem ſchrecklichen Augenblick Mörder ward, und mit voll-
kommenem Recht von der Obrigkeit ergriffen und nach den Ge—
ſetzen beſtraft ward! Er ward Mörder, und doch konnte er, die
Verwahrloſung ſeines aufbrauſenden Gemüthes abgerechnet, einer
der beſten, wohlthätigften, liebreichſten, zu allem Guten ent⸗
ſchloſſenſten Menſchen ſein. Er ward nun allerdings der Be⸗
ſtrafung werth; nichts konnte ſeine abſcheuliche Handlung recht⸗
fertigen; ſeine herzliche Reue macht ſie nicht ungeſchehen. Allein
bin ich darum in der That ein beſſerer Menſch, als er, weil ich
noch keinen Todtſchlag auf dem Gewiſſen habe? — Darf ich mich
im Stillen meiner Kaltblütigkeit und Sanftmuth rühmen, da ich
vielleicht dieſe vermeinten Tugenden nur meiner perſönlichen Furcht⸗
ſamkeit, meiner natürlichen Schüchternheit und Traͤgheit zu
danken habe? | 3
Wie oft wird mit Schadenfreude oder ſtolz herabblickendem
Mitleiden der Fehltritt einer gefallenen Jungfrau beurtheilt, und
wie manche ihrer ſtrengen Richterinnen ſpricht mit ſchmeichelndem
Selbſtgefühle: Gottlob, daß ich nicht bin, wie dieſe da! —
Aber, o Richterin, jene Unglückliche, die du verachteſt, war viel⸗
leicht wahrhaft keuſchern Herzens, als du. Sie liebte die Tugend
vielleicht ernſter, inbrünſtiger, als du; ſie hatte vielleicht mit
ihrer Leidenſchaft ſchwerere Kämpfe beſtanden, als du — Kämpfe,
m.
die nur der Allwiſſende kannte, bis fie, getäuſcht, verführt, in
einem unglücklichen Augenblicke ſich ſelbſt und alles Heilige ver⸗
geſſend, ſank. — Zwar du, o ſtrenge Richterin deiner beklagens⸗
werthen Mitſchweſter, darfſt dich rühmen, noch keines ſo groben
Fehltritts ſchuldig zu ſein — aber war dies auch dein wirkliches
Verdienſt? Brachte dich dein Verhältniß jemals in ſo gefährliche
Stimmungen? War es immer deine Liebe zur Tugend, oder die
Furcht bloß vor Schande, oder ſelbſt der Mangel der Gelegenheit,
welcher dich rettete? Iſt dein Herz, iſt deine eee
immer unentweiht geblieben?
Wie Jeſus Chriſtus einſt, beim Anblick der ihm vorgeführten
Sünderin, ſtatt ſie zu verdammen, ausrief: Wer ſich keiner
Schuld bewußt iſt, werfe den erſten Stein auf fie! fo
ſollen auch wir noch heute oftmals in Rückſicht ſolcher Perſonen
denken, deren Fehltritte aus dem Verborgenen ans Tageslicht
kommen, während die Folgen der unſrigen verhüllt oder nur in
unſerm eigenen Gedächtniſſe vergraben bleiben. — Wir ſollen
uns ſelbſt noch nicht deswegen für vollkommener halten, weil wir
bisher noch nicht die Aufmerkſamkeit der Menſchen durch irgend
ein grobes, durch ſeine Wirkungen auffallendes Vergehen be⸗
ſchaͤftigten. |
Man nennt zwar im gemeinen Leben ſchon denjenigen ge⸗
wöhnlich einen guten Menſchen, eine Perſon von unbeſcholtenem
Wandel, welchem man eigentlich nichts Schlechtes oder Unan⸗
ſtändiges nachzuſagen weiß; und Viele bilden ſich wohl ein, ſchon
dadurch ein Verdienſt oder einen Anſpruch auf die Achtung ihrer
Mitbürger zu haben, daß ſich keiner derſelben über ſie zu be—
klagen hat. — Aber, iſt es denn ein Verdienſt, kein Verbrecher
zu ſein? — Sollen wir den Begüterten loben, daß er kein Dieb
und Räuber, den ſchwachen Greis, daß er kein Verführer der
Unſchuld, den Furchtſamen, daß er kein Todtſchläger und Zänker
iſt? — Wer darf mit frohem Herzen vor Gott treten, und ſich
ſeines Wohlgefallens freuen, der da nur zu ſagen weiß: ich habe
nicht betrogen, nicht verrathen; ich bin kein Trunkenbold, kein
Verleumder?! — — Sind denn Handlungen, die wir nicht bes
— 8 —
gangen haben, eine Handlung? Und können wir von der Saat,
die nicht geſäet worden iſt, Aernte verlangen.
Wahrlich, irret euch nicht, Gott läßt ſich nicht ſpotten! Wir
haben keineswegs den Beruf empfangen, das möglichſt wenige
Böſe zu ſtiften, ſondern das möglichſt viele Gute. Der Knecht,
der ſeines Herrn Willen weiß, und hat ſich nicht bereitet, auch
nicht nach ſeinem Willen gethan, der wird viele Streiche leiden
müſſen! ſpricht Chriſtus. (Luk. 12, 47.) Schon das iſt Ver⸗
brechen, eine Tugend, die wir Gelegenheit hatten, auszuüben,
unterlaſſen zu haben. Denn wer da weiß Gutes zu thun,
und thut es nicht, dem iſt es Sünde! (Jak. 4, 17.)
Die meiſten Sterblichen, nur auf irdiſche Vortheile für ihr
Haus, für ihre Bequemlichkeiten, für ihre Ergöoͤtzlichkeiten be⸗
dacht, leben in mittelmäßiger Gemeinheit des Sinnes hin. Nie⸗
mand kann ſie ſchelten, aber loben kann ſie ihr eigenes Gewiſſen
nicht. Sie ſind viel zu träge und ſchüchtern, das Böfe zu thun,
aber auch eben jo träge und ſchüchtern für das Gute. Sie
wähnen Alles vollbracht zu haben, wenn fie irgend ein Werk der
Liebe vollbringen helfen, wozu ſie ſich aus Temperament oder
Langeweile, oder aus Begierde entſchloſſen, bei den Leuten einiges
Anſehen zu bekommen. — Ach, dieſes iſt keine Tugend! — Sie
ſind Sünder und verächtliche Weſen, weil ſie jede Kraftanſtrengung
ſcheuten, und nur thaten, was fie aus mancherlei Urſachen nicht
wohl laſſen konnten.
Wer da weiß, Gutes zu thun, — thut es nicht, dem iſt es
Sande, ruft Gottes Wort.
Sobald der Menſch den Jahren der Unmänbigfeit entwachſen
f if, kennt er den Inbegriff ſeiner Pflichten. Und hätte kein Vater,
keine Mutter, kein Lehrer ihm die Pflichten gegen Gott und
Menſchen und Thiere mitgetheilt: eine innere Stimme würde in
ihm erwachen, und ihm nennen, was Recht und Unrecht ſei. —
Gehe hin in die entfernteſten Weltgegenden, wo noch Menſchen
wohnen: bei aller ihrer Rohheit wirſt du in ihnen das Gefühl
deſſen finden, was gut und böſe iſt. Denn die Gottheit offen⸗
bart ſich in aller Sterblichen Vernunft und Herzen alſo, daß
Niemand eine Entſchuldigung für ſich hat.
— u —
Am wenigſten hat ſie der Chriſt. Was dem Wilden in
ſeinem Heidenthume nur noch dunkel vorſchweben mag, das hat
Jeſus in glänzender Klarheit vor uns aufgeſtellt. Wir kennen
ſeine Worte, in welchen er den heiligen Willen unſers Schöpfers
offenbarte; wir kennen ſein Leben voller Unſchuld, Gerechtigkeit,
Liebe und Selbſtaufopferung für Menſchenwohl; es iſt ein heller
Spiegel, in welchen wir ſehen ſollen. Wie mögen wir uns mit
Unwiſſenheit entſchuldigen, wenn wir nicht ſo viel Gutes auf
Erden ſtiften, als wir Gelegenheit dazu haben?
Auch kann wahrlich Niemand mit Gerechtigkeit die Klage
führen, daß es ihm an Anläſſen fehle, unter ſeinen Mitmenſchen
nützlich und verdienſtvoll durch wohlthuende Handlungen zu wer⸗
den. Denn jeder Tag bietet uns dazu mancherlei Stoff dar;
hätten wir nur Muth, nur Willen genug, ihn zu ergreifen.
Es iſt wahr, nicht alles das Gute, das wir gern bewirken
möchten, können wir ausführen. Aber hüten wir uns, nur gern
auf das, was außer unſrer Macht liegt, hinzublicken, und darüber
das geringere Gute zu verfäumen, welches wir in der Nähe und
mit geringen Mitteln ſtiften können! — Doch iſt dies ein ge⸗
wöhnlicher Fehler bei Vielen, daß ſie immer über den ihnen an⸗
gewieſenen Geſchäftskreis hinweg in die Ferne ſehen, und ſich
beklagen, außer Stand zu ſein, dieſes oder jenes wohlthätige
Unternehmen auszuführen, weil ihnen ihre Lage es nicht erlaubt;
oder nicht an der Stelle dieſer oder jener Perſon zu ſein, wo ſie
dann gewiß nützlicher und wirkſamer, als eben dieſe, ſein würden.
Nein, ſehet doch nur anf eure eigenen Verhältniſſe; fie find
weitläufig genug, ein großer Spielraum eurer Frömmigkeit und
Tugend zu fein! — Sprich doch nicht: hätte ich ſo viel Ver⸗
mögen, wie Dieſer oder Jener, ich würde gewiß edlern Gebrauch
davon machen! Warum machſt du denn nicht von deinem ge—
ringern Vermögen die edelſte Anwendung? Haſt du nicht ſo viel,
daß du ohne deinen und deiner Familie Nachtheil davon Großes
entbehren kannſt: warum entbehrſt du denn nicht zum Troſt des
Leidenden wenigſtens das Geringe, ſondern verwendeſt es lieber
zur Vermehrung deiner Bequemlichkeiten, zur Verdoppelung
deiner Luſtbarkeiten, zur beſſern Reizung deines Gaumens mit
ia
Getränken und Speiſen wohlſchmeckender Art? Und biſt du jo
dürftig, daß du endlich auch das Geringe nicht mehr entbehren
kannſt: beſitzeſt du nicht die Gabe zu reden? haſt du nicht einige
wohlhabendere Bekanntſchaften, die du um Beiſtand für hilfs⸗
bedürftige Familien anſprechen könnteſt? Es iſt ja immer leichter,
ein Wort für Andere zu reden, als für ſich ſelber.
Sprich doch nicht: hätte ich die Gewalt großer Fürſten, ich
würde der ganzen Welt den lang entbehrten Frieden geben, Wohl⸗
ſein, Liebe, Eintracht unter allen Völkern herſtellen! Warum
vollbringſt du denn das löbliche Werk nicht in deinen eigenen Ver⸗
hältniſſen? Warum ſtifteſt du denn keinen Frieden mit deinen
eigenen Feinden? Warum weigerſt du dich denn ſo ſtolz, dem die
Hand der Verſöhnung zu bieten, der dich beleidigt hat? Warum
meideſt du denn nicht die Verſuchung zu ſchadenfrohen Spötte⸗
leien über fremde Gebrechen, und erzeugſt damit Erbitterung?
Warum biſt du denn ſchwach genug, wenn du Böͤſes von deinen
Nebenmenſchen reden hörſt, zu ſchweigen; oder ſchwach genug,
wenn Entzweiung unter deinen Bekannten iſt, ſtatt die Mißver⸗
ſtändniſſe zu heben, ſie zu dulden mit Gleichgültigkeit; ſtatt die
Erzürnten zur gegenſeitigen Nachgiebigkeit und Verzeihung ge—
neigt zu machen, ſie wohl gar durch Beiſtimmung in ihren harten
Urtheilen zu verhärten, oder durch Jwiſchentragertt die Feind⸗
ſchaft zu vergrößern?
Sprich doch nicht: hätte ich dieſen oder jenen Beruf gewählt,
bekleidete ich dieſes oder jenes Amt, wie thätig, wie unermüdet,
wie nützlich wollte ich fein; aber in meinem Berufe bin ich ge⸗
lähmt, und leiſte nicht den tauſendſten Theil deſſen, wozu ich die
vortrefflichſten Anlagen in mir fühle! — Warum biſt du denn,
mit allen deinen Anlagen, nicht in deinen engern Geſchäften der
Vortrefflichſte von Deinesgleichen? Warum beweiſeſt du nicht
dadurch, daß du eines größern Wirkungskreiſes würdig wäreft,
indem du deinen gegenwärtigen Platz ganz ausfüllſt? Wer nicht
mit dem kleinen Pfunde zu wuchern verſteht, wie ſoll man den
über Vieles ſetzen? — Biſt du aber in deinem Gewerbe und Be⸗
ruf einmal der Vortrefflichſte in deiner Art: wie leicht wird es
a
dir dann werden, deine nützliche Thaͤtigkeit auch weit darüber hin⸗
aus auszudehnen!
Siehe, dies iſt die Unterlaſſung des Guten, das du kennſt
und vollbringen könnteſt; dies iſt deine Sünde!
Es gibt keinen Menſchen, der nicht jeden Tag wenigſtens
einen Anlaß fände, Gutes zu thun; ſelbſt dem dürftigſten Bett⸗
ler an der Straße fehlt dazu die Gelegenheit nicht. Doch um
dieſe Gelegenheiten zu erblicken, muß man ſie nur erblicken
wollen. Aber dazu gebricht es an Neigung. Siehe, dies iſt
Unterlaſſung des Guten. Klage nicht die Vorſehung an, daß
ſie dich in keine Umſtände verſetzt, in denen du deine Tugend er⸗
ſcheinen laſſen könnteſt — klage deine Trägheit an, welche dich
hindert, die Augen aufzuſchließen, um zu ſehen, was in e
Nähe liegt.
Nicht Gelegenheit zum Guten, ideen das erſte Talent zum
Guten fehlt dir, nämlich ungeheuchelte Menſchenliebe und
Dienſtgefälligkeit. Wer dieſe beſitzt, der weiß erfinderiſch
Jedem, mit dem er in Berührung kommt, irgend etwas Liebes
zu erweiſen, und ſelbſt Anweſenden und Entfernten nützlich zu
ſein; der weiß immer etwas von ſeinen Erſparniſſen zu erübrigen,
womit er Andern helfen oder gemeinnützigen Unternehmungen
beiſtehen kann; der hat, wenn auch nicht immer Geld, doch hier
ein gutes Wort, da einen zweckmäßigen Rath, dort einen Troſt.
Frage dich nur nach einem vollbrachten Tagewerk in der
Abendſtille: haft du alles das Gute gethan, was du eigentlich
hätteſt thun können? Haft vu die kleinen Anläffe vortheilhaft be⸗
nutzt, wo du in deiner Tugend leben konnteſt? — Und wenn ſich
dein Gedachtniß keiner Gelegenheit dazu erinnert, dann lege dir
noch die einzige Frage vor: und was würdeſt du wohl gethan
haben, wenn du ein Muſter wohlwollender Menſchenliebe und
Dienſtgefälligkeit hätteft fein wollen? Dein Gewiſſen wird dir
in ſtillem Nachdenken antworten, wird dir ſagen: und du haſt
es nicht gethan! Wer da aber weiß, Gutes zu thun, und thut
es nicht, dem iſt es Sünde.
Die Schuld der Unterlaffung guter Handlungen wird um fo
größer vor Gott, dem Richter unſers Werthes, um ſo größer vor
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unſerm eigenen Bewußtſein, je leichter es uns war, jenes zu
thun. — Unzähliges aber geſchieht nicht, ob es gleich Kleinig⸗
keit geweſen fein würde, es zu vollbringen. Denn nicht nur hat
jeder Sterbliche die Erkenntniß deſſen, was recht iſt, ſondern Jeg⸗
licher hat beſondere und ausgezeichnete Anlagen, der Eine zu
dieſer, der Andere zu jener Tugend.
Wer von der Natur weichmüthig und gefühlvoll iſt, dem
koſtet es wenig Ueberwindung, gegen Unglückliche die ſchöne Pflicht
des Mitleids in That und Wort zu üben. Warum pflegte er
dieſen göttlichen Trieb ſeines Herzens nicht? Warum that er ſich
ſogar Gewalt an, ihn nicht allzulaut werden zu laſſen? Ach,
da hindert ihn bald Eitelkeit und Furcht vor dem, was die Leute
ſagen würden, irgend ein Werk ſchöner Barmherzigkeit zu üben;
bald hindert ihn Hang zur Gemächlichkeit, in die Wohnungen
der Unglücklichen zu gehen, von denen er hörte, oder ſich genauer
von ihren Umſtänden zu unterrichten, und wie ihnen am beſten
zu helfen wäre; bald unverzeihlicher Leichtſinn; bald Prachtluſt,
für die mancherlei Ausgaben zu machen waren.
Wer von Natur muthigen, entſchloſſenen Herzens iſt, dem
koſtet es wenig, ſich des Unterdrückten anzunehmen. Und warum
that er, der von Natur allem Unrecht feind iſt, dieſem edeln Sinne
kein Genüge? Ach, da war der Eigennutz, welcher ihn gegen
ſeine beſſern Wünſche nöthigte, ſtumm zu bleiben; da waren
allerlei Rückſichten gegen Perſonen, welchen man ſich beliebt
machen möchte, die ihn bewogen, das Ungerade für gerade gelten
zu laſſen. i
Wer Anſehen und Einfluß auf Denkart und Willen ſeiner
Mitbürger hat, dem iſt es ein Leichtes, unzähliges Gute auf die
Bahn zu bringen, oder zu befördern, was Andern bei aller An⸗
ſtrengung ihrer Kräfte ſchwer zu verrichten wird. Oft genügt
nur ein bloßes Beifallgeben, ein einziges aufmunterndes Wort,
um das Nützliche vollzogen zu ſehen. — Warum ſprach er das
Wort nicht aus? — Ach, weil ihm die Sache am Ende ſehr
gleichgültig war, und er ſich nur nicht die Mühe geben wollte,
ihren Werth zu bedenken; oder weil ſeine Bequemlichkeit ſich mit
der Gegenfrage entſchuldigte: warum ſoll ich mich in Alles miſchen,
a
was mich nicht unmittelbar angeht? Oder weil die Rede von
Dingen war, die nur fremde Perſonen, eine fremde Stadt, ein
fremdes Dorf und deren Nutzen betrafen.
Doppelt ſchwere Verantwortlichkeit haftet auf deſſen Seele,
der das Gute unterläßt, nicht nur wo ihn die Gelegenheit dazu
auffordert, ſondern wo ihm ſelbſt ſeine angebornen Neigungen
und die Mittel es leicht machten, welche in ſeiner Gewalt ſtanden.
Hier iſt die höhere Pflichtvergeſſenheit offenbar die Wirkung eines
ſchon in ihm mächtig gewordenen entgegengeſetzten Laſters, es
heiße daſſelbe nun Eigennutz, Selbſtſucht, Neid, Stolz oder
ſchlaffe Trägheit, Leichtſinn, Unachtſamkeit.
Du liebſt die, die dich lieben, die dir ſchmeicheln; du thuſt
denen wohl, von denen du Gefälligkeiten erwarten kannſt — was
iſt dies nun mehr? Dies thun auch die Heiden, ſo thun auch die
Thiere. Jeſus Chriſtus nannte die erhabenern Pflichten — ent⸗
ziehſt du dich ihnen: o ſo glaube nicht an einen wirklich vorhan⸗
denen Werth deines Herzens. — Du begehſt keine Verbrechen;
betrügſt, verleumdeſt, übervortheilſt, verfolgſt deine Nebenmen⸗
ſchen nicht — aber was haſt du damit mehr gethan? Alles dies
thut auch der todte Stein nicht, den du mit Füßen trittſt.
Wie arm ſtehſt du da, Sterblicher, wenn deine unſterbliche
Seele, gerüftet mit großen Anlagen für ein ewiges, beſſeres Da⸗
ſein, ausgerüſtet mit Erkenntniß des Wahren und Falſchen, aus⸗
gerüſtet mit einem kräftigen Willen, ſich einſt keiner andern Vor⸗
züge zu rühmen weiß, als rein geblieben zu ſein von groben
Verbrechen! Darf der gefühlloſe Stein höhere Seligkeit an⸗
ſprechen, und der träge Knecht, welcher ſein Pfund in die Erde
vergrub, die Hoffnung faſſen, einſt über Mehreres geſetzt zu wer⸗
den, denn hienieden?
Wie arm ſtehſt du da, Unglücklicher, im fürchterlichen Selbſt⸗
betrug! Denn du wähnſt dich, wenn auch nicht mit Tugend ge=
ſchmückt, doch rein von ſchweren Vergehen — ſiehe, deine tauſend
Unterlaffungen des Guten find deine tauſend Sünden, welche
dich zur Verantwortung rufen. Es ſchlägt einſt die ernſte Stunde,
da du ſchaudern wirſt vor deiner Gleichgültigkeit gegen zahlloſes
Gute, was nun ungeſchehen blieb. Denn Gleichgültigkeit gegen
a
eine Tugend, die wir üben können, iſt Gleichgültigkeit gegen die
Ewigkeit, die uns richten wird — iſt Gleichgültigkeit gegen den
Allerheiligſten. Jede Gelegenheit zum Guten, welche wir wahr⸗
nehmen, iſt gleichſam eine Einladung Gottes an unſer Herz, es
ihm zu weihen; die Bitte unſers guten Engels, göttlicher zu
werden. 8
Und wie ſtehe ich da, o himmliſcher Vater, vor Dir!
Wehe, wenn meine Tage und Stunden mir vorgerechnet, und
mir die Verſäumungen guter Thaten vorgezaͤhlt werden, wie mag
ich beſtehen? Und fo groß auch Deine Gnade iſt: welche An-
ſprüche und Hoffnungen kann ich auf eine heitere Ewigkeit, auf
ein vollendeteres Daſein haben, da ich fie — ach! nur zu oft,
verſcherzte? |
Ich erkenne vor Dir meine Schwäche, meine Schuld. Ja,
ich bin Sünder, größerer Sünder, als ich oft zu ſein mir ein-
bildete. Meine Unterlaſſungen ſind meine Verbrechen, die mich
drücken, und rechtfertigen kann ich ſie nicht vor Dir.
Doch ich lebe noch! — Gott, barmherziger Gott, Deine Lang-
muth hat mich Unwürdigen noch nicht verlaſſen. Ich lebe noch;
ſehe noch eine Reihe von Tagen vor mir, da ich mehr als un⸗
fruchtbare Reue, nein, da ich die Kraft eines tugendhaftern, Dir
wohlgefälligern Willens zeigen kann. Ich lebe noch, und ſehe
freudig den Augenblicken entgegen, die mir Gelegenheit geben zu
Geſinnungen, Worten, Thaten, welche zur Vermehrung allge⸗
meiner Glückſeligkeit beitragen. O Vater, Du forderſt nichts,
was die Kräfte Deiner Kinder überſteigt, ach, warum ſollte ich
nun nicht gern leiſten, was die Krafte vermögen? — O vergib,
Barmherziger, vergib mir meine Unterlaffungen; Vater, vergib
uns unſere Schulden! Amen.
S.
Richtigere Beurtheilung unferer
Gemüths bewegungen.
Joh. 2, 14 — 17.
Selbſtüberwindung fordert Muth!
Es gilt den Kampf ums höchſte Gut!
Wer iſt ein Chriſt und gleicht nicht gern
Den Märtirern,
Nicht gern auch Chriſto, ſeinem Herrn?
Wo iſt der Held, den je im Streit,
So ſchwer er war, die Mühe reut?
Wenn er nur kämpfte wie ein Mann,
Das Feld gewann,
Und ſeines Sieges froh ſein kann.
Hilf, Todesüberwinder, mir,
Ich halte, Chriſtus, feſt an Dir!
Nur Menſch zu ſein, iſt Menſchenpflicht,
Mehr will ich nicht.
Dem Seraph ſtrahlt ein andres Licht.
Wenn ein guter Menſch zuweilen beim Anblick der Ungerechtig⸗
keit zum Zorn und Unwillen aufflammt, oder ſich dem Ungeſtüm
der Freude bei fröhlichen Anläſſen hingibt, oder von der Furcht
gefoltert, die ein Mangel des Vertrauens auf göttliche Vorſehung
zu ſein ſcheint, oder von andern dergleichen lebhaften Gefühlen
überrafcht wird: geſchieht es nicht ſelten, daß Andere, die vielleicht
von Natur weniger lebhaft und reizbar find, ihn tadeln. Es
geſchieht nicht ſelten, daß eben ſolche an ſich gute, aber allzu⸗
ängftliche Menſchen ſich deswegen ſelber mit Vorwuͤrfen beſtür⸗
men, ſich vor Gott anklagen, und die Aufwallungen ihres ae
müths als eben fo große Sünden bitterlich bereuen.
Ihrer Viele ſind geweſen, die deshalb ſich von der Welt zu⸗
rückgezogen haben, um weniger zu Zorn und Freude, heftigem
Schmerz oder Verdruß hingeriſſen zu werden. Sie gingen in
Einſamkeiten, in Flöfterliche Zellen, oder führten in der Mitte
großer Staͤdte ein abgeſchiedenes Leben. Andere wieder, welche
jene Aufwallungen nicht weniger für ſuͤndlich hielten, traten recht
mit Abſicht in das Gewühl des Lebens hinein, oder vermieden
„ AT ae
wenigſtens die Gelegenheit, durch welche ihre Gefühle aufgeftört
werden könnten, um dann ſie deſto heldenmüthiger zu beſiegen,
ſich gegen Unmuth und Fröhlichkeit, gegen Furcht, Schrecken und
Zorn zu ſtärken oder unempfindlich zu machen. Noch andere
hielten alle lebhaften Aufwallungen der Sinnlichkeit für natür⸗
liche Verderbtheit des Menſchen, und nach manchem vergeblichen
Kampfe dawider ſich unfähig, jemals fromm und der göttlichen
Gnade würdig zu werden. N
Warum rede ich von vergangenen Zeiten? Es iſt noch heu⸗
tiges Tages ſo. Es ſind viele Chriſten, welche eben darein
den höchſten Triumph des Chriſtenthums ſetzen, daß ſie alle
Lebhaftigkeit der Gefühle unterdrückt wiſſen wollen, und es für
ſtrafbar halten, von denſelben überraſcht zu werden.
Iſt denn aber eine ſtarke Gemüthsbewegung Sünde? Will
denn Gott, daß wir uns ſelber in einem ſolchen Grade abſterben,
daß wir gegen Schmerz und Fröhlichkeit, Luft und Unmuth uns
empfindlich werden? Bin ich verdammungswürdig, wenn ich
über das, was ſchändlich iſt, iu Zorn und Mißmuth gerathe?
oder wenn ich an der Heiterkeit meiner Freunde Theil nehme,
mit ihnen ſcherze und lache, zum Tanz und Schauſpiel gehe, und
Vergnügen an geſelligen Luſtbarkeiten nehme? Iſt es Gottes
Gebot, daß ich meine ganze Lebenszeit in ununterbrochener kalter
Gelaſſenheit bleibe, oder wohl gar in einem trüben, ſtets auf ſich
ſelbſt zurückdenkenden Ernſt zubringe?
O gewiß nicht. Hier iſt ein Irrthum! Es kann auch wohl
eine allzuweit getriebene Gewiſſenhaftigkeit geben, die mich mit
Vorwürfen beſtürmt, wo ich fie doch nicht verdiene. Denn wären
mehr oder weniger lebhafte Gemüthsbewegungen Sünde: ſo haͤtte
Gott mir ſie nicht ſelber gegeben. Die größere oder geringere
Reizbarkeit der Empfindungen hängt offenbar von der eigenen
Beſchaffenheit unſers Temperaments ab. Das Temperament
aber iſt nicht unſer eigenes Werk.
Wären ſehr lebhafte Gemüthsbewegungen an ſich tadelhaft:
ſo müßte auch eine ſehr lebhafte Einbildungskraft, ein allzutreues
Gedaͤchtniß ſündlich fein. Denn das Gedaͤchtniß, wie die Ein⸗
bildungskraft, verleiten eben jo leicht zu böſen Werken, als die
3
gereizten Gefühle. Wie ſollte ich mir alsdann erklaren, daß
Gott den einen Menſchen ſchon von Natur beſſer, den andern
ſchlechter geboren werden ließ? Ich kenne Leute, die ſo trägen
Gemüthes ſind, daß ſie immer kalten Blutes bleiben, und durch
nichts leicht in Zorn gerathen; weder ungemein fröhlich, noch
ungemein traurig werden können. Iſt denn das Greiſenalter
darum frommer oder löblicher, weil es weniger Hang zu ſinnlichen
Ergötzungen hat, für welche ihm die Neigung fehlt, weil es an
Nerven und Kräften ſtumpfer geworden? Iſt denn Jüngling
und Mädchen, oder Mann und Weib in den beſten Lebensjahren
zu tadeln, weil hier mehr Fülle der Kraft und mächtigere Be⸗
gierde iſt?
Der Gegenſtand iſt wichtig genug, daß ich darüber nach⸗
denke. Es iſt für meine eigene Ruhe erforderlich, daß ich mir
deutliche Vorſtellungen verſchaffe über Sündlichkeit oder Unſünd⸗
lichkeit gewiſſer Aufloderungen des Gefühls; ob ich, um fromm
und gottgefällig zu ſein, alles Regewerden meiner Sinnlichkeit
unterdrücken müſſe.
Schon die Vernunft ſagt mir, daß dies nicht ſein ſolle und
könne. Aber doch behaupten es die ſtrengen Eiferer und Sitten⸗
lehrer. Oft wird es mir ſogar von Kanzeln gepredigt, mein
Fleiſch ſammt den Lüſten und Begierden zu kreuzigen, abzutödten
in ſolchem Maße, daß ich allen Freuden dieſes Lebens entſagen
müſſe.
Blicke ich hingegen auf den Göttlichen, der ihr Lehrer und
auch der meinige iſt, auf Jeſum Chriſtum, den heiligſten und
unſchuldigſten der Menſchen: ſo überzeuge ich mich vom Gegen⸗
theil; auch er war keineswegs von den lebhafteſten Bewegungen
des Gemüthes frei. Schrecken, Zorn, Furcht, Angſt, Fröhlich⸗
keit, Luſt an ſinnlichen Ergötzungen, waren ihm gar nicht fremd,
und er unterdrückte dieſe unwillkürlichen Neigungen nicht.
Es wird erzählt, wie er in heftigen Unwillen gerieth, da er
im Tempel von Jeruſalem die Wechsler ſitzen ſah, und die, welche
Ochſen, Schafe, Tauben zu Opferungen feil hatten. Er machte
eine Geißel aus Stricken, trieb fie alle hinaus, und verſchüttete
den Wechslern das Geld, und ſtieß die Tiſche um, indem er ſagte:
— TE
Machet nicht meines Vaters Haus zum Kaufhauſe! (Joh. 2,
14— 16.) Dieſe Stelle aus dem Leben Jeſu hat mich oft ernſt
beſchäftigt. Sind die Aufwallungen des Zorns an ſich eine Sünde
vor Gott, wie hätte ſie Jeſus in ſich dulden können? Und doch
bereuete er ſie nicht. Daß er mit Zorn gehandelt habe, iſt nicht
zuläugnen. Mehrmals gerieth er in Eifer. Ja, es wird ausdrück⸗
lich in der heiligen Schrift geſagt, wie er einſt, da die Phariſäer
ihm zum Verbrechen machen wollten, wenn er am Sabbath Men⸗
ſchen heilen würde, da ſich feines Unwillens nicht erwehrte: er
ſah fie umher an mit Zorn. (Marci 3, 5.)
Zu andern Zeiten war er der tiefſten Betrübniß hingegeben.
Ja, wir wiſſen, daß er in jener bangen Nacht am Oelberge be⸗
trübt war bis in den Tod, und ſo ſehr von Angſt und Furcht
und Kummer überwältigt, daß ſein Schweiß wie Blutstropfen
ward, die auf die Erde fielen. (Luk. 22, 44.) Er war Theilneh⸗
mer an geſelligen Freuden und fröhlich mit den Froͤhlichen. Da
es an der Hochzeit zu Kana an Wein gebrach, die Geſellſchaft zu
beleben, war er es, der es ſeiner nicht unwürdig achtete, mit
wunderbarer Kraft das Mangelnde zu ſchaffen. Er verſchmaͤhte
keineswegs die angenehmen Genüſſe der Sinnlichkeit, und ließ
ſich gefallen, daß fein Haupt mit wohlriechendem, köſtlichen Oelen,
nach der Weiſe des Morgenlandes, geſalbt wurde. Er wußte
ſehr gut, daß es damals, wie heute, mürriſche Eiferer gab, die
da meinten, um ein heiliges Leben zu führen, müſſe man arm
und ſtrenge leben, nur mit ſchlechter Nahrung und geringer Klei⸗
dung vorlieb nehmen, und ſich mit den haͤrteſten Entſagungen
quälen. Dennoch that er es nicht. Er ging wohl öfters zu den
reichen und verhaßten roͤmiſchen Zollwächtern zu Tiſch, und ver⸗
achtete den Tadel derer, denen Alles unrecht iſt, man mache es,
wie man wolle. Johannes iſt gekommen, ſprach er, und führte
das allerenthaltſamſte Leben, aß nicht und trank nicht. Da ſagten
ſie: Er hat den Teufel. Nun iſt des Menſchen Sohn gekommen,
ißt und trinkt. Siehe, ſagen ſie, wie iſt der Menſch ein Freſſer
und ein Weinſäufer, Geſellſchafter von Zöllnern und Sündern!
(Matth. 11, 18. 19.)
So iſt denn offenbar, daß weder das Grünen, noch das
— 68 — *
Bekümmern, weder die Luſtigkeit, noch die Traurigkeit, weder
das Wohlgefallen an ſinnlichen Genüſſen, noch die Ungeduld,
noch die Sehnſucht, noch irgend eine von allen andern Gemüths⸗
bewegungen an ſich ſtrafbar ſind; daß ich irre, wenn ich es mir
vorwerfe, ſie nicht unterdrücken und tödten zu können; daß ich
dies ſogar nicht verlangen ſoll, weil es etwas Unnatürliches und
am Ende ſogar Unmögliches wäre; daß diejenigen zu weit gehen,
welche fordern, der Menſch müſſe beſtändig kalten Blutes bleiben,
und dem Leibe ſo wenig Ehre anthun als möglich.
Aber Alles hat ſein Maß! Wann hören unſere Gemüths⸗
bewegungen auf, unſchuldig zu fein? Wie lange find fie
nicht nur unſchuldig, ſondern ſogar löblich?
Sie ſind löblich, ſo lange ſie unſere Begierde zu dem,
was recht und gut iſt, unterſtützen und erheben. Ohne
Lebhaftigkeit der Gefühle kann kaum etwas Gutes mit gehörigem
Nachdruck ausgeführt werden. Ja, auch Chriſtus gerieth in Zorn,
aber nicht aus Neid und Scheelſucht, nicht aus Noth oder Hab⸗
ſucht, nicht für ſeinen Eigennutz, ſondern für die Sache Gottes.
Ihn empörte die Falſchheit der Menſchen; ihre Niederträchtigkeit,
ihre Heuchelei. Ihn erzürnte die Unehrerbietigkeit gegen Gott.
Darum trieb er die Geldwechsler und Opferverkäufer aus dem
Tempel; darum ſchalt er die ſcheinheilige Großthuerei der Pha⸗
riſaͤer. Wer das Gute will, kann es nicht ohne eine gewiſſe Be⸗
geiſterung vollſtrecken. Es muß eine Erhöhung aller unſerer
Gefühle eintreten, um uns gegen Hinderniſſe zu ftärfen, und
Gefahren verächtlich zu machen. Die Gefühle ſind gleichſam der
Wind und das Segel unſers Willens. Wer bei Schandthaten,
deren Zeuge er fein muß, kaltblütig fein kann; wer gelaſſen zu—
ſehen kann, wie man einen Schuldloſen verdammt, einen offen-
baren Böſewicht ſchmeichelt und begünſtigt, vielleicht weil er reich
und von guter Herkunft iſt; wer gleichgültig bei fremder Noth,
oder bei Gefahren des Vaterlandes, oder bei verbrecheriſchen An—
ſchlaͤgen fein kann: verdient er wohl den Namen des Tugend»
haften? Iſt er ſelbſt wohl großer Edelthaten fähig? Könnte der
ſich für irgend eine heilige Sache aufopfern® Vermögen, Ehre
und Leben dafür hingeben?
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So tadle und verdamme denn Niemand die Aufwallungen
eines edeln Zorns und Unwillens; ſo mache ſich denn Niemand
Vorwürfe, wenn er ſeinen Abſcheu gegen Ungerechtigkeiten laut
werden ließ. Iſt es die Tugend ſelbſt, welche die Flamme des
Gemüths entzündet, ſo lodert ſie rein.
Löblich iſt die Freude. Seid fröhlich mit den Froͤhlichen und
mit den Weinenden weinet! ruft uns das göttliche Wort felber
zu. (Röm. 12, 15.) Wer nicht innigen Antheil am Glück der
Frohſinnigen nehmen kann, der iſt auch wohl ſelten aufgelegt,
ſich Unglücklichen mit gänzlicher Hingebung zu weihen. Welche
Sünde iſt ein Spiel, welches das Herz vergnügt? Wo iſt das
Wohlgefallen am Schönen verdammt, es entwickele ſich in Be⸗
trachtung der Natur, oder der Kunſtwerke, in den Bewegungen
des Tanzes, oder in den Klängen der Muſik? Wer will das durch
Witz und Scherz belebte Gaſtmahl, wer die höhern Stimmungen
zur Freude durch den mäßigen Genuß des Weins verdammen?
Es iſt Scheinheiligkeit, froͤmmelnde Ziererei oder übertriebene
Gewiſſenhaftigkeit, ſich davon auszuſchließen, und den als ein
Weltkind zu verſchreien, welcher daran Theil zu nehmen nicht
verſchmäht. Auch Jeſus Chriſtus, mein Heiland, mein Erlöſer,
fehlte bei vergnügenden Gaſtmählern nicht. Er ſelber ſchuf den
Wein zu Kana, um die freudige Stimmung der Anweſenden zu
erhöhen. Er wollte nicht, daß der Menſch finſter, ungeſellig und
mürriſch, in übermäßiger Strenge und Enthaltſamkeit ſich die
Welt Gottes zum Kerker, das Leben zur Folter mache.
Gemüthsbewegungen find dann erſt fündlich, wenn fie ſich
mit unerlaubten Begierden vereinigen und dieſelben
ſtärken. Sie ſind an ſich ſelber zwar weder gut noch böfe, aber
ſie werden es, je nachdem ſie in den Dienſt des Rechts oder Un⸗
rechts treten. Die boshafte Schadenfreude iſt nicht die Freude
des Redlichen. Der Zorn der Rachſucht, die Erbitterung gekränk⸗
ter Citelkeit, das Feuer der Eiferſucht iſt nicht der heilige Zorn
des Chriſten gegen Ungerechtigkeit, nicht der edle Eifer wider
Sittenloſigkeit, nicht der empörte Unwille gegen Schamloſigkeit
der Frevler. Die Sucht zu alltäglicher Schwelgerei und Zer⸗
ſtreuung, die Unmäßigkeit des Trunkenbolds, die Begierde zur
Löſchung wilder Triebe der Ueppigkeit, die Luft an Ueberſchrei⸗
tung alles Wohlanſtändigen, iſt nicht die harmloſe Luſt des Edeln
an muntern Scherzen, an vergnügenden unſchädlichen Ergötzun⸗
gen, an Erheiterungen jeder Art, denen keine Reue folgt.
So lange wir alſo, auch bei aller Heftigkeit unſerer Gemüths⸗
bewegungen, eigentlich nichts Böſes wollen, oder kein Wohl⸗
gefallen an dem finden, was ſchlecht und unedel iſt: haben wir
uns weder unſere Luſtigkeit noch unſern Verdruß, weder unſern
Unwillen noch Kummer, noch unſere lebhafte Begeiſterung oder
unſer Entzücken als Sünde anzurechnen, beſonders wenn wir
uns unſerm Zorn und Schmerz, unſerer Fröhlichkeit und dem
Genuſſe finnlich angenehmer Gegenſtände, zu denen wir ein Recht
haben, nicht maßlos überlaſſen.
Aber Sünde wird jede Bewegung des Gemüthes, wenn ſie
den Verſtand verfinſtert, wenn ſie ſo heftig wird, daß
fie unfähig macht, mit gehöriger Beſonnenheit zu han⸗
deln. Furcht und Angſt vor Unglück ſind keine Sünden und
keine Beweiſe von Mangel des Vertrauens an Gott. Es ſind
unwillkürliche Regungen des Gemüths, wie der Verdruß und
die Traurigkeit um verlorne Freuden. Jeſus vergoß am Oelberge
den blutigen Angſtſchweiß; aber dennoch behielt er Kraft genug,
ſich wieder ermannen und beten zu können: nicht mein Wille,
Vater, ſondern der Deinige, geſchehe. Wenn aber die Verzagt⸗
heit des Gemüths ſo groß wird, daß alle vernünftigen Vorſtellun⸗
gen verdunkelt werden, daß das Herz verzweifeln möchte: dann
iſt Gefahr, dann die Sünde nahe. Wenn wir im Zorn über das
Ruchloſe aufwallen, mag es edel genannt werden; wenn er uns
aber ſo betäubt, daß wir, von ihm übermannt, unſer ſelber nicht
mehr mächtig ſind, und aus Eifer für das Rechte im Grimme
Unrecht thun: dann iſt er Sünde. Wenn Freude uns in dem
Grade berauſcht, oder wir uns ſinnlichen Genüſſen in ſolcher
Ausgelaſſenheit hingeben, daß unſerer Geſundheit, Unſchuld und
Ehre, oder dem Wohlſein und Glück Anderer daraus Nachtheil
erwaͤchſt: dann iſt fie Sünde.
Daher, obgleich die Bewegungen des Gemüths, es mögen
Empfindungen angenehmer oder unangenehmer Art ſein, durch
De
aus für fich ſelbſt nicht ſündlich zu heißen find, haben wir bei
ihrem Daſein die größte Vorſicht anzuwenden, daß wir derſelben
immer Meiſter bleiben, und daß ſie ſich nicht gänzlich unſerer
Beſonnenheit bemeiſtern. Haltet Maß in allen Dingen, in Zorn,
in Schmerz und Freude. Nur allzuſchnell werden wir durch den
Sturm der Empfindungen über die Grenze des Rechten, des
Billigen und Schicklichen hinweggeriſſen. Reizbare, lebhafte
Gemüther geriethen dadurch, ſo edel auch ihre Abſichten, ſo un⸗
ſchuldig auch die Veranlaſſungen, ſo rein auch anfänglich ihre
Begierden waren, nur allzuoft bis zum ſchwarzen Augenblick der
Reue. Sie vorzüglicher, als Andere, die eines kaltblütigen We⸗
ſens ſind, müſſen darüber wachen, daß gewiſſe Gemüthsbewe⸗
gungen nicht allzuhäufig wiederkehren, und dadurch herrſchende
Gewohnheiten werden. ü
Gemüthsbewegungen werden fündlich, ſobald ſie
bei jedem, auch dem geringſten Anlaſſe laut werden, herr-
ſchende Gewohnheiten ſind, auch folglich den Willen leiten,
die Vernunft und das Gewiſſen unterjochen. Bei jedem kleinen
Fehler des Nächſten in Zorn gerathen und Aergerlichkeiten aͤußern;
über geringfügige Dinge ſogleich in Schrecken und Furcht kom⸗
men; Alles, jo unbedeutend es auch ſei, mit haſtigem Ungeſtüm
und Begeiſterung ergreifen; oder immer luſtig ſcherzen, auch bei
den ernſthafteſten Geſchäften Spaß und Muthwillen treiben, und
in den offenbarſten Gefahren leichtſinnig gaukeln: bezeugt Schwäche
des Gemüths, Schwäche des Verſtandes. So herrſchend gewor⸗
dene Gemüthsbewegungen lähmen jede Staͤrke zur Tugend, und
ſind fortgeſetzte Unbeſonnenheiten. Hier iſt der Kampf des Geiſtes
nöthig zur Wiedererhaltung der Herrſchaft über das Gemüth.
Alles hat ſeine Zeit, Lachen und Weinen.
Jeder prüfe ſich nun ſelbſt. Zu große Lebhaftigkeit der Em⸗
pfindungen, wie Gefühlloſigkeit, find gleich nachtheilig. Beide
Fehler entſpringen oft aus körperlichen Zuſtänden. Aber dem
ſtarken Willen des Geiſtes iſt es möglich, ſelbſt das Temperament
zu verbeſſern. Wer zur Traurigkeit und Schwermuth geneigt iſt,
bemühe ſich um Zerſtreuungen; wer zum Zorn und Verdruß ge⸗
neigt iſt, ſtrebe nach Kaltblütigkeit und ruhiger Anſicht der Dinge,
— 0°
und der erſte Schritt dazu iſt, wenn er fo viel über ſich gewinnt,
niemals in der erſten Aufwallung ſeines Gefühls zu reden und
zu handeln; wer ſich oft in fröhlichen Geſellſchaften zu ſehr ver⸗
gißt, und ſeine Heiterkeit in ausgelaſſenes, unbeſonnenes Weſen
ausſchweifen läßt, gehe nie zu ſolchen Gelegenheiten ohne den
feſten Vorſatz, von allen Anweſenden der Nüchternſte und Ge⸗
laſſenſte zu bleiben. Wer bei ſich empfindet, daß er gegen fremde
Noth zu gleichgültig, bei nichtswürdigen Handlungen zu unbe⸗
fangen, für das Edle und Gute einer Unternehmung zu unbe⸗
geiſtert und träge iſt, dünke ſich darum nicht weiſe, ſondern er
durchdringe mit feinem Verſtande erſt die Abſcheulichkeiten des
Verbrechens, und denke ſich ſelbſt in die Lage der dadurch Un⸗
gluͤcklichwerdenden; er überzeuge ſich von dem Segen einer edeln
Unternehmung in allen ihren mannigfaltigen Folgen; er belebe
ſeine Einbildungskraft mit den Vorſtellungen der fremden Noth
und Freude. Die Trägheit ſeines Gemüths iſt nichts weniger als
Kraft, ſondern Schwäche, durch welche eins oder das andere
ſeiner Seelenvermögen zu einer nachtheiligen Unthätigkeit geräth.
Wie gefühlvoll, o mein Jeſus, Bild erhabener Menſchen⸗
freundlichkeit, warſt Du bei Anderer Schmerzen, über welche
Du die eigenen fo gern vergaßeſt; wie entflammt gegen die Schänd⸗
lichkeit alles Böſen, was die Herzen der Menſchen von ihrem
Glücke und ihrem Gotte trennt; wie willig warſt Du, die Freu⸗
den Deiner Brüder zu mehren, zu erheben, zu läutern und zu
veredeln! O ſei mein Vorbild in Allem! Ich will mich meines
Herzens, meiner Empfindungen, meiner Aufwallungen nicht ſchaͤ⸗
men; ſie ſind ſo menſchlich! Und mehr als Menſch zu ſein, iſt
nicht des Menſchen Pflicht.
Aber lehre Du mich, Gottes Sohn, mäßig ſein in Allem,
in Schmerz und Vergnügen, damit ich Dir ähnlich werde und
Gott gefällig. Nein, Gott gab uns nicht ſelbſt die das Leben
verannehmlichenden Gefühle, daß wir ſie wieder in uns tödten
und ausrotten, ſondern daß wir ſie zu Schwingen der Andacht
und Tugend, zu Waffen derſelben gegen die das Leben verhee—
renden Laſter machen ſollen. Amen.
— 73 —
—
9.
Schein un d Weſen.
Jak. 2, 1. 4.
Ich bitte nicht um Gut und Gold
Und Würden dieſer Erden;
Was uns das flücht'ge Leben zollt,
Muß wieder Aſche werden.
Nur Weisheit gib mir, Weisheit nur,
Du, aller Weſen Meiſter!
Sie leitet mich auf heil'ger Spur,
Sie iſt der Schatz der Geiſter.
Sie lehret fern von Trug und Schein
Den Werth der Dinge kennen,
Und für das Göttliche allein
Das fromme Herz entbrennen.
Gott ift die höchite Weisheit! So hören, fo leſen wir oft, ohne
daß wir immer klar und deutlich einſehen, was eigentlich die
Weisheit ſei.
Gott iſt die hoͤchſte Weisheit; der Sterbliche aber ſoll das
weiſeſte unter den göttlichen Geſchöpfen auf Erden fein. Darum
ſchmückte uns der Schöpfer mit der Gabe der Vernunft. Darum
hörte die Welt aus dem Munde der Gottesgeſandten die heiligen
Offenbarungen; darum offenbarte ſich Gott ſelbſt durch Jeſum.
Und wer iſt denn ein wahrer Weiſer? — Der Chriſt ſoll es
ſein; ach, aber iſt jeder Chriſt ein Weiſer? — Warum iſt er
es nicht?
Was iſt das Weſen der Weisheit? Es iſt die klare Erkenntniß
des Wahren, Guten und Schönen; es iſt die Entfernung von
aller Taͤuſchung, von allem Selbſtbetrug über die Dinge der Welt.
Das Gegentheil der Weisheit aber iſt die Thorheit. Die
Thorheit aber beurtheilt die Dinge nicht nach dem, was fie wirk⸗
lich find, das heißt, nach ihrem Weſen, ſondern läßt ſich durch
den Schein blenden. Sie laßt ſich durch die Außenſeite der
Sachen irre führen, und hält fie für etwas Anderes, als fie find.
Daher iſt der Greis gewöhnlich weiſer, als der unerfahrene
Jüngling; die betagte Mutter weiſer, als die mit der Welt un⸗
III. 4
„
bekannte Tochter. Das Alter iſt durch Erfahrung belehrt, iſt
durch die Schulen des Irrthums zur Erkenntniß der Wahrheit
gelangt, und von mancher Täuſchung zurückgekommen.
Der Thor beurtheilt den Werth des Menſchen nur nach ſei⸗
nem Kleide, nach ſeinem Vermögen, nach ſeinem Amte; — der
Weiſe ſchätzt den Mann nicht nach ſeinem Aeußern, ſondern nach
ſeinen Geſinnungen, nach ſeinen Einſichten, nach ſeinen Hand⸗
lungen. — Der Thor hält denjenigen für einen frommen Chriſten,
der fleißig den Gottesdienſt beſucht, ſich das beſcheidene, äußere
Anſehen eines Frommen gibt, auswendiggelernte Gebete herzu—
ſagen pflegt, oft in der Bibel oder in andern Religionsbüchern
liest, und die rauſchenden Vergnügungen vermeidet. Der Weiſe
hält nur denjenigen für einen Chriſten, der in allen ſeinen Ge⸗
danken und Handlungen voller Menſchenliebe iſt, überall hilft
und beiſteht, Keinen beleidigt, und ſo gleichſam nur in der Liebe
lebt, das heißt, in Gott lebt und handelt. An ihren Früchten
ſollt ihr ſie erkennen!
Gott iſt die höchſte Weisheit, das heißt, Gott kann durch
keinen Außenſchein getäuſcht und geblendet werden. Er kennt den
wahren Werth aller lebloſen und lebendigen Dinge. Vor ihm
gilt nicht das Anſehen der Perſon. Auf der Wage ſeiner Gerechtig⸗
keit find der königliche Scepter und der Stab des Bettlers von
gleichem Gewicht; für ihn iſt das Zufällige keine Hauptſache.
Aber der Sterbliche wandelt hienieden lange unter Tau-
ſchungen. Denn es gibt ſich jeder Menſch Mühe, beſſer zu
ſcheinen, als er iſt. Einer betrügt durch dieſen Schein den An⸗
dern. Wir wiſſen nicht, was die Menſchen ſind, ſondern nur
was ſie ſcheinen. Wir beugen uns vor dem Irrthum, ſtatt vor
der Wahrheit. Wir bemerken nur die zufälligen Nebendinge,
ſtatt der Hauptſache dahinter. Wir ſtehen vor übertünchten Grä⸗
bern, aber ſehen nicht darunter die Verweſung und den Moder.
Je richtiger ein Menſch andere Menſchen und die Dinge um
ſich her würdigt, und je weniger er ſich vom Schein und der
guten oder ſchlechten Außenſeite blenden läßt, je weiſer iſt der
Menſch.
Die Grundregel der Weisheit alſo iſt: Trenne den Schein
Po
vom Weſen! — nimm die Dinge für das, was fie wirklich find:
nicht für das, was ſie ſcheinen.
Dieſe Regel begreift den Inhalt aller Weisheit in ſich. Wer
ſie überall erfüllen kann, der iſt der Weiſeſte. Schon in zarter
Jugend ſollen wir fie unſern Kindern geben; jo werden fie un—
aufhörlich nach Weisheit ringen; werden nicht den Traum für
Wachen halten, das wahre Glück nicht außer ſich in andern
Dingen, ſondern in dem Werth ihres Herzens ſuchen, und das
ſüße Gift der Laſter Gift nennen, fo ſüß es auch immer ſei.
Dieſe Regel begleite jeden Menſchen von einem Tage zum an—
dern über, wenn er Anſpruch darauf macht, ein Weiſer zu werden.
Nur damit entweicht er tauſend Gefahren, Leiden und Sorgen
des Lebens; denn was uns hienieden unglücklich macht, iſt immer⸗
dar Irrthum. Nur weil wir die Erſcheinungen des Lebens uns
richtig anſehen, uns keine Mühe geben, ſie richtig zu erkennen,
behandeln und empfangen wir ſie falſch. Daraus entſteht unſere
Qual. Wir fürchten alſo den Schatten mehr, als die Sache;
wir ängſtigen uns mehr vor dem Traum, als vor der Wahrheit.
Wir leiden mehr über den Verluſt des eingebildeten, als des
wahren und ewigen Gutes.
Dieſe Regel iſt die Saule des wahren Chriſtenthums. Denn
was iſt Chriſtenthum anders, als die allein wahre, ächte Gottes⸗
weisheit für den Menfchen? — Nur in der Erfüllung dieſer
Regel bekommt der Menſch eine hohe Kraft und innere Größe.
Er erhebt ſich über den Schein und Trug, und ſieht den Irr⸗
thum von Tauſenden. — Er gewinnt eine Selbſtſtaͤndigkeit,
die ihm nichts Anderes geben kann. Er weiß, was irdiſches Glück
und irdiſches Unglück ſei, und beides kann ihn nicht aus ſeiner
Gemüthsruhe verdrängen. Er hängt von keinem Zufall ab; denn
er hängt nur an dem, was ewig wahr, ewig gut, ewig beſeligend
iſt — er hängt an Gott und der ewigen großen Beſtimmung
ſeiner Seele. Er bekommt dadurch jene Religioſitaͤt, die den Nach⸗
folger Jeſu bezeichnet. Er genießt die Annehmlichkeiten des Le⸗
bens, ohne ſie für mehr als eine vorübergehende Erquickung ſeines
Körpers zu halten. Er leidet jedes unverſchuldete Unglück als
— 76 —
Vollziehung der Rathſchlüſſe einer göttlichen Vorſehung zu ſei⸗
nem Heil.
Er lebt, wie Chriſtus, nur um wohlzuthun Andern; nicht
um ſich zu erheben über Staub und Tand, oder Würden und
Reichthum zu ſammeln, die er nach wenigen Jahren wieder an
die Welt zurückgeben muß. Was der unendliche Gott dem uner⸗
meßlichen Weltall iſt, das iſt er dem Menſchen i in ſeinem kleinen
Wirkungskreiſe hienieden. Das heißt in Gott leben, daß iſt das
wahre Chriſtenthum.
Trenne den Schein vom Weſen in der Beurtheilung dei⸗
ner Mitmenſchen. Entziehe zwar nicht den verſchiedenen Staͤnden
denjenigen Zoll von Hochachtung, welcher in der bürgerlichen
Geſellſchaft eingeführt und üblich iſt; aber bringe der Tugend
deine Bewunderung und Liebe, wo Du ſie findeſt, gleichviel, im
Palaſt oder in der Hütte des Armen. Sieh nicht auf das Kleid,
auf die Geburt, auf die Herkunft, auf den Stand, auf das Ver⸗
mögen, auf die Würde des Mannes, ſondern auf ſeine Verdienſte,
auf ſeine vorzüglichen Eigenſchaften. Verdamme Niemanden um
des Scheins willen, ehe du die Urſachen genau kennſt, warum der,
den du tadeln willſt, ſo und nicht anders gehandelt hat. Laß dich
nicht durch Worte zu vertraulicher Freundſchaft mit Jemanden
verführen, deſſen Herz du nicht kennſt, und deſſen Abſichten dir
fremd ſind. Halte nicht Maßregeln deiner Obrigkeiten für un⸗
gerecht, jo lange du ihre Zwecke zu prüfen nicht Gelegenheit hatteft.
Indem du ſo im Umgange mit den Menſchen überall das
Wahre aufſuchſt, und den Schleier der Taͤuſchung zu zerreißen
ſuchſt, wird dein Gemüth ſelbſt wahrhaft werden, ſo wie Gott
wahrhaftig iſt. Du wirſt mit Offenheit und Ehrlichkeit ſprechen und
thun, doch nicht ohne Vorſichtigkeit wegen derer, die deine Offen-
heit mißbrauchen koͤnnten. Es wird dich anekeln, vor den Leuten
zu ſcheinen, mehr als du biſt, oder anders und beſſer als du biſt.
Es wird dir ein Gräuel fein, Andere mit dir zu täufchen; ſondern
du wirſt nur gelten wollen vor Gott, der ins Verborgene ſieht.
(Matth. 6, 18.)
Trenne den Schein vom Weſen! Dieſe Worte ſind das
Schild deiner Glückſeligkeit, wenn du ſie recht verſtehſt und ihren
ana; AL
Sinn recht erfüllſt, und um ſie recht zu verſtehen, gehe in dich
ſelbſt zurück, und denke an die Tage, da du dich für unglücklich
hielteſt, folglich mit deinem Zuſtande nicht zufrieden warſt. —
Woher entſtand wohl größtentheils deine Unzufriedenheit? War
es nicht oft, weil du meinteſt, du würdeſt glücklicher ſein können,
wenn du in einer andern Lage wäreſt, wie dieſer oder jener deiner
Bekannten? Oder wenn du mehr Vermögen hätteſt? Oder wenn
du nicht vor der Zukunft in Sorgen ſein müßteſt? Oder wenn
du dir noch dieſe oder jene Ergötzungen verſchaffen könnteſt? —
Haft du nicht oft das Glück, das Vermögen, die Verhaͤltniſſe An-
derer dir ſelbſt heimlich gewünſcht, und dich bedauert, daß du es
nicht ſo gut haben konnteſt, wie ſie?
Ach, lieber Unzufriedener, du urtheilteſt nach dem Schein,
und hielteſt ihn für das Weſen! Diejenigen, welche du in der
Stille deines Herzens beneidet haſt, waren vielleicht unglücklicher,
als du; unter Gold und Seide wohnt oft großer Gram und Ver⸗
druß; du ſprichſt freilich: welche Urſachen hätten auch dieſe Leute,
unzufrieden zu ſein? Wenn ſie unglücklich ſind, ſo ſind ſie es
durch ihre Thorheit. — Wohlan denn, wenn es dir an Glück
und Zufriedenheit fehlt, iſt daran nicht auch deine eigene Thor⸗
heit ſchuld? Auch du haſt ja Vorzüge und Glücksgüter, die vielen
Andern fehlen, und um die dich die Aermern und Geringern be-
neiden. — Hätte ich nur, ſo ſprechen gewiß auch Andere von
dir, haͤtte ich nur, was er hat, wie glücklich könnte ich ſein!
Mit wunderbarer Weisheit gab Gott jedem Stande, jedem
Alter, jedem einzelnen Tage ſeine beſondere Luſt, ſeine beſondere
Noth. Darum beneide Niemanden, denn der Schein betrügt dich,
und Niemand iſt dir Bürge, daß dn unter andern Umſtänden
nicht noch empfindlicher in mancherlei Schmerzen und Uebeln
ſein würdeſt.
Trenne den Schein vom Weſen, wenn du nach irgend
etwas mit Begierde verlangſt, was du für das höchite Gut des
Lebens hältſt. Hüte dich, dasjenige für das vollkommenſte Gut
zu halten, was deiner Einbildung angenehm ſchmeichelt, ſo lange
du es nicht haſt, und was dir gleichgültig werden kann, wenn
du im Beſitz deſſelben biſt. — Hüte dich, dasjenige für dein höch⸗
u TB m
ſtes Glück zu halten, was zwar an ſich glänzend ſcheint, aber
doch nicht im Stande wäre, dir jede Stunde deines Lebens zur
frohen Stunde zu machen. — Hüte dich, dasjenige für das wün⸗
ſchenswertheſte Gut zu halten, woran du mit dem ſpäteſten Alter
alle Freude verlörſt, oder was dir Menſchenhände, Kriegsunfälle
rauben können, und für deſſen bleibenden Beſitz du keinen ein-
zigen Tag vollkommen ſicher biſt.
Entzückt dich vielleicht die Hoffnung großen Reichthums und
Gewinns? — Was würden die Haufen Goldes frommen, wenn
du deines Vermögens willen Neid und Verfolgung litteſt? was
die ſeidenen Polſterkiſſen, wenn du als Kranker auf ihnen ſchmach⸗
teteſt? was aller Glanz und alle Pracht, wenn du durch des
Todes Hauch deine geliebteſten Freunde einbüßteſt? Könnte dich
dein Gut tröſten? Würde dir dein Reichthum die vielleicht ſchon
nahe Sterbeſtunde verſüßen oder erſchweren?
Entzückt dich vielleicht die Hoffnung größerer Ehren? —
Warum blickſt du nach der glänzenden Außenſeite? Wärſt du
auch in der That höherer Ehren würdiger, als ein Anderer:
wollteſt du den Verdienſtvollen wohl zurückdrängen? — Hängt
ſich nicht der Haß am liebſten an jene, die vor der Welt eine Aus⸗
zeichnung genießen? Iſt nicht der Schatten da am ſchwärzeſten,
wo das hellſte Licht hinfaͤllt? — Sind Verdruß und Sorgen
nicht mit den hoͤhern Würden häufiger verbunden, warum treten
denn, des Geräuſches müde, erhabene Männer oft ſo gern in die
beneidenswürdige Ruhe des Mittelſtandes zurück? Warum haben
denn ſo manche Fürſten ihre Kronen freiwillig niedergelegt, um
in der unbemerkten Einſamkeit ſich ſelber leben zu können?
Trenne den Schein vom Weſen, und halte nur dasjenige
für das höchſte Gut, was eben nicht ſchimmert, aber dir zu
deiner Glückſeligkeit deſto mehr leiſtet; was im Stande iſt, dir
im Reichthum oder in Armuth, in hoher Würde oder in Nied—
rigkeit, in der Fülle deiner Geſundheit, oder auf dem Kranken⸗
bette, in den Jugendtagen, oder unter den Gebrechlichkeiten des
Alters, immerwährende Luſt, tiefe, innige Ruhe und Selbſt⸗
zufriedenheit, Achtung und Ehrfurcht vor guten und ſchlechten,
vornehmen und geringen Menſchen zu verſchaffen; ja, was dir
— 0 —
ſelbſt Gewißheit gibt, du ſeieſt Gott, dem Ewigen, dem Heiligen,
angenehm. — Und wie heißt dies erhabene Gut, dies Kleinod,
mehr als eine Königskrone, mehr als eine Tonne Goldes werth?
Es heißt Chriſtusweisheit, Gottähnlichkeit im Sinne und
Wandel, ſtille Religioſität des Herzens. — Dies Gut raubt
dir kein Sturm des Lebens; vergeht nicht mit der Blüthe der
Jugend; dies iſt das Reich Gottes, in welchem nur veredelte
Geiſter glänzen und wohnen, in welchem Gott allein herrſcht
und waltet, und das Glück der Seelen unwandelbar lacht. Nach
dieſem trachtet! (Matth. 6, 33.) — Weltliche Würden, Güter
der Erden ſind nicht einmal Hilfsmittel zur Erlangung dieſes
höchſten Gutes, ſondern in den Händen des Weiſen, des Gott⸗
menſchen nur Werkzeuge zur Beförderung nützlicher und wohl⸗
thätiger Abſichten. So iſt die ganze Schöpfung Gottes nur Werk⸗
zeug des Ewigen zur Beſeligung der von ihm erſchaffenen Geiſter.
Welch ein begeiſternder, über Welt und Staub und Grab
erhebender Gedanke! — Hier iſt Weſen und Wahrheit, nicht
mehr Schein und Selbſttauſchung! Wie mag die menſchliche
Seele, wenn ſie dieſes Gut nur einmal erkennt, ferner ſich um
leeres, nichtiges Schattenwerk quälen, welches, kaum erhalten,
ſchon verſchwindet?
Trenne den Schein vom Weſen, indem du den Werth
dieſes Lebens und das beurtheilſt, wozu du in der Welt be⸗
ſtimmt zu ſein glaubſt.
Ach, wie entfernt von der Chriſtusweisheit leben doch die
meiſten derer, die ſich Chriſtus-Jünger nennen! Sie treten in
die Welt, ſie werden zu einem Beruf erzogen, ſie wählen ihren
Beruf, ſie arbeiten in demſelben; ſie leben nur für dieſen Beruf,
leben nur von und für den Gewinn, welchen ſie daraus ziehen;
denken kaum etwas Anderes; freuen ſich, wenn es ihnen darin
glückt; werden kalt; können nicht mehr genießen, was ſie mühſam
errungen haben; hinterlaſſen es den Erben, und geben ihren
Geiſt auf.
Dies iſt die Geſchichte der meiſten Menſchen. Sie verwech⸗
ſeln das Zufällige mit dem Wahren, das Verſchwindende mit
3
dem Ewigen. Sie leben für das Irdiſche, als würden ſie nie
ſterben, und ſterben, als würden ſie nie leben.
Wenn aber der Menſch hienieden zu keinem andern Zweck
vorhanden iſt, als für einen qualvollen, flüchtigen Traum von
fünfzig oder ſechszig Jahren, — als für Güter, die ihm nicht
gehören und bleiben, — als für Freuden, die ſchneller vorüber-
gehen, denn kommen: wahrlich, für ein ſolches Leben wäre es
nicht der Mühe werth, geboren zu ſein, und Millionen Sterb⸗
lichen würde es wohler geweſen fein, wenn fie nie vorhanden ge⸗
weſen wären. Aber dies Flüchtige, dies Vergängliche in den
Lebensſtunden, mahnt nicht gerade dies unſern Geiſt am lauteſten
an das Wahre und Bleibende? Der gottgeſchaffene Menſch iſt
Geiſt und ewig in Gottes ewiger Schöpfung; hier ſoll er ſich im
Wohl und Weh, im Licht und Schatten zu ſeiner Vollkommen⸗
heit entwickeln. Er ſoll nicht dem Staube außer ihm, er ſoll
ſeinem ewigen Ich leben. Er gehört ſeiner Natur nach zu keiner
Körperwelt, er gehört einer Geiſterwelt an. Zu dieſer empor winkt
ihm Gottes Hand; zu dieſer empor ruft ihm Chriſti Stimme. —
Warum vernehmen wir des theuern Hirten Stimme nicht?
Ich höre ſie, o Jeſus, überirdiſcher Lehrer, Deine Stimme!
Ich ſehe ihn, o Vater der Geiſter, Deinen Wink der Liebe! —
Empor, empor, zur Vollkommenheit, zur Verklärung meines
Selbſtes forderſt Du mich! — Ich will mich nicht an dies Ir⸗
diſche ketten. Inſofern ich mit meinem Körper hienieden der
Welt zugehören muß, gehöre ich ihr, lebe ich ihr — doch meine
Seele ſtrebt empor zu Dir, zu Deinen herrlichen Geiſtern, —
ſie gehört einer Ewigkeit, die jetzt ſchon für ſie begonnen iſt, —
zu einer Ewigkeit, von der das Leben nach dem Tode nur Fort-
ſetzung iſt; zu einer Ewigkeit, wo der Edelſte, der Heiligſte Dir
am nächſten ſteht; zu einer Ewigkeit, der Du mich ſchon geweiht
haſt, ehe ich geboren war hienieden, und zu deren vollkommenem
Genuſſe ich mich durch Chriſtus-Weisheit vorbereitete.
Dieſe Weisheit beherrſche nun mein Gemüth, denn ſie kommt
von Dir! Du offenbarteſt ſie durch Jeſu Mund, Du offenbarſt
ſie durch das Mittel jeder menſchlichen Vernunft allen Sterb⸗
lichen!
8
Wohl wandle ich hienieden unter mancherlei Taͤuſchungen;
wohl halte ich oft den Irrthum für Wahrheit, das Uebel für ein
Gut, das Nichtige für eine Hauptſache. Ach, der Geiſt des Men-
ſchen, wie iſt er oft ſo ſchwach! Aber, wenn meine Begierden
und Wünſche am heftigſten werden, wenn mich meine Sehnſucht
irgend wohin am mächtigſten treibt — dann will ich mich faſſen,
dann mich fragen: Wohin trachteſt du fo eifrig? Ziehe die ſtille
Ruhe deines Geiſtes allem Andern vor. Kein Glück iſt größer,
als dieſes; verliere es nie, auch nicht für den glänzendſten
Preis! — Dann, dann werde ich den Schein vom Weſen trennen,
und zufriedener und glücklicher ſein lernen.
Gott, verleih mir Deine Kraft, verleih mir Deinen Segen!
Amen.
10.
Der Streit der Pflichten.
Matth. 22, 37 — 40.
Wenn ich in meinen Pflichten wanke,
Und irre bin in ihrer Wahl,
Dann, Gott, dann ſei Du mein Gedanke,
Und ſende mir des Geiſtes Strahl.
Dann werde ich ſo leicht nicht irren,
Erkennen bald die größ’re Pflicht,
Kein Eigennutz wird mich verwirren,
Der gern das ſchwache Herz beſticht.
Es gibt nur ein Chriſtenthum, auch wenn es in der chriſtlichen
Kirche mehrere Meinungen, mehrere Parteien und Sekten in
Glaubensſachen gibt.
Es gibt nur ein Chriſtenthum, und wer ein Genoffe deſſel⸗
ben iſt, muß, um wahrer Chriſt zu ſein, beide Haupttheile der
Religion zu ſeinem Eigenthum machen können, den Glauben
und die That.
Die That ohne den Glauben kann den Menſchen eben ſo
wenig beſeligen, als der Glaube ohne That.
Wer alle ſeine Pflichten mit ſtrenger Gewiſſenhaftigkeit voll⸗
— 82 —
bringt; wer keinem ſeiner Brüder ſchadet; wer jedem, der mit ihm
in Verbindung ſteht, angenehm, wohlthätig und nützlich iſt; wer
ſich ſogar für das allgemeine Wohl großmüthig aufopfert — und
er hat den Glauben nicht, iſt zu beklagen; denn er iſt ein Un⸗
glückſeliger, der auf Erden, von Zweifeln aller Art gefoltert,
mit ungewiſſen Blicken in die Zukunft hinausſtarrt. — Nur der
glaubende Chriſt hat einen ewigen, ſtillen Troſt in ſeiner Bruſt,
den Troſt göttlicher Offenbarung. Nur der glaubende Chriſt
hat durch Jeſum Muth in allen Fällen des Lebens und Freudig⸗
keit im Tode. Nur ſein Glaube erhebt ihn über jedes Ungemach,
und gewährt ihm jene erhabene Zuverſicht, welche auch dem
Weiſeſten der Heiden fehlte. Nur durch dieſes frommen Glaubens
Licht erheitern ſich die Nächte ſeiner Schickſale, verklaͤrt ſich ihm
das ganze Weltall, löſen ſich die Räthſel dieſes Erdentraums,
und erſcheint ihm eine liebende, Alles umfaſſende, für Alles
ſorgende, Alles mit Weisheit leitende, Alles beſeligende Gott—
heit, zu welcher wir in himmliſcher Kindſchaft rufen können:
Abba, lieber Vater im Himmel! — Nur durch Jeſu Wort und
Blut iſt ihm die theure Bürgſchaft von der Ewigkeit ſeines Heils,
von der Gnade des Allbarmherzigen, und den Freuden einer
beſſern Welt nach den Tagen dieſes Staubes, zu Theil gewor-
den. Nur durch den Glauben ſeiner Religion iſt er gegen den
Sturm der Welt ſtark, und gegen die Empörung feiner Leiden⸗
ſchaften allezeit gewaffnet. Die alleredelſten und frömmſten
Grundſätze und Entſchlüſſe haben keinen feſten Grund und können
leicht zerrüttet werden — denn wie mächtig iſt der Reiz der Ver—
führung und des Beiſpiels, wie ſchwach oft die Vernunft, wenn
fie nicht auf religiöſer Ueberzeugung beruht!
So wenig aber die That ohne den Glauben an Jeſu Offen⸗
barungen uns vollkommen zu beſeligen im Stande iſt, eben ſo
fruchtlos iſt der Glaube an Jeſum ohne die That.
Wahrlich, und es finden ſich noch heutiges Tages, wie zur
Zeit unſers Erlöſers, weit mehr Menſchen, die da hoffen, ſelig
zu werden durch das bloße Glauben, durch das Herr-Herr—
Sagen, durch die Beobachtung äußerer gottesdienſtlicher Uebun⸗
gen, durch Verrichtung von Gebeten und durch Spielen mit
—
8
religiöfen Gefühlen, als ſich Menſchen finden, die Chriſti Lehren
des Heils in tugendhaften Thaten und Gedanken auszuüben,
ohne an ihn zu glauben.
Denn es iſt dem zum Guten trägen Menſchen leichter, Worte
zu reden, als Thaten zu üben; es tft ihm leichter, äußere Ge-
bräuche zu beobachten, als innere ungerechte Neigungen
zu bekämpfen. Es iſt ihm leichter, ſich auf die Fürbitte der Hei⸗
ligen oder auf das Gebet der Frommen, auf das Verdienſt und
die Gerechtigkeit Jeſu zu verlaſſen, als den Willen des Vaters
im Himmel zu thun, und vollkommen zu werden, wie er. Sie
ſprechen gern von den Wunden Jeſu, aber ihr eigenes Fleiſch und
ihre Begierden zu kreuzigen, das heißt, ihrem Hang zur Wolluſt,
zur Habſucht, zum Ehrgeiz, zum Neid, zum Trunk, zur Ver⸗
leumdung, zum Haß, Gewalt anzuthun, das fällt ihnen ſelten ein.
Aber nicht euer Beobachten gottesdienſtlicher Handlungen,
nicht die äußere Ehrbarkeit, nicht das Spiel mit füßen religiöfen
Gefühlen, nicht das Herr-Herr-Sagen, nicht das Hineinflüchten
in die Wunden Jeſu, und der Gebrauch anderer bildlicher Aus-
drücke, die keine klare Vorſtellung gewähren — nicht alles dieſes
und Anderes hilft zur Seligkeit, ſondern, ſagt Jeſus Chriſtus,
die den Willen thun meines Vaters im Himmel, die
ſind Gott angenehm! — Nicht an ihren Worten, an ihren
Meinungen, Auslegungen, ſondern an ihren Früchten, das heißt,
an ihren Thaten, ſollt ihr fie erkennen! (Matth. 7, 20. 21.)
Zwar auch die heiligen Apoſtel empfehlen in ihren Briefen
an die damaligen chriſtlichen Gemeinden die Angelegenheiten des
Glaubens, und reden von ihm, von der Perſon Chriſti, als dem
Herrn und Grund des Heils, von der Gerechtigkeit des Glaubens,
von der Fruchtbarkeit des Evangeliums, von dem Verdienſt des
Opfertodes Jeſu; ſie ſprechen ausführlicher darüber, als Jeſus
Chriſtus ſelbſt oft gethan. Aber ihr Werk war, erſt Heiden
oder Juden zur chriſtlichen Religion zu bekehrenz dieſen, die
gleich den Galatern oft abtrünnig wurden, mußten fie den Glau-
ben an Jeſum vorzüglich einſchaͤrfen und lebendig machen; aber
'
dennoch verſäumten fie auch nie, den andern Haupttheil der chriſt⸗
lichen Religion eben ſo nachdrücklich zu predigen. Wenn ſie im
a
erſten Theile ihrer Briefe die Glaubenslehren erklaͤrt hatten,
dann drangen ſie am Schluſſe ihres Schreibens auch ganz vor⸗
züglich auf die That, auf die Werke der Gottſeligkeit. Sie
nannten, ſie ſchilderten muthig die Reihe der damals im Schwange
gehenden Laſter, und ſtellten denſelben die chriſtlichen Tugenden
entgegen. Sie ermahnten zum Glauben und zur Liebe Gottes,
aber fie erklaͤrten feierlich: Das iſt die Liebe zu Gott, daß wir
ſeine Gebote halten. (1. Joh. 5, 3.)
Darin alſo offenbart ſich die wahre Nachfolge Jeſu, daß wir,
als von Gott geboren, die Welt, das heißt, unſere irdiſchen ſchlech⸗
ten Neigungen, überwinden, und mit Liebe und Freundſchaft
gegen die Menſchen handeln, wie Jeſus Jeden von uns geliebet
hat, und noch liebet. — Denn ſo Jemand ſpricht, ich liebe Gott,
und haſſet ſeinen Bruder, der iſt ein Lügner. (1. Joh. 4, 20.)
Wenn wir unſere Pflichten als Bürger, als Haus vater und
Hausmütter, als Gatten oder Kinder erfüllen ſollen: fo koſtet es
nicht ſelten einen ſchweren Kampf mit uns ſelbſt, beſonders wenn
unſere Eigenliebe ins Spiel tritt. In dieſem Kampfe iſt's, wo
wir überwinden und unſer Chriſtenthum offenbaren ſollen!
Mancher ſpricht: Ich thue, was ich kann, aber mehr kann
Niemand von mir begehren. Ich gebe von meinem Ueberfluſſe
den Armen, aber ich kann mir und den Meinigen doch auch nicht
alle Freuden und Bequemlichkeiten entziehen. Wohl denn, aber
wenn du dir einen Theil deiner Bequemlichkeiten in dieſen Tagen
allgemeiner Noth entzögeft, und könnteſt damit eine arme Familie
aufrecht erhalten, und vor dem Bettelſtab bewahren: ſagt dir
nicht dein Gewiſſen, du hätteſt ein ächt chriſtliches Werk gethan?
Ein Anderer ſpricht: Ich will meinem Feinde verzeihen; ich
weiß, er ſpricht übel von mir, er ſucht mich überall zu verdraͤn⸗
gen und zu verkleinern; er würde mir ſchaden, wo er nur konnte.
Ich will ihm verzeihen; aber Niemand verlange, daß ich mich
mit Liebkoſungen zu ihm dränge, daß ich mich für den Menſchen
aufopfere, der nur hohnlachen würde, wenn er ſaͤhe, wie ich zu
Grunde ginge. — Wohl denn, du ſollſt und magſt allerdings
mit Klugheit dich gegen deinen Feind betragen; aber berechtigt
dich dieſes, in heimliche Verwünſchungen gegen ihn auszubrechen?
a
Berechtigt dich dieſes zur Schadenfreude, wenn ihm etwas Un⸗
angenehmes widerfährt, daß du ſprichſt: Er hat's um mich ver⸗
dient! Berechtigt es dich, nichts zu thun, wenn es bei dir ſtaͤnde,
ihm, auch ohne daß er jemals es erfaͤhrt, Nutzen und Vortheil
zu ſtiften? — O verbirg dich, ſchwacher Menſch, und brüſte dich
nicht mit deiner Religion, mit deinem Glauben, mit deinen Ge⸗
beten, mit deinen Hoffnungen auf das Verdienſt und die Gr-
rechtigkeit Jeſu — du biſt ſein Nachfolger nicht, du biſt kein
Chriſt, und haſt keinen Theil an ihm.
Am meiſten pflegen aber die Menſchen ſich gern ſelbſt zu
täuſchen, wenn fie die Ausübung einer Pflicht vernachlaͤſſigen,
unter dem Vorwande, daß ſie auch andere Pfichten auf ſich
hätten. Sie machen mit dieſen Worten gleichſam eine Tugend
zur Mörderin der andern, und bringen im Grunde nur ihrer
Eigenliebe, ihrer Selbſtſucht, ein gefälliges Opfer. Sie
gleichen den Phariſäern, die, um den Sabbath, den Tag Gottes,
recht zu feiern, zu Ehren Gottes, die Unglücklichen lieber leiden
laſſen wollten, als ihnen helfen, und durch Arbeit den Sabbath
entweihen. (Matth. 12, 1 — 12.)
Doch aber kann es auch dem froͤmmſten und tugendhafteſten
Chriſten begegnen, daß er bei Ausübung einer Pflicht Gefahr
läuft, eine andere zu verletzen, die ihm eben fo: heilig iſt. Dieſer
Streit der Pflichten gegen einander verurſacht in zarten Ge⸗
müthern nicht ſelten den ſchmerzlichſten Kampf. — Aber ein ſtilles
Nachdenken über dieſen wichtigen Gegenſtand führt uns bald zur
Beruhigung, und die Ueberzeugung zerſtört den Zweifel.
Was haben wir im Streite von Pflichten zu thun,
die einander widerſprechen, und wo wir die eine nicht
ausüben können, ohne die andere zu vernachläſſigen?
Die einfache und kurze Beantwortung dieſer wichtigen Frage
wird manchem zartfühlenden, chriſtlichen Gemüth, das ſchon in
ähnlichen Verlegenheiten kämpfte, von großem Werthe ſein.
Denn fie klärt uns über die Rangordnung unſerer Verpflich-
tungen auf, und lehrt uns, vor den Eingebungen unſerer bered⸗
ſamen Eigenliebe auf der Hut zu ſein!
Die Antwort aber liegt in den Worten Jeſu: Liebe Gott
1
über Alles, und dann erſt deinen Nächſten wie dich ſelbſt.
(Matth. 22, 37 — 40.)
Höher alſo, als Menſchenſatzungen, ſind Gottes Gebote.
Kein Sterblicher, keine Obrigkeit, kein Monarch darf etwas an⸗
ordnen und befehlen, das den Geboten Gottes widerſpräche. Und
wagte es ein Tirann, die göttliche Ordnung umſtürzen zu wollen,
wagte es ein Sterblicher, dich zu einem Verbrechen gegen Gott
zwingen zu wollen, dann iſt die Wahl nicht mehr ſchwer: du
ſollſt Gott mehr gehorchen, als den Menſchen!
Das heilige Leben der Chriſten in den erſten Jahrhunderten
gibt uns zahlloſe Beiſpiele von der Treue der Chriſten zu Gott.
Sie opferten Freunde und Verwandte, Eigenthum, Aemter,
Reichthum, Ehre, Vaterland — ja ſelbſt das Leben auf, wenn
ein Tirann ſie zwingen wollte, Jeſum zu verläugnen, oder eine
andere Religion anzunehmen. — Man ſoll Gott mehr gehorchen,
als den Menſchen; darum verlor manche tugendhafte Jungfrau
lieber ihr Leben, als ihre Unſchuld durch den Machtſpruch eines
gefühlloſen Barbaren. Du ſollſt Gott mehr gehorchen, als den
Menſchen, darum verweigere Jedem den Gehorſam, der dich zu
einer Sünde nöthigen will.
Doch, dem Himmel ſei Dank, nur dokn haben wir in uns
fern Tagen, und beſonders in chriftlichen Ländern, gegen der—
gleichen Befehle zu kämpfen, die wider Gott, Natur und Ver⸗
nunft ſtreiten. Mehr haben wir gegen unſere Eigenliebe den
geheimen Krieg zu führen, wenn ſie ſich anmaßt, den Streit
zwiſchen einander widerſprechenden Pflichten zu ſchlichten. Darum
gehe ich zur andern Hälfte des Spruches Chriſti über.
Du ſollſt deinen Nächſten lieben, wie dich ſelbſt.
Ich habe folglich bei mir ſelbſt gar keinen Vorzug vor Andern.
So ſehr ich mich liebe, eben ſo ſehr ſoll ich auch jeden Andern
lieben. Auf dieſem heiligen Grund, den Jeſus ſelbſt gelegt hat,
beruht nun mein Benehmen im Streite der Pflichten.
1) Sei erſt gerecht gegen Andere, und dann erſt gütig
gegen dich ſelbſt; das heißt, thue allemal erſt gegen Andere,
was ſie ein Recht haben, von dir zu fordern und zu erwarten,
und dann erſt thue das, was dir ſelbſt Nutzen bringt. Bringe
4
alſo Keinen um ſein Brod, um dir ſelbſt Ueberfluß zu verſchaffen;
ſtürze Niemanden in feinem Amte, um dir eine höhere Stelle zu
verſchaffen; laſſe Niemanden verhungern, um dir von deinen Be⸗
quemlichkeiten keinen Abbruch zu thun; ſondern laſſe Jedem was
ihm gebührt: ſo biſt du nur gerecht gegen ihn, und noch gar
nicht gütig und wohlthätig.
Sei erſt gerecht gegen Andere, dann gütig gegen dich: ſtille
erſt die dringendſte Nothdurft deines Nächſten, dann thue dir
ſelbſt mit deinem Ueberfluſſe wohl. Bekleide erſt den Nackten,
dann gib dir ſelbſt erſt Anmuth durch ſchönere Gewänder und
Hausgeräthe; laſſe erſt den Verdienſten Anderer Gerechtigkeit
widerfahren, dann erſt freue dich der Vorzüge, die dich ſchmüͤcken;
mildere erſt die Schmerzen und Leiden Anderer, dann erſt gönne
dir ſelbſt Vergnügen. — Was Andern nothwendig, was Andern
unentbehrlich iſt, das mußt du ihnen zuerſt gewähren, dann erſt
kannſt du dir gütlich thun mit dem minder Nothwendigen und
mit Dingen, die du allenfalls entbehren könnteſt. Denke dich in
ihre Lage, und welche Forderungen du an die Menſchlichkeit und
Gerechtigkeit deiner Mitbrüder thun würdeſt. Nun wohlan denn,
was du willſt, das dir die Leute thun ſollen, das thue ihnen auch.
2) Sei gerecht gegen dich ſelbſt, ehe du gütig gegen
Andere biſt. Du ſollſt Andere lieben, wie dich ſelbſt, aber du
ſollſt auch dich lieben, wie Andere. Wenn du deine Ehre, deinen
guten Namen, die Achtung, welche du zu fordern berechtigt biſt,
muthwillig aufopferſt, um Andern, daß ſie dich zum Gegenſtand
ihres Spottes erniedrigen, eine vorübergehende Freude zu machen:
ſo biſt du ungerecht gegen dich ſelbſt, um Güte für Andere zu
haben. Wenn du deine eigenen nothwendigen Geſchäfte ver—
ſäumſt, um Andern in Dingen zu dienen, die ihnen ohne Scha⸗
den auch wohl entbehrlich fein könnten: fo biſt du ungerecht gegen
dich, um Anderer Ueberfluß zu vermehren. Wenn du dir ſelbſt,
deiner Familie, deinen Kindern das zum Lebensunterhalt und
anſtändigen Fortkommen nöthige Vermögen ſchmaͤlerſt, um An⸗
dern, die deſſen nicht fo nöthig bedürfen, Geſchenke zu machen:
ſo biſt du ungerecht gegen dich und die Deinigen und, wenn gleich
bei den beſten Abſichten, ein Verſchwender, zum Beſten ſolcher,
- Mr
die ohnehin nicht darben würden. Wenn du beſcheiden zurück⸗
trittſt, während ein Anderer ein Amt begehrt, dem du gewachſen
biſt, wenn Jener ſchon Amt und Brod hat, während du mit den
Deinigen noch Noth leideſt: ſo iſt deine Beſcheidenheit eine Un⸗
gerechtigkeit gegen dich, während du dem Vortheil ſchaffeſt, der
ihn ſchon hat.
Dieſer einfache Grundſatz alſo: immer das Nothwendige, das
Unentbehrliche, das Gerechte zuerſt zu thun, und dann erſt gegen
ſich oder Andere Billigkeit, Gütigkeit und das Ueberflüſſige zu
uͤben, wird uns, wenn wir ihn mit Klugheit befolgen, beim
Streit der Pflichten immer zu der beſſern Wahl führen.
3) Weil wir aber Andere lieben ſollen, wie uns ſelbſt, ſo
geht daraus auch die Pflicht hervor, daß, wo wir mehrern
Andern einen entſchiedenen Nutzen ſtiften können, wir
unſern eigenen Nutzen hintanſetzen müſſen. — Jeder
Menſch iſt nur ein Theil der menſchlichen Geſellſchaft; er muß
ſich ſelbſt alſo im Fall der Noth willig für das Ganze aufopfern,
und nicht verlangen, daß das Ganze aufgeopfert werde für
den Theil.
Willig und freudig alſo ſoll der Chriſt, wenn das Ganze in
Gefahr iſt, ſeine eigene Sicherheit verachten; er ſoll, wenn das
Vaterland feiner Unterſtützung bedarf, mit Freuden feine Bei⸗
ſteuer, ſeine Abgaben entrichten, wenn ſie gefordert werden, ja
er ſoll durch fein patriotiſches Beiſpiel Andere ermuntern; er ſoll,
wenn das Vaterland mit dem Untergange bedroht iſt, und ſeinen
Arm zur Vertheidigung begehrt, willig hineilen, und das Glück
des Landes durch ſein Blut zu erkaufen ſuchen.
Darum ſeid ihr uns und allen Zeitaltern und Nachkommen
immerdar ehrwürdig, ihr hocherhabenen Menſchen, die ihr euch
und eures Lebens Ruhe und eures Lebens Freuden muthig zum
Opfer dargebracht habet für das Glück der Zeitgenoſſen! Darum,
verherrlichen wir eure Namen, theure Helden, die ihr in den
ſchönen Tod fürs Vaterland geeilt ſeid! Darum preiſen euch, ihr
heiligen Männer, unſere Lobgeſänge, die ihr fur die Wahrheit
der Religion euer Leben hingabet, und ven n derſelben mit
euerm Blute beſiegeltet.
„ - He
O Gott, laß auch mich in den Stunden einer großen Prüfung
dieſen chriſtlichen Heldenſinn beweiſen! Ferne von meinem Herzen
ſei die kalte Selbſtſucht, die niedrige Eigenliebe, die nur dann
Andern nützlich ſein will, wenn ſie ſelbſt dabei Vortheil ziehen
kann; die von keinen Selbſtaufopferungen weiß, und das Geld
höher als Tugend, die weltliche Ehre höher als die ewige Wahr⸗
heit, das Leben höher als die Unſchuld und Heiligkeit des Ge⸗
müthes ſchaͤtzt.
11.
Der Menſch und ſein e That.
Spr. Sal. 16, 3.
Wie ſtolz gehſt du, o Sterblicher,
Auf deine eig'ne Kraft daher!
Wie ſtegreich herrſchen deine Blicke,
Wie trotzeſt du der Zukunft Tücke!
Doch ach! ein Athemzug, der fehlt,
Hat dich und deinen Stolz entſeelt.
Kühn hebſt du dein Beginnen an,
Denn wohlberechnet iſt dein Plan;
Haſt tiefen Blick und Löwenkräfte,
Und doch mißlingen die Geſchäfte!
Du haſt nur Willen, Gott hat Nath;
Du haſt den Wunſch nur, Gott die That.
Wer iſt es, der die Himmel lenkt,
Und Freud und Leiden niederſenkt?
Wer iſt's, der unſer Schickſal führet,
Der Nationen Herz regieret?
Wir haben Willen, Gott hat Rath;
Der Menſch die Abſicht, Gott die That.
Es iſt umſonſt! Wir ringen und ſtreben nach dem Beſſern, und
arbeiten gegen den Strom der Ereigniſſe; aber die Wellen des
Lebens ſchlagen hoch gegen uns an, und brechen, ach, oft nur u
früh, unſere Kraft. Wie viel hundert Entwürfe machte ich nicht
ſchon ſeit meiner Kindheit; wie viel tauſend Wünſche bewogen
mich zu tauſend verſchiedenen Handlungen! Und was iſt aus den
hundert Entwürfen und tauſend Wünſchen geworden? Oft ſah
ein Tag ſie zugleich entſtehen und auch ſterben; oft trug ich ſie
„
von einem Jahre feſt und treu in das andere hinüber, und ruhete
nicht; und endlich, wenn ich glaubte, dem längſt begehrten Ziele
nahe zu ſein, warf mich wieder ein kleiner, an ſich unſcheinbarer
Zufall weit davon zurück, und ſeufzend gab ich die Hoffnung auf,
die mich Jahre lang freute und täuſchte.
Denke ich an die ſchönen Stunden meiner Kindheit zurück,
o wie war doch da Alles anders! Wie ungeſtüm verlangte ich
bald dies, bald das zu werden, bald dies, bald das zu haben!
Von taufend Hoffnungen ging nicht eine in Erfüllung; eine ver—
drängte die andere; Blüthen lachten in Fülle — aber ein leiſer
Hauch des Himmels, und die alten fielen ab; ich ſah umſonſt
nach den Früchten umher.
Und ich ward älter, und meine Empfindungen wurden nur
reizbarer: neue Begierden erwachten in meiner Bruſt; glänzendere
Plane wurden emporgebaut, und mit allem Zauber geſchmückt,
deſſen eine warme Einbildungskraft fähig iſt. Sehet die Jung⸗
frau, wie ſie ſich in ſtillen Träumen von ihrer Zukunft verliert,
und dem Ziele ihrer geheimen Wünſche nachſtrebt. Sehet den
Jüngling, der im hohen Gefühle ſeiner Freiheit und Kraft die
ganze Welt mit ihrer Herrlichkeit offen vor ſich liegen ſieht, und
Alles erringen zu können glaubt. Dann betrachtet neben dieſen
noch in ihrer Einbildungskraft Beglückten den reifern Mann, die
Hausfrau und Mutter. Sie gehen ſchon ernſter und gelaſſener
neben den Saaten hin, die fie ausfäeten, von denen Tauſende
im Keime ſtarben, Tauſende aufwuchſen, um vor ihrer Reife von
einem unerwarteten Sturme geknickt zu werden. Ach, von den
Kindern, die ihr Stolz ſein ſollten, liegen ſchon die geliebteſten
im Grabe; von den Freunden, mit welchen ſie ein ſeeliges Leben
zu durchleben gedachten, iſt ſchon mehr als die Hälfte von ihrer
Seite verſchwunden; von dem Auſehen, von dem Wohlftande,
von dem Wirkungskreiſe, auf welchen ſie ſich Rechnung machten,
iſt kaum der Schatten erſchienen.
Mit Entſagung wandelt der Greis dem Grenzſteine ſeiner
Tage zu. Er blickt nur ungern hinter ſich zurück. Die Ver⸗
gangenheit iſt das Land der Täuſchungen, die Zukunft das Land
der Hoffnungen. Er richtet ſeinen Blick über das Leben empor,
„ Be
dahin, wo die Tauſchungen enden müſſen. Er ſpricht: Ich hatte
einſt Löwenkraft, ich hatte Rieſenmuth, ich hatte Vorſicht und
eiſerne Beharrlichkeit — allein mein beſter Wille ward vereitelt,
und meine Arbeiten hatten ganz andere Folgen, als ich von ihnen
forderte.
Es iſt wahr, es ſcheint nicht allen Menſchen ergangen zu ſein,
wie mir. Es ſcheint, Viele haben ihre Abſichten vollkommen
erfüllt, und haben erreicht, was ſie ſich vorſetzten, und ſind
geworden, was fie werden wollten. Wenn ich aber ihre Lebens-
umſtände genauer unterſuche, werde ich doch bei Allen mit Er-
ſtaunen gewahr, daß ſie zu dem, was ſie erhielten, das Wenigſte
beitrugen; daß ſie von beſondern Umſtänden auf eine außerordent⸗
liche Art begünſtigt wurden; daß fie oft ganz gegen ihre Abſich⸗
ten zu Dingen gebracht wurden, die nachher ihren Vortheil aus⸗
machten; daß Natur und Menſchen zuſammenwirkten, um ſie zu
bereichern, ſie zu erheben, ihren Ruhm, Anſehen, Gewalt und
Einfluß zu vermehren, während Andere, die vorher weit mach⸗
tiger, reicher und geachteter als ſie waren, alle ihre Macht und
Klugheit ſcheitern ſahen, und von ihrer alten Höhe niederſanken.
Die Wahrnehmung, wie ungleich der Erfolg menſchlicher
Thaten war, und wie die Sterblichen gewöhnlich einen ganz an⸗
dern Gang zu gehen gezwungen ſind, als ſie einzuſchlagen Wil—
lens waren — dieſe Wahrnehmung hat von jeher die Aufmerk⸗
ſamkeit und das Nachdenken der Menſchen beſchaftigt. Viele Völ⸗
ker des Alterthums, mit unvollkommenen Begriffen von der
Gottheit, glaubten daher ein im Verborgenen waltendes, blindes,
eiſernes Schickſal, welches die Begebenheiten des Himmels und
der Erde regiere. Sie glaubten ein Schickſal, welches, ohne den
Werth oder Unwerth der Menſchen und ihre Abſichten zu kennen
oder zu achten, mit denſelben willkürlich ſpiele, wie mit willen⸗
loſen Maſchienen.
Anders urtheilt der weiſere Chriſt auf der Stufe einer edlern
Erkenntniß von Gott, dem allerweiſeſten und mächtigſten Herrn
des Weltalls. Es iſt kein blindes Schickſal, welches, ohne von
ſich ſelbſt zu wiſſen, und ohne Plan, mit dem Wohl und Weh
der Menſchen tändelt: ſondern eine höchite Weisheit, welche wun⸗
au U ae
derbar das Ganze, wie das Einzelne, das Schickſal des kleinſten
Wurmes, wie des größten Volkes führt, damit Alles wohl er⸗
halten, Alles zu einer größern Vollkommenheit hinaufgeleitet werde.
Der Menſch hat nichts in feiner Macht, als ſich ſelbſt.
Nichts, als ſich ſelbſt; auch ſogar kaum dasjenige, was mit
ihm am engſten verbunden iſt, ſein Leib, iſt beſtändig in ſeiner
Gewalt. Nur er ſelbſt, der Menſchengeiſt, gehört ſich. Nur
der Geiſt hat Willen. Er kann über ſich gebieten. Er kann ſich
beſtimmen, nach ſeinen beſſern Einſichten, nach den Ordnungen
ſeiner Vernunft zu denken, nach den ewigen Geſetzen Gottes zu
wollen und zu handeln, oder das Gegentheil von allem dieſem
zu thun, und den Reizen der ſinnlichen Begierden zu gehorchen.
Aber mehr, als ſich, hat der Menſchengeiſt nicht in ſeiner Macht.
Der Gedanke gehört ihm, der Wille gehört ihm, die That
gehört ihm; aber die Folgen der That liegen ſchon außer ihm.
Er wirft ſeine Handlung in den Strom des Lebens hinaus; nun
wird ſie das Spiel von tauſend kleinen, zuſammenwirkenden
Wellen, deren Kraft und Wirkung er nicht berechnen kann. Von
Vielem, was er unternimmt, von Vielem, woran er die meiſte
Mühe, das größte Nachdenken verwendet hat, und wovon er ſich
die glänzendſten Erfolge verſprach, ärntet er die allergeringſten
Wirkungen. Mancherlei hingegen, wovon er ſich am wenigſten
verſprach, und was er nur nachläſſig, oft ohne beſondere Abſich⸗
ten, verrichtete, brachte die unerwartetſten Folgen hervor; ward
ihm von der Menge der Menſchen, die den Werth der Handlungen
nicht nach dem Willen, ſondern nach ihren Folgen beurtheilt, -
zum großen Verdienſt oder zum großen Fehler angerechnet.
So iſt alſo der Menſch und ſein Wille ſehr verſchieden von
ſeiner That und ihren Folgen. Läge die That eben ſo ſehr in
ſeiner Macht, als ſein Wille, ſo würde er ſelbſt Gott ſein.
Aber es iſt ein Gott außer uns! Er herrſcht, wohin unſere
Kraft nicht reicht. Er leitet die Umſtände, Zufälle und Schick—
ſale. Wir, mit unendlich beſchraͤnkten Einſichten, handeln gleich
Blinden in das dunkle Gewühl der Begebenheiten hinein, ohne
zu wiſſen, was daraus entſtehen werde. Nicht der Erfolg adelt
unſere That, ſondern der dabei gehabte Wille, die edle Abſicht,
ae
gibt ihr Werth; für das Uebrige Fönnen wir nicht bürgen, kaun
uns kein Sterblicher mit voller Gewißheit gut ſtehen.
O wie oft betrog ich mich daher ſelbſt, und richtete meinen
eigenen Werth nach den glücklichen oder unglücklichen Wirkungen
deſſen, was ich that! Wie konnte ich mich ſo ſehr hintergehen,
da ich doch von jener ernſten, großen Wahrheit ſchon durch zahl⸗
loſe, ſelbſtgemachte Erfahrungen längſt überzeugt war! Wie
konnte ich mich meiner Einſichten, meiner Kraft rühmen, daß
mir dieſes oder jenes vortrefflich gelungen ſei, ungeachtet durch
den kleinſten Zufall, den ich nicht vorherſehen, nicht abwenden
konnte, Alles anders geworden ſein würde! Warum bewunderte
ich ſo thöricht und kurzſichtig die erſtaunlichen Thaten mancher
Menſchen, da die außerordentlichen Folgen ihrer Unternehmungen
gar nicht ihr Werk, ſondern das Werk einer Macht ſind, die den
Schickſalen gebietet! Ein unvorhergeſehener Windſturm vernichtet
die größten Flotten; ein Froſt baut Brücken über Seen und
Ströme, daß feindliche Heere darüber gehen; ein unbemerkter
Zufall verräth die geheimſten Plane der Fürſten und vereitelt fie;
ein Umſtand geringer Art endet das Leben der Herrſcher, und
ändert das Schickſal ganzer Völker. Wer ſieht voraus, was die
naͤchſte Viertelſtunde bringt? Und wie bei dem Größten, ſo beim
Kleinſten.
Wie oft betrog ich mich, eite der Kenntniß dieſer
Wahrheiten, in der Beurtheilung anderer Menſchen, indem ich
ihre Güte oder Schlechtigkeit aus den Wirkungen ihrer Hand»
lungen beurtheilte! Habe ich nicht ſelbſt oft erfahren, daß Vieles,
was aus unreinen Abſichten geſchah, zuletzt für viele Menſchen
die wohlthätigſten Folgen hatte; und daß Vieles nachtheilig ein⸗
wirkte, was Dieſer oder Jener in den beſten Abſichten gedacht,
geſprochen und gethan?
Nein, ich will in Zukunft vorſichtiger in meinen Urtheilen über
Andere werden, ſo wie ich wünſchen muß, auch von Andern nicht
nach den Folgen meiner Schritte gerichtet zu ſein. Für nichts,
als ſeinen bei der That gehegten Willen, iſt der Menſch verant⸗
wortlich; alles Uebrige, was daraus erfolgt, iſt Werk und Leitung
der Vorſehung Gottes.
ln u
Darum will ich mit Salomo bei allen meinen künftigen Unter⸗
nehmungen ſprechen: „Befiehl dem Herrn deine Werke, jo wer⸗
den deine Anſchläge fortgehen.“ (Spr. Sal. 16, 3.) Handle
du nach Gottes Willen, im hohen Sinne Jeſu: was daraus wird,
iſt Gottes Sache. Du aus dir vermagſt nichts; auf ſeinem Segen
beruht Alles. f
Was iſt denn der Segen Gottes, von welchem wir
unſere Thaten begleitet zu ſehen wünſchen? Iſt es das
Gelingen unſerer Abſichten? O nein, wenn unſere Abſichten
immer gelängen, ſie würden oft großer Unſegen für andere
Menſchen, wie für uns ſelbſt ſein. Beſteht der Segen Gottes in
Erfüllung unſerer Wünſche? Gewiß nicht; denn wie thöricht ſind
oft die Wünſche kurzſichtiger Menſchen, und wie oft danken wir
dem Himmel noch ſpät nachher, wenn wir wahrnehmen, daß
gerade die Erfüllung unſerer ehemaligen Anne unfer größtes
Verderben geweſen fein würde?
Der Segen Gottes, welcher unſere Thaten und Arbeiten be⸗
gleitet, beſteht in den heilſamen Wirkungen, welche unſer Be⸗
mühen ſowohl für die Glückſeligkeit unſerer Mitmenſchen, als
auch für die Zufriedenheit unſeres eigenen Geiſtes hat. So er⸗
kennt der Weiſe den Gottesſegen nicht nur in der Erfüllung,
ſondern auch im Fehlſchlagen der Wünſche, die er hatte. Er ehrt
die Vorſehung, welche nicht das gelingen läßt, was auch beim
beſten Willen des kurzſichtigen Menſchen, Gutes zu thun, dem
großen Ganzen zum Verderben gereicht haben würde. Wer ſich
über vereitelte Wünſche viel betrübt, meiſtert der nicht die Thaten
der Vorſehung? Wer aus ſeinen Handlungen nicht auch die
Folgen hervorgehen ſah, die er ſelbſt im Sinne hatte, und darüber
ungehalten wird: ſteht er nicht da, als ein Tadler der heiligenden
und weltbeſeligenden Regierung des Höchſten? |
Abſicht und Wille find dein; die That und ihre Folgen find
Gottes! Baue daher Alles auf die Güte deines Willens. Nichts
auf die Wirkungen deiner Kraft; Alles auf die Weisheit des
Höchſten, Nichts auf die Vortrefflichkeit deiner Einſichten und
Entwürfe. Die Plane, welche dir zerriſſen, die Hoffnungen,
welche dir zerſtört werden, find für dein Heil zerriſſen und zerſtört.
|
|
„ BE
Am Segen des Höchſten iſt Alles gelegen! Wie tief
fühle ich dieſe Wahrheit, je länger ich lebe und Erfahrungen
mache! Aber dieſe Wahrheit muß mich nicht zu neuen Irrthümern
führen; ſie muß mich nicht zu dem Gedanken bringen: weil ich
denn doch aus mir nichts vermag, ſo will ich Gott die Sorge
laſſen. Wozu ſoll ich mein Nachdenken anſtrengen? Warum ſoll
ich ohne Unterlaß arbeiten, warum mich mit Mühen aller Art
quälen? Es iſt doch vergebens. Will Gott mich und mein Thun
ſegnen, ſo wird er mir auch aus der geringſten Saat, die ich in den
Acker ſtreue, hundertfältige Frucht erwachſen laſſen; und ſoll ich
nicht ärnten, ſo wird eine einzige Hagelwolke alle meine goldenen
Hoffnungen, alle Früchte meiner Sorgen und Bemühungen in
einem Augenblick niederſchlagen.
Auch der Leichtſinnige, auch der Träge ſpricht bei ſich: Am
Segen des Höchſten iſt Alles gelegen! und rechtfertiget ſo bei
ſich ſelbſt feinen eigenen Leichtſinn oder ſeine Unluſt zur Arbeit.
Irret euch nicht, Gott läßt ſich nicht ſpotten!
Um auf Gottes Segen für unſere Handlungen hoffen zu
können, müſſen wir handeln. Soll der Herr deine Aernten
ſegnen, mußt du geſäet haben! Willſt du aber gute Früchte ärn⸗
ten, darfſt du kein Unkraut ausſäen. War dein Wille ſchlecht:
wie kannſt du erwarten, den Lohn guter Thaten zu ſammeln?
Der Segen Gottes iſt die gute Wirkung, welche noth-
wendig unſern Thaten folgt, wenn ſie mit den Geſetzen
der Weltregierung und mit den vorhandenen Umſtän—
den übereinſtimmen. Sind unſere Handlungen im Wider⸗
ſpruch mit den göttlichen Ordnungen und denjenigen Umſtänden,
die er um uns her aufſtellte, fo erfolgt Mißlingen daraus, und
Unheil für uns und Andere.
Iſt dir am Segen Gottes für deine Unternehmungen gelegen,
ſo beginne keine Unternehmung, ohne den beſten und reinſten
Willen, Gutes und Nützliches zu bewirken. Erwarte von dem
allliebenden Vater keinen Beifall, und von ſeiner Weltordnung
keinen Beiſtand, wenn du voll Haſſes gegen Mitmenſchen auf
Rache ſinnſt. Und wenn dir die Sache gelingt, erwarte nicht,
daß ſie deiner eigenen Glückſeligkeit vortheilhaft ſei. Du haſt
ir WE: so
Andern geſchadet, dir ſelbſt aber am meiſten. Forderſt du den
Segen Gottes, ſo fordere ihn nicht für ſchwarze Abſichten.
Doch auch der beſte und reinſte Wille iſt bei unſern Hand⸗
lungen noch nicht hinreichend, uns den vollen Beifall Gottes
für dieſelben und ihr Gelingen zu verſichern. Wir müſſen auch
darauf denken, daß dieſer unſer gutgemeinter Wille übereinſtimme
mit den Verhältniſſen und Umſtänden, welche uns umgeben.
Auch ſie ſind Gottes Werk und Gottes Wille. Darum verlieh
uns der himmliſche Vater Verſtand, daß wir, ehe wir eine Unter⸗
nehmung anfangen, uns gehörig von den Umſtänden unterrichten
konnen, in welchen wir etwas auszuführen gedenken; daß wir
ſie hinlaͤnglich prüfen, und berechnen, welchen Beiſtand oder
welche Hinderniſſe ſie uns verſprechen. Wer allen Verhältniſſen
und Umſtänden zum Trotz handelt, rennt wie ein Raſender gegen
die eiſernen Schranken, die ihn umringen; wer bei aller Güte
feines Willens leichtſinnig und unbedachtſam handelt, hat ſich's
ſelbſt zuzuſchreiben, wenn das, was er thut, mehr Schaden als
Vortheil bringt. Denn er verſäumte, den Willen Gottes zu be⸗
obachten, der ſich in den gegenwärtigen Verhältniſſen des Lebens
deutlich ausſpricht. Er gleicht dem Unklugen, der, um ſich zu
waſchen, in den verſchlingenden Wirbel eines Stromes ſpringt,
und für dasjenige auf Gottes Beiſtand hofft, was durch Unklug⸗
heit Böſes daraus entſtehen möge.
Erſt wenn du von der Güte deines Willens volle Ueber⸗
zeugung haſt, und daß du mit deinem Vorhaben keinem Menſchen
Unglück und Schaden verurſacheſt; erſt wenn du deinen Entwurf
forgfältig nach den obwaltenden Umſtänden berechnet und ein-
gerichtet haſt, ſo daß du weißt, ob deine Mittel zum Zweck hin⸗
reichen, ob du nicht zu viel auf Dinge baueſt, die du gar nicht
kennſt: erſt dann empfiehl dem Herrn deine Werke, fo werden
deine Anfchläge fortgehen. Erſt dann hoffe auf den Segen des
Hoͤchſten — und er wird dir zu Theil werden, wenn das Ge-
lingen deiner Anſchläge wirklich dein Heil bewirken kann.
Denn ſo tief auch menſchlicher Scharfblick in das unendlich
verworrene Spiel der Begebenheiten und Möglichkeiten eindringe;
fo genau auch menſchliche Klugheit Alles erwäge, berechne, ordne
u
und benutze, was fie kennt — immer bleibt fie bejchränft, und
ahnet tauſend Ereigniſſe nicht, die aus dem Schooſe der nächſten
Stunde hervortreten. Immer alſo liegt die Unternehmung, auch
des klügſten Mannes, in der Gewalt Gottes, und die Folgen
ſeiner That kann ſich nie ein Sterblicher als eignes Verdienſt zu⸗
ſchreiben — ſie ſind Sache der Alles leitenden Vorſehung.
Darum, war deine Abſicht rein, deine Ueberlegung reif, ſo
weit deine Einſicht hinreichte: dann gehe hin und handle, und
befiehl dem Herrn deine Werke mit jener Zuverſicht, die dem
Weiſen geziemt, auf die Güte des Allvaters. Dein Wille iſt gut,
aber der Wille des Allweiſeſten iſt beſſer.
Vater im Himmel, nicht mein Wille geſchehe, ſondern der
Deinige. So betete Jeſus, mein Heiland, zu Dir: ſo bete auch
ich. Und wenn mein Wille alſo übereinſtimmt mit dem Deinigen,
daß er in ſegensvolle Thaten für mich und Andere gedeiht: o ſo
mache mich dies nicht ſtolz auf meine Klugheit und Kraft — wie
nichtig ſind doch dieſe! — aber es erfreue mich tief, und ermun⸗
tere mich, emſig Deinen Abſichten zur Beſeligung meiner und
Anderer nachzudenken. Und wenn Du in andern Dingen mein
Bemühen nicht ſegneſt; wenn meine Seufzer vergebens ſind,
meine Sorgen, meine Anſtrengungen fruchtlos bleiben: ſo ſoll
mich dies nicht muthlos machen, nicht an Deiner Gnade und
Liebe mich zum Zweifler werden laſſen. Denn daß das nicht ge⸗
ſchah, was ich beabſichtigte, auch das iſt Liebe und Gnade von
Dir, und ein von mir mit Vereitelung meiner Plane abgewand⸗
tes Uebel iſt Segen von Dir! — O wie viel Segen aus Deiner
väterlichen Güte wird mir oft zu Theil, ohne daß ich's weiß und
vermuthe! Freilich mag oft mein Herz bluten, wenn ich plötzlich
die Freuden und Hoffnungen einer langen Zeit vernichtet, wenn
ich unfägliche Arbeit und Mühe, die ich hatte, verloren ſehe, ohne
Frucht für mich — wenn meine heißeſten und theuerſten Wünſche
umnvollführt dahin ſterben müſſen, und mir wohl gar das gefürch⸗
tete Gegentheil derſelben zum Looſe wird. Allein wenn auch
meine Sinnlichkeit blutet, Gott, mein Geiſt ſoll Dich dennoch
verherrlichen und preiſen; mein Auge ſoll dankbar und vertrauens⸗
voll auch unter ſeinen Schmerzensthränen zu Dir emporlächeln;
III. 5
1
denn Du biſt Gott, mein Gott. In Dir allein iſt Weisheit und
Barmherzigkeit. Von Dir ſtrömt Segen allein herab auf die
Erſchaffenen, und was der heutige Augenblick bezweifelt, das
wird vom folgenden Jahre mit Anbetung geprieſen; denn Dein
iſt immer das Reich und die e und die Herrlichkeit, in allen
Ewigkeiten. Amen.
12. a
Der Kampf des Weiſen mit ſeinem Schickſale.
1. Tim. 6, 12.
Du kamſt, mein Heiland! Da zerfloſſen nicht
Die Wolken unter Dir in Licht,
Dem Kommenden zu Ehren.
Die Berge wurden nicht erregt,
In ihren Gründen nicht bewegt,
Du kamſt nicht, zu zerſtören.
Dich kündigte kein Sturmwind an,
Kein fließend Feuer ging voran,
Kein Donner hallte und kein Blitz
Flammt durch die Himmel, Deinen Sitz.
Du kamſt zur Welt,
Zur Rettung der gefall'nen Welt,
Still, wie der Thau der Nächte fällt.
Nühmet immerhin, Staubgeborne! die unvergänglichen Werke
eurer Künſtler, und vergöttert ihren ſchöpferiſchen Sinn, mit
welchem ſie gleichſam den todten Marmor zu beleben und eine
blühende Welt auf dem farbigen Tuche hervorzurufen verſtanden.
Was ſind ihre Meiſterwerke? Todte Nachildungen des lebendigen
Schönen in der Schöpfung; äußere Umriſſe und weſenloſe For⸗
men des Regen und Seelenvollen in der unendlichen Natur; kleine
Geſtaltungen, die noch niemals die Vollkommenheit des Wirk—
lichen erreichten.
Verherrlichet immerhin, Staubgeborne, eure Helden und
Eroberer; bewundert die Kühnheit und das Glück ihrer Unter⸗
nehmungen, ihre Entſchloſſenheit in der Noth, ihre Kaltblütig-
keit in der Gefahr, den Glanz ihrer Beute, ihrer Siege.
— ..
Erhebet immerhin, Staubgeborne! die hohe Weisheit eurer
Weiſen, und wie ſie mit ihrer Arbeit die Felder der Wiſſenſchaft
blühend machten, die Summe der Entdeckungen und Erfindun⸗
gen vergrößerten; den Wohlſtand von Staͤdten und Völkerſchaften
glänzender machten. Wie beſchränkt war ihr edler Wirkungs⸗
kreis; wie gering zuletzt und unſcheinbar die Summe alles Guten,
was ſie leiſteten! Weiſere ſtanden jederzeit gegen die Weiſen auf,
und zerſtörten, was jene für alle Weltalter erbaut zu haben
glaubten. Waren ſie nicht endlich Alle Schüler des göttlichen
Weiſen von Nazareth? Und die ihn nicht kannten, waren ſie nicht
Alle in den wichtigſten Angelegenheiten der Menſchheit beſchränk—
ter, als heute jeder Jünger, jede Jüngerin Jeſu Chriſti, die
durch ihn mit froher Zuverſicht auf eine beſeligende Ewigkeit zum
höchſten Weſen beten, wie Kinder zu einem Vater?
Wer hat, wie Jeſus Chriſtus, durch ſein gewaltiges Wor
die ganze Geiſterwelt erſchuͤttert? Wer, wie Jeſus, die Träume
des Irrthums von der Menſchheit verbannt, und die Seelen zu
ihrer urſprünglichen Würde und Beſtimmung zurückgeführt? Wer
hat, wie Jeſus, uns das Heiligthum der liebenden Gottheit offen-
baret, die Vernunft der Sterblichen mit ſich ſelbſt und der ganzen
ſie umringenden Natur wieder in Einklang gebracht? Wer hat,
wie Jeſus, die Gottesſprache geſprochen, daß ſie der Unmün⸗
digſte im Volk begriff, und der Weiſeſte unter den Weiſen daraus
das Höhere erlernte? Wer hat, wie Jeſus, die Erde wieder mit
dem Himmel vermählt, die Menſchheit mit Gott verföhnt?
Ja, Weltverſöhner zu fein, dies war fein göttlicher Beruf,
und er erfüllte ihn mit göttlicher Kraft. — Seinesgleichen erſchien
nie wieder. Und hätte vor ihm das ganze Menſchengeſchlecht an
keinen Gott geglaubt: das heilige Licht, welches er brachte, würde
den Glauben in allen Herzen entzündet haben.
Er verſöhnte die Welt mit Gott — nicht Gott mit der Welt.
Denn Gott liebte ſeine Erſchaffenen mit ewiger Liebe; ſeine Lang⸗
muth ertrug ihre Fehler; in ihm war nie ein Wechſel des Sinnes,
nie die unreine Leidenſchaft des Zornes. Aber die Menſchheit war
durch ihren Irrthum, durch ihre Sündhaftigkeit entzweit mit dem
Allerheiligſten. Sie, ſtatt das Göttliche und Ewige zu ſuchen, zog
1
das Sinnliche und Irdiſche vor, weihte ihre Seele, ſtatt dem
Himmliſchen und Unvergänglichen, nur dem Staube und deſſen
Freuden. Das Höhere im Menſchen, der Geiſt, floh gleichſam
Gott und verlor ſich im Irdiſchen. Da erſchien Jeſus, führte die
Seelen zur Gottheit zurück, entſündigte uns durch ſein Wort und
ſeinen Tod, und verſöhnte uns mit unſerm wahren Heil, mit Gott.
Dies große Werk zu vollbringen, war die erhabene Aufgabe
ſeines Daſeins. Aber die Welt ſelbſt und alle äußern Verhält⸗
niſſe ſchienen ſich gegen ihn zu empören, und ſein heiliges Unter⸗
nehmen zu hindern. Sein ganzes Leben war ein fortwährender
Kampf ſeiner Grundſätze und Abſichten gegen die furchtbarſten
Schickſale. Er aber beſtand den Kampf und ging zuletzt ſiegreich
aus demſelben hervor. Er, deſſen lange Niemand achtete, zog
zuletzt die Augen der ganzen Welt auf ſich; ihm, dem oft fehlte,
wohin er ſein Haupt legen konnte, weihten alle Welttheile ihre
Tempel; vor ihm, den einſt der Niedrigſte im Pöbel verſpotten
mochte, beugten endlich die Könige der Erde ihre Knie!
Jeder Menſch hat ſeine Schickſale, aber nicht jeder hat den
Muth, ihnen entgegen zu ſtreben, ſondern läßt ſich von dem Spiele
der Umſtände umhertreiben, wie eine Feder in dem Wirbel des
Windes. Ein ſolcher Menſch iſt ohne Kraft, weil er vergißt, daß
ihn eine höhere Kraft bewohnt, durch die er ſelbſt das Schickſal,
das heißt, die Verkettung der Begebenheiten und Zufälle, beſiegen
könne. Er iſt gleichſam nur ein willenloſer, ſchwacher Staub,
dem die Seele fehlt, oder deſſen Seele von dem Staube regiert
und gelähmt wird, der ſie umfängt.
Nur darin erkenne ich das Daſein eines ſelbſtſtandigen thä—
tigen Geiſtes, daß er ſich im Menſchen ausſpricht, und ſeine
Grundſätze, ſeinen Willen äußert. Darin erkenne ich, daß dieſer
Geiſt frei ſei, wenn er nur ſeinen eigenen Willen thut, nur
ſeinen Geſetzen folgt, nämlich den Geſetzen der Vernunft, der
Wahrheit, der Tugend, welches die Geſetze der Gottheit ſind, wie
ſie Jeſus offenbarte. Ein Geiſt aber, welcher den Geſetzen der
Sinnlichkeit gehorcht, und den Gelüften feines Leibes, der Wolluſt,
Bequemlichkeit, Habſucht, Ruhmliebe folgt, oder ſich von den
Umſtaͤnden beherrſchen laßt, ob er rechtſchaffen fein wolle, oder
— 101 —
nicht — der iſt ein willenloſer Sklave feines Körpers, ein Sklave
der Umſtände und Begebenheiten. 5
So wie Jeſus das Urbild der höchſten menſchlichen Weisheit
war, ſo iſt auch der wahre Chriſt ein wahrer Weiſer. Der Weiſe
aber gibt ſich zu erkennen durch die erhabene Stärke ſeines Wil⸗
lens, durch die ſiegende Kraft ſeines Geiſtes, mit der er, allen
ſinnlichen Lockungen, allen Unannehmlichkeiten, allen Schid-
ſalen, allen Hinderniſſen zum Trotz, dasjenige thut, was er für
recht und wahr und pflichtgemäß und gottgefällig erkannt hat.
Man kann ſeine Gebeine in Feſſeln ſchlagen, aber nicht ſeine
Grundſätze; man kann ſeinen Leib tödten, aber nicht ſeinen Geiſt.
Dieſe Seelengröße, mit welcher der Weiſe den Stürmen des
Lebens begegnet, dieſer Kampf ſeiner beſſern Ueberzeugungen und
Grundſätze mit den Schickſalen, die ihn vergebens beugen wollen,
iſt jederzeit eines der rührendſten und ehrwürdigſten Schauſpiele.
Es iſt etwas Göttliches darin, wenn er, ſtatt ſich von ſeinen
ſinnlichen Schwächen übermannen zu laſſen, fie beſiegt; wenn er,
ſtatt von Begebenheiten und Ereigniſſen aller Art in ſeinen Grund—
ſätzen wankend zu werden, ſtandhaft dem Schickſal entgegenſtrebt,
und ſich über daſſelbe erhebt. Da wird Jedermann inne: wahr-
lich, der Menſch iſt mehr als Staub, mehr als das willenloſe
Werk der Zufälle; er iſt ein Geiſt, eine Kraft, göttlichen Ur—
ſprungs, erhaben über das Vergängliche der Dinge, der Herr—
ſchaft und Ewigkeit würdig.
Diieſe beharrliche Denkart, welche den Weiſen auszeichnet,
der in den Fußſtapfen des göttlichen Welterlöſers wandelt, iſt
aber keineswegs zu verwechſeln mit jenem kleinlichen Eigenſinn
und mit der vernunftwidrigen Hartnäckigkeit, vermittelſt welcher
manche Menſchen ihre Abſichten und Wünſche im gewöhnlich
Leben durchſetzen wollen, es möge für ſie und Andere daraus
entſtehen, was wolle.
Die Standhaftigkeit des Weiſen beſteht in unbeweglicher
Feſtigkeit ſeines wohlüberlegten Willens und ſeiner tugendhaften
Grundſätze gegen alle innerliche und aͤußerliche Gewalt. Er zeigt
ſie im Kampfe mit ſeinen eigenen Leidenſchaften, welche die Tu—
gend in ihm untergraben wollen; er zeigt fie in der Unerſchrocken—
— 102 —
heit, mit welcher er den Gefahren entgegengeht, die ihn ſeiner
Tugend und Wahrheit willen bedrohen; er zeigt ſie in der ent⸗
ſchloſſenen Erhabenheit über kleinliche Bedenklichkeiten; er zeigt
ſie in der bewundernswürdigen Geduld, mit welcher er alle Uebel
tragt, die außer feiner Gewalt find; er zeigt fie in der Heiterkeit
und Selbſtgleichheit ſeines ganzen Weſens, wie ſeine Seele, im
Bewußtſein, nur das Allgemeinwahre, nur das Allgemeingute,
nur das Göttliche zu wollen, voll unzerſtörbarer Ruhe iſt.
Die Hartnaͤckigkeit der Thoren hingegen beſteht in der leiden⸗
ſchaftlichen Beharrlichkeit des Willens für eigennützige Abſichten;
im Feſthalten von Meinungen, die nur irdiſche Verhältniſſe,
häusliche und bürgerliche Angelegenheiten betreffen, und unter
veränderten Umſtänden wahr oder falſch, früher nützlich, ſpäter
ſchädlich ſein können; im Verſpotten aller Klugheit, indem man,
um ſeine Entwürfe durchzutreiben, weder auf Zeit, noch Ort,
noch Menſchen Rückſicht nimmt, wie ſie ſind; im eigenſinnigen
Stolz, indem man Andere zwingen will, ihren Willen, ihre Mei⸗
nung, ihre Wünſche für die unfrigen fahren zu laſſen.
Es zwingt der Weiſe Niemanden ſeine beſſern Ueberzeugun⸗
gen auf, aber auch er läßt ſich nicht zwingen, ſie zu verläugnen.
Zwar fordert er nicht mit Gewalt, daß Jeder nach den von ihm
bekannten Grundſätzen handle; aber ihn kann weder Hoffnung
noch Furcht, weder Wolluſt noch Gefahr bewegen, anders als
tugendhaft und wohlthätig für das Glück ſeiner Mitbürger, für
Recht, Wahrheit und Unſchuld zu handeln. Freilich will er nicht
die gebieteriſchen Umſtaͤnde gewaltſam ändern, daß fie feinen Ab—
ſichten beſſer entſprechen, aber die Gewalt der Schickſale kann ihn
auch nicht ändern, ſo zu denken, zu handeln, zu leben, wie er es
für göttlich, wahr und recht hält. Vielmehr er nimmt mit Klug⸗
heit Rückſicht auf Ort, Zeit und Menſchen, wie ſie eben ſind,
um ſie zu ſeinen gemeinnützigen, edeln Zwecken zu benutzen und
zu leiten, und lernt ſo fein Schickſal beherrſchen, Verhaͤltniſſe
unterjochen, ſtatt daß fie den ſchwachen Menſchen beherrſchen
und leiten.
So handelte der göttliche Weiſe Jeſus Chriſtus. Mit dieſer
— 18 —
Erhabenheit des Gemüths trat er in den Kampf gegen die Schick⸗
ſale, die ſeiner harrten.
Er war von dunkler Geburt, ohne hohen bürgerlichen Rang,
ohne glaͤnzenden Reichthum; auf feinen Wink flogen keine Kriegs⸗
heere, bewegten ſich keine Nationen. Und dennoch wollte er eine
große Verwandlung des Menſchengeſchlechts; den Sturz der in
allen Welttheilen ſchimmernden Altaͤre der Götzen; die Anbetung
des allein wahren Gottes, und daß Könige auf Thronen und
Bettler an den Krücken den Worten ſeiner Weisheit folgten.
Welch ein Unternehmen! — „Iſt dies nicht des Zimmermanns
Sohn von Nazareth?“ fragten ſpöttiſch, die ihn in ſeiner Dürf—
tigkeit dahinwandeln ſahen. Unerſchüttert aber wandelte Jeſus
die erkorne Bahn für das Heil des menſchlichen Geſchlechts, und
zur Beſeligung derer und ihrer Nachkommen, die ſein ſpotteten.
Seine Herkunft, ſeine Armuth waren ihm keine Hinderniſſe.
Was ſind denn Gold und Geburt in der Geiſterwelt? — Er
wählte zu ſeinen Jüngern einfache, unverdorbene, für ſeine Lehren
empfängliche Männer, die, arm und unbekannt wie er, an keinem
Gelde und an den Vorzügen keines Standes hingen. Am Jordan
lehrte er, und nach Jahrtauſenden ſchallt ſeine Gottesſtimme durch
alle Länder des Erdbodens, über alle Weltmeere. f
Was ewig wahr und ewig gut iſt, das bedarf keiner Macht—
ſprüche von Thronen herab, keiner Kriegsheere, um ſiegreich zu
werden. Es bricht ſich ſelbſt ſeine Bahnen, entwaffnet die blinde
Menge und ſtürzt die widerſpenſtigen Thronen vor ſich hin in
den Staub. Groß iſt die irdiſche Gewalt des Geiſtes und des
ewigen Rechts und der unvergänglichen Wahrheit.
So trat Jeſus Chriſtus in den Kampf gegen das Schickſal,
unerſchrocken vor den Hinderniſſen ſeiner Herkunft und Armuth.
Er ſchritt nicht gewaltthätig wider die ihn umgebenden Verhält-
niſſe; aber er benutzte ſie und die Zeiten und die Menſchen, wie
fie ſich ihm darboten, um feine göttlichen Abſichten zu erreichen.
Und was auch geſchah, ſtandhaft vollführte er den erhabenen
Plan ſeiner Sendung; nichts lockte ihn von der erwählten Bahn,
nichts ſchreckte ihn von derſelben zurück.
Mehr als einmal ſammelte ſich um ihn her ein zur größten
— 14 —
Empörung reifes Volk. Tauſend und taufend Stimmen forder⸗
ten ihn auf, Roms Weltherrſchaft zu zertrümmern, und den wei⸗
land glaͤnzenden Thron Iſraels und Juda's wieder aufzurichten;
Tauſende und Tauſende boten ihm ihr Leben an, wenn er ſie
unter ſeinen Fahnen zum Schlachtfelde führen, und für Jeru⸗
ſalems Ruhm und für die Gräber ihrer Väter ſtreiten heißen
würde. „Hoſiannah dem Sohne Davids!“ ſcholl es von tauſend
und tauſend Lippen, als er aus ſeiner Einſamkeit hervortrat in
das Gewühl der volkreichen Hauptſtadt, die ſeines Winkes ge⸗
wärtig war. Doch unerſchütterlich beharrte Jeſus in feinen gött⸗
lichen Grundſätzen. Er verſchmähte die Heere, welche ſich für ihn
bewaffnen wollten; den Thron, der ihm geboten wurde; die
Pracht und den Ueberfluß des Palaſtes der Herrſcher, welcher
ihm geöffnet werden ſollte. Nicht die Anmuth des Reichthums,
welcher ihm zu Füßen lag, nicht die Silberſtimme des Ruhms,
die an ſein Ohr drang, nicht die Herrlichkeit der Gewalt und des
Einfluſſes, welche man ſeinen Händen zu übergeben entſchloſſen
war — nichts von Allem, was den gemeinen, ſinnlichen Men-
ſchen reizen kann, machte den Göttlichen von ſeinem Ziele ab—
wendig. Er wollte nicht die Rettung Juda's; er wollte mehr als
dies — die Rettung der Menſchheit!
So beſtand Jeſus von Nazareth den Kampf gegen die Macht
der ſinnlichen Begierden und Leidenſchaften, jo den Kampf gegen
das Schickſal. Es ſchwiegen ſeine Begierden; es erlag kraftlos
das Schickſal gegen die Hoheit ſeines unbeweglichen Willens.
Und mit derſelben Ruhe, mit welcher er eine Herrſcherkrone
abgelehnt hatte, ſah er die finſtern Stürme ſeines Lebens heran—
nahen — aber er wankte keinen Augenblick. Er kannte der Prieſter
Stolz und glaubenseifrige Wuth; jener Prieſter, deren Heuchelei
er entlarvt, deren Opfer er unnütz gemacht hatte. Er kannte des
Pöbels Wankelmuth, welcher morgen verdammt, den er heute
vergöttert, und der, da ſeine Anerbietungen verſchmäht waren,
an die Stelle getäuſchter Erwartungen Erbitterung und Groll
treten ließ. Er kanute die Unzuverläſſigkeit und Schwache mancher
ſeiner eigenen Vertrauten, die feile Treue eines Judas Iſcharioth,
den Ungeſtüm und wandelbaren Sinn eines Petrus, die Schüch⸗
Me
ternheit Aller. Er ſah ſeine Gefahren, ſeine Verfolgungen, ſeine
Leiden voraus, — aber dies ſchreckliche Schickſal, welches ihm
entgegentrat, es beugte ihn nicht, er wich ihm keinen Schritt
weit aus.
Er ging den ſchweren Gang zum Welterlöſertode — noch
verkannte ihn die ganze Welt — noch begriffen ihn ſelbſt ſeine
Jünger nicht — er hatte Niemand, der die Hoheit ſeiner Sen—
dung und ſeines weltbeſeligenden Zieles kannte — einſam ſtand
er in der Welt! den Blick auf Gott! Aber mit dieſem Blick trat
er muthig in das Grauſen des Todes ein.
Zweifle Niemand, daß der welterlöſende, Tod und Grab
beſiegende Held nicht auch Menſch war — Menſch, mit unſern
Gefühlen und Begierden. Ergriffen nicht auch ihn Furcht und
Entſetzen, als die entſcheidende Stunde kam? — Als er unter
Gethſemane's Delbäumen in furchtbarer Todesangſt verging, als
ſein Schweiß wie Blutstropfen ward, die auf die Erde fielen
(Luk 22, 44); als er betend auf ſein Angeſicht niederfiel, und
feine ganze Natur in Aufruhr gerieth gegen den furchtbaren Opfer-
tod, rief da nicht ſeine bange Seele zu Gott: „Meine Seele iſt
betrübt bis in den Tod! Mein Vater, iſt's möglich, fo gehe dieſer
Kelch von mir!“ Dennoch ſiegte ſein Geiſt über den Einfluß fei-
ner irdiſchen Empfindungen; dennoch wich er nicht von ſeinen
Grundſätzen und heiligen Zielen, ſondern er ſetzte mit erhabenem
Gemüthe hinzu: „Doch nicht wie ich will, Vater, ſondern wie
Du willſt!“ (Matth. 26, 39.)
Da ward das Urbild der Unſchuld von Verbrechern gerichtet;
da der Heiligſte, welcher jemals auf Erden gewandelt, von Sün⸗
dern zum Tode verurtheilt. Er ging, erſchöpft an Kräften, nicht
erſchoͤpft an Heldenmuth, den Gang nach Golgatha. Sein letztes
Wort zum Volke war das Wort des Troſtes und der Güte: „Ihr
Töchter von Jeruſalem, weinet nicht über mich, ſondern weinet
über euch ſelbſt und über eure Kinder!“ (Luk. 23, 20.) Treu
ſeinem göttlichen Zweck, war ſein letztes Gebet am Kreuze für
die Mörder, für die er liebend und ſegnend ſtarb.
So war der große Kampf vollbracht. Kein Schickſal hatte
ſeinen heiligen Willen bezwungen! aber er ſchwebte über die Er⸗
a -
eigniſſe feines Lebens, über den ohnmächtigen Zorn einer Welt
erhaben, die er beſeligen wollte, und die ihm vergeblich wider⸗
ſtrebte.
* Ja, Welterretter, Heiland, Jeſus Chriſtus! auch ich bin zum
ewigen Daſein berufen, auch mir winkt die Krone des beſſern
Lebens — ich kämpfe Dir nach! Soll ich ein ſchwankendes Rohr
im Winde ſein, ein Spiel des Zufalls, eine Beute des Staubes?
Bin ich nicht ein unſterblicher Geiſt, erkoren zur Vollkommenheit,
ausgerüſtet mit Einſichten des Guten, des Wahren und Ge⸗
rechten? Iſt das Wahre, das Gute und Gerechte, was ich erkenne,
nicht Gottes Sache? Wie, ſoll ich länger Gottes Sache zum
Raube meiner Leidenſchaften und ſinnlichen Neigungen werden
laſſen, die oft dagegen ankämpfen? Soll ich mich durch das ver⸗
änderliche, bald ſchmeichelnde, bald drohende Schickſal bewegen
laſſen, was ich für wahr erkenne, unwahr zu nennen, und was
gut iſt, nicht zu thun, ſondern das Schlechtere?
Nimmermehr! Weſſen Geiſt während des Menſchenlebens
nur ein Sklave des Körpers und ſeiner Einflüſſe iſt, wird er
nicht, wenn ſein Herr Staub wird, vielleicht mehr als er ſein?
Nur der große, erhabene Geift auf Erden iſt groß und erhaben,
auch wenn er losgeſchaͤlt vom Körper in die Ewigkeit übertritt.
So ſitzt Chriſtus, wie es die heilige Schrift nennt, zur Rechten
Gottes. Er iſt erhaben über alle Weſen dort, wie er hier auf
Erden war.
Ich will ihn eingehen, den großen, den göttlichen Kampf mit
Leidenſchaft und Schickſal für Tugend, Gerechtigkeit und Wahr—
heit. Ich will Jeſum, ich will Gott bekennen in meinen Hand-
lungen vor der Welt, und keine Gefahr fürchten. Auch ich werde
ſiegen durch den Ernſt meines Willens! ich werde im letzten
Augenblicke meines irdiſchen Seins ſprechen können: „Ich habe
einen guten Kampf gekämpft; ich habe den Lauf vollendet, ich
habe Glauben gehalten! Hinfort iſt mir beigelegt die Krone der
Gerechtigkeit, welche mir der Herr an jenem Tage, der gerechte
Richter, geben wird: nicht mir allein, ſondern Allen, die ſeine
Erſcheinung lieb haben.“ (2. Tim. 4, 7. 8.)
13.
Der Meuſch ein Schöpfer feines Schick ſals.
1. Kor. 3, 6 — 9.
Wie Manchem ward das Glück,
Das Gott mir gab, entzogen,
Wie Mancher von der Luſt,
Der Sinnlichkeit betrogen!
Weil, ungewarnt, ſein Fuß
Nicht jede Schlange mied,
Die unter Blumen lauſcht,
Und ſticht, eh' er ſie ſieht!
Was gut und edel iſt;
Was meinen Brüdern nützet;
Was auf des Lebens Bahn
Uns vor dem Fall beſchützet;
Was Muth im Leiden gibt,
Vor guten Menſchen ehrt,
Das liegt in meiner Kraft,
Iſt meines Strebens werth.
Wenn nicht Jeder bei ſich überzeugt wäre, er könne durch eigene
Klugheit ſein Glück gründen, würde Niemand dahin arbeiten,
fein Loos auf Erden zu verbeſſern, ſondern Alles in voller Ge⸗
laſſenheit von der Gunſt des Himmels erwarten. Aber ohne Ar-
beit kein Lohn, ohne Mühe kein Gewinnſt, ohne Vorſicht nur
Gefahr.
Die Weisheit Gottes wollte nicht, daß der Menſch in todter
Unbehilflichkeit lebe. Darum gab ſie ihm einen freien Willen,
zu thun, was ihm beliebe; Verſtand, um das Beſſere kennen zu
lernen und zu wählen. Ja, ſie trieb ihn durch das harte Geſetz
der Noth, jede Trägheit fahren zu laſſen, und ſich durch Anwen⸗
dung der ihm verliehenen Gaben des Geiſtes ein beſſeres Schickſal
zu verſchaffen. Den Thieren des Feldes gab ſie ein Kleid von
behaarten Fellen, den Vogel umhüllte ſie mit Federn, um gegen
jede Witterung Schutz zu haben; aber den Menſchen ließ ſie nackt
und bloß. Den Thieren verlieh ſie natürliche Waffen, mit denen
ſie ſich gegen ihre Feinde vertheidigen konnten, ſeltene Stärke
oder ungemeine Geſchwindigkeit; aber der Menſch hatte von
Natur nichts, um dem Horn des Stiers, der Klaue des Löwen,
— 108 —
der Starke des Tigers, dem Stich der Schlange, Trotz zu bieten.
Sie gab ihm Verſtand und Vernunft. Er ſollte ſeine Kleider,
ſeine Waffen ſelbſt erfinden, ſich Alles ſelbſt ſchaffen. Sie zwang
ihn, ſeine Geiſteskräfte zu benutzen, um endlich Herr aller Thiere
zu werden; der unfruchtbaren Erde Nahrung abzugewinnen; ſich
gemeinſchaftliche Wohnungen, Dörfer und befeſtigte Städte zu
erbauen, und zum friedlichen Leben unter einander wohlthätige
Geſetze zu erſinnen.
Da alſo nach dem göttlichen Willen ſich jeder Menſch durch
eigene Anwendung ſeines Verſtandes und ſeiner Kräfte ſein Loos
auf Erden bereiten muß, iſt es wohl ein blindes und übermäßiges
Vertrauen auf Gott, eine träge Frömmigkeit, wenn Jemand ſeine
Arbeit vernachläſſigt, in der Hoffnung, Gott werde ſchon ohne
ſein Zuthun gewähren, was gut und nützlich iſt. Es iſt eine
träge Frömmigkeit, zu glauben, man könne durch Gebet und
Kirchengehen Alles bewirken, und bloß durch göttliche Gnade,
oder was die Menſchen Glückszufall nennen, zu Reichthum, Ehre
und Anſehen kommen. Es iſt ein falſches Vertrauen zu Gott,
wenn man ſich einbildet, um ihm gefällig zu ſein, um einſt nach
dem Tode der Genoſſe der ewigen Seligkeit zu werden, ſei es
hinlänglich, ſich auf das Verdienſt und den Tod Jeſu, auf die
Gnade und Barmherzigkeit Gottes, auf die Fürbitte der Menſchen
und Heiligen zu verlaſſen, und keineswegs nothwendig, ein ſtren—
ges, in allen Tugenden mühſames, wohlthätiges und ,
nütziges Leben zu führen.
Nein, nicht vergebens gab uns der Schöpfer unſere Kräfte.
Wer dieſe zu benutzen verſäumt, vernachläſſigt das ihm anver—
traute Pfund, verachtet den Willen des ewigen Vaters, und ſtürzt
ſich durch die Verkehrtheit ſeines Geiſtes in unfehlbares Verderben.
So thöricht es daher iſt, Alles von Gott zu erwarten, und
Nichts von ſich ſelbſt; fein irdiſches Wohlſein lieber vom Müßig-
gang oder einem Looſe des Glücksſpiels zu erwarten, als von
Fleiß und Arbeitſamkeit, Ordnung und Sparſamkeit: eben jo
thöricht iſt es von der andern Seite, Alles auf ſeine eigenen
Kräfte zu bauen, und Nichts auf die Gnade Gottes. Wie wenig
find wir ohne ihn! Wie arm ſtehen wir da, wenn er unſer Ber
3 A he
mühen nicht ſegnet, das heißt, wenn er nicht alle Umſtände jo
lenkt, daß dasjenige, was unſer Fleiß verrichtet, was unſer Nach⸗
denken erſinnt, vortheilhaft für uns ausfällt! Umſonſt fiel der
Schweiß des Landmanns auf ſeinen Acker: Regen, Sturmwinde
und Hagelwetter zogen darüber hin. Umſonſt machten wir Ent-
würfe zu unſerm und der Unſrigen Glück: es traten andere Men⸗
ſchen mit anderm Sinn dazwiſchen, und verderbten Alles, ohne
von unſern Abſichten zu wiſſen. Daher das alte und durch Mil-
lionen Erfahrungen WEN Sprichwort: der Menſch denkt und
Gott lenkt!
Die wichtigſten Begebenheiten in unſerm Leben ſind oft Fol⸗
gen eines Umſtandes, auf den wir am wenigſten gezählt hatten;
und oft hat dasjenige, worauf wir die meiſte Mühe verwendet
haben, uns den allergeringſten Vortheil gebracht. Ja, das Schickſal
der Schlachten, das Schickſal großer Reiche hing oft von einem
ſogenannten Zufalle ab, an welchem alle Macht und Klugheit
zu Schanden ward.
Wir haben unſern Willen, unſere Klugheit, unſere Kräfte;
Gott aber hat die Umſtände in ſeiner Gewalt; durch dieſe regiert
er die Menſchen, ſegnet oder verderbt ihr Thun.
Was heißt alſo: der Menſch iſt ein Schöpfer ſeines Schick—
ſals? Iſt dies ein Gedanke ohne Sinn? — Er iſt es, wenn wir
unter Schickſal Dinge verſtehen, die außer unſerer Macht liegen;
wenn wir unſere Herrſchaft über Unmöglichkeit ausdehnen wollen.
So wenig ein Sterblicher feine Hand in den Himmel empor-
ſtrecken, und die Sonne in ihrem Laufe hemmen, die Geſtirne in
andere Richtungen leiten kann: eben ſo wenig iſt er vermögend,
das Denken, Wollen und Thun aller mit ihm auf Erden leben⸗
den Menſchen nach ſeinen Abſichten und nach ſeinem Vortheil zu
lenken. Dies Alles liegt außer dem Gebiet ſeiner Macht. Aber
von dieſem Allen hängt auch fein wahres Schickſal nicht ab, ſon⸗
dern nur das Schickſal deſſen, was ihm nicht bleibend gehört,
etwa das Schickſal ſeines Leibes, ſeines Wohlſtandes, ſeiner
bürgerlichen Verhältniſſe. Wer in ſolchen Dingen ſein ganzes
Weh und Wohl gründet, hat für feine Ruhe einen ſchlechten
Grund gewählt. Er wird beſtändig das Spiel der abwechſelnden
— *
Umſtände ſein, ſich mit ihnen auf kurze Zeit erheben, und mit
ihnen untergehen. 5 |
Nicht der Leib und was ihn allein angeht, ſondern der Geiſt
im Menſchen iſt es, der da redet und die Hauptſache iſt. Das
Reich deſſelben erſtreckt ſich aber nur auf ſich ſelbſt. Spricht er
von einem Schickſal, welches er ſich ſchaffen könne, fo ſpricht er
nur von dem ſeinigen; nicht von dem Schickſal deſſen, woran er
im Irdiſchen einen Antheil hat. Dies iſt irdiſchen Geſetzen unter-
worfen. „Sein eigenes Schickſal kann der menſchliche Geiſt ſich
bereiten“, heißt alſo: es ſteht in ſeiner Gewalt, auch unabhangig
von äußern Umſtänden glücklich oder unglücklich zu ſein, wie
er will.
Dies ſteht in ſeiner Gewalt; denn Gott gab ihm dazu den
freien Willen, gab ihm Erkenntniß und die Kraft; er gab ihm
zur Erwerbung äußerer Mittel und Annehmlichkeiten die aus Er-
fahrungen erwachſene Klugheit; er gab ihm zur Gründung inne-
rer, feſter Glückſeligkeit die Weisheit Jeſu. Oft kann jene Klug⸗
heit täuſchen, niemals dieſe Weisheit. Denn jene verändert ſich
nach den Umſtänden, dieſe bleibt und richtet ſich ewig nach den
bleibenden Ordnungen Gottes in der Welt.
Und zu dieſen Ordnungen der Gottheit gehört auch das durchs
ganze Weltall und Leben herrſchende Geſetz: Alles Gute hat
feine guten Folgen, alles Böſe muß feine böfen Folgen
haben, und ſich zuletzt ſelbſt verderben. Das Gute aber
iſt der durch Jeſum geoffenbarte Wille Gottes; das Böſe iſt die
Verachtung des wahren Guten um ſinnlicher Begierden willen.
Wer alſo nur das Gute will und thut, wird der Schöpfer
unzähliger guter Folgen. Jede rechtſchaffene That, die wir,
gleich einer nützlichen Saat, ins Leben hineinſtreuen, bringt uns
Segen aus demſelben zurück. Wir umringen uns ſelbſt mit den
Früchten unferer Liebesthaten; und aus der Wahrnehmung der-
ſelben entſteht endlich das höchſte Vergnügen, das reinſte Glück,
welches uns zufrieden mit uns ſelbſt und unſerer Art zu ſein
macht. Es iſt möglich, daß bei dem Allen wir an dußerlichen
Gütern arm fein konnen; es iſt möglich, daß wir durch traurige
Verhaͤltniſſe dasjenige von unſerm Wohlſtande ſogar verlieren,
> 1
was wir ſchon hatten. Es kann uns weh thun. Aber unſere
innere Zufriedenheit kann dies nicht ſtören; wir werden ſchnell
zu unſerer Heiterkeit zurückkehren, weil wir uns nicht von dieſem
Bergänglichen abhängig machten. Nur der, welcher feinen eigenen
Werth und die Wahrheit zu wenig kennt, wer in eine Bequem-
lichkeit mehr oder weniger fein ganzes Glück ſetzt, kann beim Zu—
ſammenſturz irdiſcher Wohlfahrt Ruhe und Zufriedenheit auf
immer verlieren. So gab es Menſchen, welche ſich zuletzt mit
verruchter Hand ſelbſt das Leben raubten, weil ihr Leib nicht
mehr die Genüſſe haben konnte, nach denen er am meiſten geizte.
Alles Gute hat unfehlbar ſeine guten Folgen. Ja, dieſe
Folgen erſtrecken ſich nicht bloß auf die innere Heiterkeit unſers
Gemüths, auf die ſelige Empfindung, daß wir Gottes ſind, und
nach dem Traume des Erdenlebens ein noch unendlich herrlicheres
Loos zu erwarten haben: ſondern nicht ſelten ſogar auf unſere
irdiſchen Verhältniſſe. Der rechtliche Mann, der Menſchenfreund,
der Wohlthaͤter der Hilfsbedürftigen, der Friedfertige, der Be—
ſcheidene — iſt er nicht von dem Zutrauen, von der Liebe Aller
umgeben, die ihn kennen zu lernen Gelegenheit hatten? Trifft ihn
ein Unglücksfall, mit wie viel ſtiller, herzlicher Theilnahme be—
grüßt ihn Jeder! Wie gern wünſcht Jeder demjenigen zu helfen,
der ſonſt immer bereit war, Andern zu helfen! — Die liebende,
ſorgfältige, ordnungsvolle Hausmutter, wer ſchätzt fie nicht?
Wer ehrt nicht ihre Tugend im Leben unter den Kindern, ihren
freundlichen Ernſt gegen das Gefinde, ihre Gefälligkeit gegen Be-
kannte und Nachbarn, ihre beſcheidene Anſpruchloſigkeit, wo
Andere mit ihren Verdienſten glänzen würden?
Gott will es: alles Gute ſoll hienieden ſeine guten Folgen
haben. Daher iſt es längſt eine von allen Erfahrungen be-
kräftigte Wahrheit, daß es keine beſſere Klugheit gebe, als die
Tugend. Wir wiſſen nicht immer, was unter gewiſſen Umſtän⸗
den nützlich ſein könne; aber jeder Menſch weiß, was unter allen
Umſtänden recht und edel gethan iſt. Unſer Verſtand kann oft
irren; aber unſer Gewiſſen irret nicht leicht. Der Wille zum
Beſten iſt in unſerer Macht; aber der Erfolg des Beſten re
von Gott ab.
— 112 —
Willſt du alſo ein Schöpfer deines beſſern Schickſals werden,
ſo ſorge nicht um die Erfolge deiner Thaten, ſondern um die
Güte und Gerechtigkeit dieſer Thaten. Du vermagſt nicht Alles;
du kannſt nur einen Theil des Guten ſtiften, welches du in der
Welt zu ſehen wünſcheſt. Jeder tragt nach ſeinen Kräften dazu
bei. Der Eine pflanzet, der Andere begießet, Gott aber iſt's, der
das Gedeihen gibt. Ein Jeder aber wird ſeinen Lohn empfangen
nach ſeiner Arbeit. (1. Kor. 3, 8.)
Das Böſe, ſo iſt es göttliches Geſetz, hat feine böſen
Folgen, und muß ſich ſelbſt verderben. Wer es wählt, richtet
mit eigener Hand fein Elend an. Beftätigen nicht die Erfahrungen
unſers Lebenslaufes die ewige Wirkung jener göttlichen Ord⸗
nung? Sehet den Ehrgeizigen, er ſtirbt in immerwährenden
Kämpfen und Unruhen. Sehet den Geizigen, er verſchmachtet
an der Quelle. Sehet den Wüſtling, aus ſeinen bleichen Mienen,
aus ſeinen erloſchenen Augen ſpricht das Gift, mit dem er ſein
Blut vergiftete, ſeine Nerven zerſtörte. Sehet den Trunkenbold,
er iſt von ſeinem Laſter gezeichnet, und ſtumpf an Geiſt und
Sinnen fährt er in die frühe Gruft, nachdem ihn Krankheiten
peinigten. Sehet den Heimtückiſchen, er wird geflohen; er hat
keinen wahren Freund; er ſtürzt, und Jeder gönnt ihm den Unter⸗
gang. Sehet den ſtolzen Verſchwender, er fällt und muß oft
Hilfe bei denen betteln, die er ehemals verachtungsvoll überſah.
Woher kommt es, daß Wenige in ihrem Leben weder ganz
glücklich, noch ganz unglücklich ſind? Daher, weil ſie weder
ſchlecht genug ſein mögen, ganz böſe zu ſein, noch Muth genug
haben, ganz gut zu handeln. Sie ſchwanken ungewiß zwiſchen
Fehler und Tugend, daher auch zwiſchen Zufriedenheit und
Leiden aller Art. Das Gute, was ſie thun und lieben, belohnt
fie gleichmäßig, wie die Sünde, die fie begingen, fie beſtraft und
verdrießlichen Verhältniſſen preisgibt. Willſt du ganz glücklich
ſein, ſo mußt du dich nicht begnügen, nur halb gut zu ſein.
Der Laſterhafte iſt der Schöpfer ſeines eigenen Elendes, ſeiner
Krankheiten, feiner Unruhen, feiner Verzweiflung. Wer laͤugnet
es? Und ſo kann auch der Gerechte der Schöpfer ſeiner unzer—
— 8 — >
ſtörbaren Zufriedenheit, das heißt, eines Wohlſeins werden,
welches menſchliche Gewalt ihm nicht entreißen kann.
Aber der Menſch kann mehr als das. Nicht nur iſt er durch
ſeinen tugendhaften Sinn fähig, das unwandelbare Glück ſeines
Gemüthes zu ſchaffen: er iſt durch die Weisheit Jeſu fähig, ſeine
äußern Schickſale zu verbeſſern, und ſelbſt, wenn dieſe noch ſo
traurig wären, über ſie zu triumphiren. Dies iſt das Höchſte,
was der Menſch hienieden leiſten kann. So glänzt er in gleich-
ſam göttlicher Vollendung, und ſteht höher als alle irdiſchen Er—
eigniſſe. Stürme mögen wüthen; aber er ſchwebt groß über den
Stürmen. Sie erreichen ihn nicht.
Wie kann er dies? — Nicht durch gewöhnliche Klugheit, nicht
durch eine aus mannigfaltigen Erfahrungen erbeutete Vorfichtig-
keit: ſondern durch die Religion; durchdrungen von den Wahr-
heiten derſelben, muß er in ihnen athmen. Was Jeſus lehrte,
muß er denken; was Jeſus war, muß er fein. Er muß, als nach
dem Ebenbilde Gottes geſchaffen, gleichſam ein Theil der Gottheit,
nur in Gott, für Gott leben. So wird er der Schöpfer eines
höhern Schickſals, das ihn weit über jedes irdiſche Ereigniß
erhebt.
Um dies göttlich-große Ziel zu erreichen, gewöhne dich an
den Gedanken, daß du auf Erden für nichts leben ſollſt, als für
deinen Geiſt; daß dir hienieden nichts gehört, als dein unſterb⸗
licher Geiſt; daß du nichts zu vollenden haſt, als deinen Geiſt,
und daß alles Uebrige, Stand und Würden, Vermögen und
Gelehrſamkeit, Schönheit und Geſchicklichkeit, Geſundheit und
Krankheit, Freundſchaft und Verfolgung, irdiſches Glück und
Unglück, nur Mittel zu deinem einzigen, höchſten und letzten
Zweck ſein ſollen. Gewöhne dich an den Gedanken, daß dir nichts
von Allem, was du äußerlich beſitzeſt, bleibt; daß dir nur Alles
geliehen ſei; daß ſelbſt, was du durch deinen Fleiß erworben haſt,
vergänglich ſei; daß ſelbſt deine beſten Freunde, Aeltern, Brüder,
Schweſtern, Gatte, Kind nur kurze Zeit neben dir zu wandeln
haben. Gewöhne dich an den Gedanken, daß du mit deinem Geiſte
nur auf einem Beſuche in dieſer Welt biſt, von dem du bald um⸗
kehren mußt; daß du von deinem ewigen Vater nur eine Sendung
— 114 —
hienieden empfangen haſt, um ſeinen Willen in vielerlei Dingen
zu vollſtrecken, worauf du von ihm wieder zurückgerufen wirſt.
Gewöhne dich an den Gedanken, daß nur Gott dein beſtändiger
Vater ſei; daß alle menſchlichen Geiſter ohne Ausnahme deine
Brüder ſind; daß die Hüllen, die ſie tragen, ihr Leib, ihr Stand,
nur Kleider ſind, die ſie während ihrer Sendung auf Erden
tragen müſſen.
Biſt du von dieſem wap und großen Gedanken, der über⸗
all in Jeſu Lehren liegt, innig durchdrungen: ſo wird deinem
Auge die ganze Welt anders erſcheinen, als du ſie bisher ange—
ſehen haft. Du wirft dich ſchämen, allen Reizungen und Be-
gierden, die aus der Natur deines Körpers entſpringen, unter⸗
than zu ſein; dur wirft dich ſchämen, die Sendung, welche dir dein
Gott in dieſer Welt gab, unerfüllt zu laſſen, um mit dem Staube
zu ſpielen, über welchem du hinwandelſt. Du wirſt das Leben
überall vom Schein unterſcheiden lernen; wirft mit Klarheit er⸗
kennen, daß nicht um Felder und Häuſer zu bauen, um Ehren⸗
ſtellen zu bekleiden, oder in prächtige Gewaͤnder gewickelt zu wer⸗
den, du von Gott in dieſe Welt geſchickt wurdeſt, ſondern um
Gottes Mitarbeiter an der allgemeinen Glückſeligkeit des menſch⸗
lichen Geſchlechts zu werden. (1. Kor. 3, 9.) Du wirſt es hell
verſtehen, was Jeſus mit den vielſagenden Worten ſagte: Trachtet
am erſten nach dem Reiche Gottes und nach ſeiner Gerechtigkeit,
ſo wird euch alles Uebrige zufallen. (Matth. 6, 33.) Darum,
wenn ihr Nahrung und Kleider habet, ſo laſſet euch genügen.
Du wirft leben, nicht um dir einen Vortheil auf den andern.
zu häufen, und endlich ſterbend von deinen Schätzen davon zu
gehen, ſondern um alle Weſen um dich her, fo weit deine Kraft
reicht, glücklicher und weiſer zu machen. Die Glückſeligkeit Aller
iſt erſt dein Glück. Du kennſt, du willſt kein anderes. J
Du wirſt nur lächeln können, wenn dir die Bosheit thieriſch—
geſinnter Menſchen deinen Wohlſtand zerſtört; ſie rauben dir
nichts als einige Mittel, durch die du ihnen hätteft nützlicher wer—
den können. Du wirſt nur lächeln, wenn dich das zweideutige
Erdenglück um Hoheit, Anſehen und Einfluß betrügt. Denn
was iſt's am Ende mehr, ob du deinen Leichnam in grobes Tuch
— 15 —
oder in den feinſten Purpur wickelſt: beide verfaulen endlich;
beide ſind dem Geiſte gleichen Werthes. Was iſt's denn mehr,
ob dich die Menſchen einen Fürſten oder einen Bettler in dieſem
Lebenstraume nennen: dadurch erhältſt du in dir ſelbſt und im
Weltall Gottes und im Reiche der Geiſter keinen größern und
keinen geringern Werth. Der du ſelbſt biſt und vor Gott biſt,
der bleibſt du. Vor ihm, dem Hocherhabenen, gilt wahrlich kein
Anſehen der Perſon, nach den Erfindungen menſchlicher Eitelkeit
und kleinlicher Maßſtäbe.
Du wirſt nur lächeln, wenn dich eine Krankheit niederwirft.
Du findeſt darin nur eine Zerrüttung deines dir als gebrechlich
bekannten Werkzeuges. Vielleicht will Gott es dir nehmen, um
dir ein vollkommneres zu verleihen. Vielleicht will Gott dich nur
mahnen, auf dies Zerbrechliche nie hohen Werth zu ſetzen. Ge-
nug, du freueſt dich unter den Schmerzen deines Leibes der Ge—
ſundheit deines Geiſtes; deine Seele hat keinen Schaden genommen.
Du wirſt mit feſter Ruhe den Tod deiner Geliebteſten auf Erden
ertragen. Sie hatten den Beruf, wie du. Ihre göttliche Sendung,
derentwillen ſie in die Welt kamen, iſt nur einige Tage früher
vollendet worden, als die deinige. Sie ſtehen am Ziele. Sie
empfangen aus Gottes Hand, nach hier vollendetem Geſchäft, eine
ſchönere Laufbahn. Sie wird auch dir zu Theil werden. Mag
ihre Hülle modern — du haſt ja nicht die Erdentheile an ihnen
geliebt, von denen ſie umgeben waren, ſondern ihre Seele. Dieſe
Seele bleibt dir ja verwandt und treu. Sie bleibt ja in Gott;
verharre nur du auch in Gott, fo iſt keine Trennung möglich. —
Denkſt du, empfindeſt du jo: wo iſt ein Ereigniß, das deine
Heiterkeit, deinen Seelenfrieden, das heißt, dein wahres bleiben
des Glück, verderben könnte? Biſt du dann nicht der Schöpfer
deines höhern Schickſals geworden? Kann dich dann ein irdiſcher
Sturm erſchüttern, oder nur berühren?
So war Deine hohe Seligkeit auf Erden, o Jeſus, Du
Göttlicher! Du verachteteſt das Irdiſche, und genoſſeſt nur da-
von, ſo viel es zur Erhaltung Deiner menſchlichen Natur und
Deines Wirkens nothwendig war. Du liebteſt alle Weſen um
Dich her; die Kinder Gottes nannteſt Du Deine Brüder. Dein
— 16 —
Beruf, deswillen Du in dies Leben geſandt warſt, iſt geweſen,
eine ſündige Welt von den Banden der Finſterniß, von den
Feſſeln des Irrthums, der Sünde zu erlöſen, und die Geiſter frei
zu machen von der Knechtſchaft, in der ſie durch ſinnliche Gelüſte
gehalten werden. Dieſen Beruf allein hatteſt Du in allen Deinen
Wegen vor Augen. Ob Dich das Volk bald zum Könige von
Iſrael ausrufen, bald ſteinigen wollte, bekümmerte Dein gött⸗
liches Gemüth nicht. Ach, die irrende Menſchheit begriff nicht
die Erhabenheit Deiner Sendung und Deines Thuns. Du fan⸗
deſt darin keine Schmach, in Knechtsgeſtalt einherzugehen; Du
nannteſt es kein Unglück, oft nicht zu haben, wohn Du Dein
Haupt legteſt. Das Irdiſche war für Dich werthlos; Dein
Wandel war im Himmel. Du ertrugſt Hohn und Verfolgung
und die Schmach öffentlicher Schande; aber Dein heiteres Be⸗
wußtſein erhob Dich über die thörichten Meinungen der Menſchen.
Im Reiche der Geiſter, Du Fürſt der Geiſter, gilt eine andere
Ehre, eine andere Schande, als in den engen Begriffen halb⸗
thieriſcher Menſchen. Kaum ein ſechsunddreißig Jahre langes
Leben genoſſeſt Du auf Erden — aber Du lehrteſt den Tod ver⸗
achten, welchen Du nicht fürchteteſt. Welterlöſer, Du ſtarbſt,
Deine Sendung auf Erden war göttlich vollbracht. |
O laß mich in Dir leben, in Dir sterben! Durch Dich
Schöpfer meines Schickſals ſein, durch Dich rte, wu
ewigen Looſes! Amen. |
*
ͤ4ä— — ums
14.
Die Gewiſſenhaftigkeit des Chriſten als Unter⸗
than gegen Geſetz und Obrigkeit.
* Röm. 13, 5 — 7.
Nie ſei des Bürgers heil'ge Pflicht vergeſſen;
Daß Keiner ſelbſtklug, trotzig und vermeſſen
Des Vaterlandes fordernde Geſetze
Liſtvoll verletze.
Gib uns, o Gott, ein Herz voll feſter Treue,
Daß Jeder Deines Rufs vor Dir ſich freue.
ö Des Lebens Abend kommt. Einſt ruh'n wir Müden
5 In Deinem Frieden.
Bin ich nicht ſchon ein guter Bürger, wenn ich für mein Hab
und Gut ſorge; wenn ich dadurch, daß ich nützliche Geſchaͤfte
treibe, meinen Vortheil vermehre, auch den Nutzen anderer Men-
ſchen befördere; wenn ich den obrigkeitlichen Perſonen die erforder-
liche Ehrerbietung bezeuge, und ruhig dulde, was nicht zu aͤndern
iſt; keine aufrühreriſche Geſinnungen hege, und die Abgaben von
Allem entrichte, welche ich nicht verweigern kann?
Wohl, wenn darin das Lob eines guten, eines chriſtlichen
Unterthans allein beſteht, ſo genießen viele Tauſende dieſes Ruhms.
Sie leiſten ihre Schuldigkeiten in gebührender Ordnung, wo ſie
aus Furcht unvermeidlicher Strafe gezwungen ſind, es zu thun.
Hingegen ſind ſie ſchon nicht ſo genau mit ſich, dann auch noch
wahrhaften Bürgerſinn zu zeigen, wenn ſie nicht durch Strafen
bedroht find; fie halten es ſchon für kein großes Vergehen, die
Obrigkeit und deren Befehle hinterliſtig zu umſchleichen, wo ihre
Untreue nicht gar leicht entdeckt werden könnte; ſie machen ſich
kein Gewiſſen daraus, ihre Vermoͤgensumſtände, je nachdem fie
Vortheil davon ziehen können, bald größer, bald geringer anzu⸗
geben, als ſie in der That ſein mögen, und ſo den Staat zu be⸗
trügen; ſie halten es für etwas ſehr Unſchuldiges, wenn ſie aus
Bequemlichkeit oder aus Eigennutz den ihnen anvertrauten Theil
des gemeinen Weſens oder der öffentlichen Verwaltung nur als
Nebenſache, als fremde Angelegenheit, die fie nichts angeht, nach⸗
i
— 118 —
läſſig behandeln, und zwar um ſo mehr, wenn ſie dabei weder
viel Geld noch viel Ehre einärnten können.
Iſt dies recht? Man zuckt die Achſeln, und ſpricht: Aber ich
allein kann und will mich nicht aufopfern; Niemand würde mir
danken. — Iſt dies Weisheit, iſt dies Chriſtenſinn? Das Ge⸗
wiſſen ſpricht nein, aber der Eigennutz nennt es Klugheit und
billige Selbſtliebe.
Iſt es wirklich Klugheit und billige Selbſtliebe, wenn wir
da der Obrigkeit und dem Vaterlande Ehrlichkeit verlaͤugnen, wo
wir keine Strafe zu beſorgen haben? Unſern Wohlſtand, unſer
Hab und Gut, und wenn wir dies noch nicht haben, ſelbſt die
Fähigkeit, uns Eigenthum erwerben zu können, beſitzen wir nur
in ſo fern, als wir in einem Lande wohnen, wo wir durch gute
Ordnungen und Einrichtungen bei unſerm Eigenthum und un⸗
ſern Gewerben geſchützt werden, oder Anlaß finden, Vermögen
zu gewinnen. Allein für uns ſelbſt, Jeder für ſich, können wir
nicht beſtehen. Der reichſte Mann mit Tonnen Goldes in men⸗
ſchenloſer Einſamkeit wäre ärmer, als der Bettler in einer be>
völkerten Stadt.
Für dieſe Möglichkeiten, unſere Beſitzungen und Güter durch
Fleiß erweitern zu können, müſſen wir alſo dem Lande, worin
wir wohnen, dankbar ſein. Für den Schutz, welchen wir für
unſere Rechtſame gegen fremde Eingriffe erhalten, müſſen wir
beitragen nach unſern Kräften, daß die Landesobrigkeit die öffent⸗
lichen Einrichtungen unterhalten könne, welche unſern Rechten
und unſerm Stande volle Sicherheit verſchaffen.
So gebietet uns demnach die geſunde Vernunft, willig die
Laſten des Landes nach Maßgabe unſerer Kraft mittragen zu
helfen, und uns keineswegs von den Auflagen und deren Be⸗
zahlung ganz oder theilweiſe auszuſchließen. Denn geſchieht dies
auf irgend eine hinterliſtige oder ſaumſelige Weiſe, ſo betrügen
wir das Vaterland und die Obrigkeit um die rechtmäßige Schuld,
die wir abzuſtatten haben. Unſere Klugheit iſt dann nicht beſſer,
nicht edler, nicht verzeihungswürdiger, als die Klugheit des
Diebes, welcher Andere in ihren Rechten und Beſitzungen ver—
fürzt. Unſere ſogenannte billige Selbſtliebe tft ein ſchändlicher
— 119 —
Eigennutz, der uns zum Vexräther an Geſetz und Mitbürger⸗
ſchaft macht. Wenn wir es an uns verzeihlich finden, die Obrig⸗
keit zu hintergehen und fie in den pflichtmäßig zu leiſtenden
Abgaben zu verkürzen: jo iſt es nothwendig auch wohl Allen ver⸗
zeihlich. Wenn aber alle Bürger jo unredlich denken: wer möchte
mit Ruhe unter einem ganzen Volk von Betrügern wohnen?
Woher ſoll der Staat Mittel nehmen, die allgemeinen Angelegen⸗
heiten in geziemender Kraft und Würde zu handhaben? Wer
darf es dem Fürſten verargen, wenn er, um das Ganze zu retten,
ſtrenge Maßregeln gegen Einzelne ergreift, die es trifft?
Was ſchon die Vernunft und das einfache Rechtlichkeitsge⸗
fühl gebietet, iſt durch ſich ſeilbſt für den vernünftigen, für den
redlichen Mann eine heilige Sache. Er ſchämt ſich, auch wo er
es, ohne Aufſehen zu erregen, ohne Strafe zu befürchten, thun
könnte, den Staat um die verlangten und geſetzlich angeordneten
Einkünfte zu betrügen. Aber noch tiefer wird ſeine Scham als
Chriſt.
Denn Jeſus macht es zur ehrwürdigen Religionspflicht, der
Obrigkeit die geſetzlichen Abgaben zur Behauptung der öffent⸗
lichen Ordnung zu entrichten. Gebet dem Kaiſer, was des Kaiſers
iſt, und Gott, was Gottes iſt! ſprach er; und wer ſich dem Ge—
bote des Heilandes entzieht, iſt der einer der Seinigen?
8 Die frommen Aeltern Jeſu entzogen ſich den läſtigen Ver⸗
ordnungen ihrer Obrigkeit nicht. Als der Kaiſer Auguſtus eine
allgemeine Schätzung in allen Ländern ausgeſchrieben hatte, zog
Joſeph aus Nazareth nach der Stadt Bethlehem, auf daß er ſich
mit Maria, ſeinem vertrauten Weibe, ſchätzen ließe. (Luk. 2,
1 — 5.) In der Erfüllung dieſer Pflichten auf dieſer beſchwer⸗
lichen Reiſe ward Jeſus Chriſtus geboren.
So ſeid nun aus Noth unterthan, ſagt Paulus. Nicht allein
um der Strafe willen, ſondern auch um des Gewiſſens willen.
Derhalben müſſet ihr auch Schoß geben. Denn fie find Gottes
Diener, die ſolchen Schutz handhaben. So gebet nun Jederman,
was ihr ſchuldig ſeid: Schoß, dem der Schoß gebührt; Zoll,
dem der Zoll gebührt; Furcht, dem die Furcht gebührt; Ehre,
dem die Ehre gebührt. (Röm. 13, 5 — 7.)
— 120 —
Und wie hier, ſo ermahnt noch öfter, noch dringender das
göttliche Wort zur ſchuldigen Vollziehung unſerer Pflichten gegen
die über uns ſtehende Obrigkeit. Denn wo eine Obrigkeit iſt,
da iſt ſie durch Gottes Willen.
Nicht alſo ſollen wir als Chriſten, als redliche Menſchen die
Geſetze des Landes bloß dann pünktlich erfüllen, wenn wir durch
die Furcht der Strafe und Schande dazu gezwungen ſind: ſon⸗
dern auch, wenn unſere Untreue verborgen bliebe, oder wenig—
ſtens nicht leicht entdeckt werden würde. Nicht bloß, gleich dem
unedeln Sklaven, ſollen wir vor der Zuchtruthe zittern, unſere
Bürgerpflichten mit gewiſſenhafter Strenge vollziehen, ſondern
um des Bewußtſeins willen, welches das köſtlichſte der
Güter jedes rechtſchaffenen Mannes iſt.
Was hülfe es uns auch, im Geheimen den obrigfeitlichen
Willen zu umgehen, da der Allwiſſende unſere Schande ſieht;
da unſer Gewiſſen ſich nicht vom Eigennutz beſtechen läßt, ſon⸗
dern bei jeder Erinnerung an den Betrug uns mahnen wird:
du haft gegen Obrigkeit und Vaterland pflichtvergeſ—
ſen und unredlich gehandelt! — Oder iſt das Verbrechen
gegen die von Gott gegebene Obrigkeit kein Verbrechen gegen
Gottes Gebote? Kann ich jemals gegen einen Menſchen, auch
gegen den geringſten, ſündigen, ohne gegen Gott zu ſündigen?
Kann ich jemals gegen einen Andern, oder gegen obrigkeitliche
Einrichtungen unredlich ſein, ohne gegen meine eigene Würde,
gegen meine eigene Seelenruhe der Allerunredlichſte zu werden?
Ehre Fürſt und Geſetz, ſelbſt wenn das, was du
gegen ihren Willen thun könnteſt, verborgen bliebe.
Ehre fie in deinen Urtheilen und Meinungen, denn fie find gött-
liche Stiftungen.
Es iſt gewiſſer Menſchen böſe Neigung, alles das zu tadeln,
was von ihrer Obrigkeit herrührt; entweder weil ſie einzelne Be—
amte haſſen, oder weil ihr Ehrgeiz zu glänzen ſucht, als ver—
ſtaͤnden fie Alles beſſer, denn die Vorgeſetzten. Man hält dieſe
Tadelſucht für Freimüthigkeit; fie iſt aber gewöhnlich nichts, als
der Erguß eines unreinen Herzens. Der freimüthige Mann ſpricht
nur die Wahrheit aus, wo er überzeugt iſt, durch ſie wahrhaft
— 121 —
nützen zu können; nicht aber an Orten und zu Menſchen, wo
die Obrigkeit nichts davon erfahren kann, und wo man nichts
Anderes bewirkt, als die nöthige Ehrfurcht gegen Geſetz und
Obrigkeit niederzureißen. Der freimüthige Mann bringt ſeinen
Tadel offen an die rechte Behörde; nicht hinterrücks, nicht ehe er
überzeugt iſt von der Richtigkeit ſeines gefällten Urtheils. Der
freimüthige Mann redet ſein Wort zur rechten Zeit am rechten
Orte, weil er dem gemeinen Weſen dann wohlzuthun und Hilfe
zu verſchaffen hofft; aber er redet nicht aus Privathaß gegen ein-
zelne Beamte, aus boshafter Rachſucht. Es iſt zwiſchen dem
Freimüthigen und dem Läſterer ein fo großer Unterſchied, wie
zwiſchen dem Muthe der Tugend und der Frechheit des heimtücki⸗
ſchen Verleumders.
Entrichte mit pünktlicher Gewiſſenhaftigkeit die
geſetzlichen Abgaben, ſelbſt wenn du, ohne Furcht ent—
deckt zu werden, die Regierung um das Ganze oder
einen Theil derſelben verkürzen fönnteft. So gebietet es
dir die Vernunft; jo, und wärejt du ein Heide, dein Rechtlich⸗
keitsgefühl; ſo, da du in der Würde des Chriſten daſtehſt, Jeſus
Chriſtus, dein Lehrer, dein Heiland; ſo das göttliche Wort! Aber
ach, wie Mancher, welchen wir auf den Straßen und in Geiell-
ſchaften als einen der Redlichſten des Landes ehren, tragt viel⸗
leicht in ſeiner Bruſt den Vorwurf: auch ich bin ein Betrüger des
Vaterlandes und meiner mir von Gott angeordneten Obrigkeit!
Wer nicht, wie unſer göttlicher Lehrer gebeut, dem Kaiſer gibt,
was des Kaiſers iſt, o, der hat auch Gott nicht gegeben, was
Gottes iſt! N
Freilich fehlt es keinem Sünder an Entſchuldigungsgründen,
und jo auch nicht dem geheimen Betrüger des Staates an DBe-
mäntelungen ſeines ehrloſen Eigennutzes. Die Obrigkeit, wird
er zuweilen bei ſich ſelbſt ſprechen, iſt reicher als ich; ſie hat mehr
Hilfsmittel, das Fehlende zu erſetzen, als ich. Daß ich dem
Staate eine Kleinigkeit von dem vorenthalten habe, was ich hätte
zahlen ſollen, wird ihn noch nicht zu Grunde richten. Darum
mag es mir wohl erlaubt ſein, auch für mich zu ſorgen. Ich
brauche es nöthiger, als der Staat.
III. 6
— 122 —
Wahr mag es ſein, daß der Dieb es oft nöthiger bedarf, als
der Reiche, den er beſtiehlt; aber iſt er deswegen zum Raube be⸗
rechtigt? und kann er alle Bedürfniſſe und Ausgaben des Reichen
berechnen, der für ſeine eigene Perſon vielleicht weniger dedarf,
als der ſchwelgeriſche, diebiſche Arme? Freilich, der Räuber ver⸗
greift ſich an fremdem Gut. Aber du, der du dem Lande die
ſchuldigen, vom Geſetze verordneten Abgaben hinterhältſt, thuſt
du nicht desgleichen? Die Steuer, welche von deinem Vermögen
dem geſammten Lande oder der Gemeinde gehört, in welcher du
wohnſt, iſt ſie dein Eigenthum? Iſt ſie nicht der Zins, welchen
du ſchuldig geworden biſt, und den du unterſchlägſt, oder auf
unehrliche Art ſchmälerſt? g
Auch damit tröſtet ſich der gewiſſenloſe Staatsbürger wohl
oft: Ich bin gegen jeden meiner Mitbürger treu und redlich;
Keiner darf mir etwas Uebels mit Grund und Fug nachſagen.
Und ſo darf ich auch bei den vielen Abgaben zuweilen an mein
eigenes Beſtes denken, und das behalten, was man mir nicht
nachrechnen kann.
Unredlicher! weil du Treue und Redlichkeit übſt gegen den
Einen, biſt du darum befugt, den Andern zu hintergehen?
Oder weil du Einzelnen gibſt, was du ihnen ſchuldig gewor—
den, darfſt du deswegen Alle insgeſammt betrügen? Und iſt der,
welcher den Staat an ſeinen geſetzlichen Einkünften verſchmälert,
nicht ein Betrüger aller ſeiner Mitbürger? Denn wenn ſie alle
ihre volle Pflicht und Zahlung leiſten, ſtehſt du allein zurück,
und genießeſt hinterliſtig den Nutzen von ihren Aufopferungen,
ohne würdig zu ſein, daran Theil zu nehmen, weil du nicht deinen
rechtlichen Antheil dazu beiträgſt. Wenn dein Betrug ihnen
offenbar würde, hatten ſie nicht das Recht, dich verächtlich als
einen Menſchen auszuſtoßen, der auf ihre Koſten Wohlleben ge—
nießen will? — —
Denke nicht: Andere treiben es auch nicht beſſer. Es ſind
ihrer wohl noch Viele, die in Entrichtung der Abgaben eben fo
wenig mit ihrem Gewiſſen zu Rathe gehen. Deſto ſchimpflicher
für dich, daß du in die Zahl derer treten magſt, welche du ſelbſt
im Grunde deines Herzens verachteſt; in die Zahl derer, die ihr
r
Geld höher achten, als ihr unbeſcholtenes Gemüth. Deſto drücken⸗
der wird der Raub, welchen die unredlichen Bürger an den red⸗
lichen verüben. Denn wenn auf ſolche Art die Einnahmen des
Vaterlandes verringert worden find, und damit folglich die öffent-
lichen Ausgaben nicht gänzlich beſtritten werden können, wird die
Obrigkeit zur Ausſchreibung neuer Steuern gezwungen, um das
Fehlende zu ergaͤnzen. Deine Mitbürger müſſen alſo, wegen
deiner und Deinesgleichen ſchimpflicher Unredlichkeit, doppelten
Zins und doppelte Laſt tragen.
Magſt du, Selbſtſüchtiger, immerhin ſchadenfroh dazu lächeln,
und es für einen Gewinn achten, auf Unkoſten deiner Herzens⸗
reinigkeit und Gewiſſensruhe einiges Geld gewonnen zu haben:
aber rühme dich fernerhin nicht deiner Treue und Redlichkeit gegen
deine Mitbürger, die du alle betrogen, indem du die Obrigkeit
hintergingſt; — aber rühme dich nicht deines Chriſtenthums,
indem du um wenige Silberlinge den Frieden deines Herzens und
deine Pflicht gegen Gott und Menſchheit verrathen haſt; — aber
Pr
rühme dich nicht deines Jeſus, der dich nicht als feinen Nach-
ahmer kennt; rühme dich nicht deiner frohen Hoffnungen und
Ausſichten in der Todesſtunde, da du ein betrogenes Vaterland
hinter dir zurückläſſeſt, einem allwiſſenden Richter entgegengehſt,
und ein ſchuldbeſchwertes Gewiſſen mit hinüber nimmſt, wo keine
durch Furcht erpreßte Reue, kein flüchtiges Gebet dich fo ſchnell
heiligt, als du dich in deinem Leben ſchnell durch eine Schänd-
lichkeit beſudelſt.
Verwalte mit Luſt und Eifer das gemeinſchaftliche
Gut, welches dir von der Obrigkeit oder von deinen
Mitbürgern zu verwalten gegeben worden iſt. Denn wir
ſind dem Lande nicht bloß den Geldzins von unſerm Gewerbe und
Vermögen ſchuldig, auf daß das Ganze wohl unterhalten und
geſichert werde: ſondern auch unſere Geiſteskräfte und unſere
arbeitsloſen Stunden ſollen wir für das Wohl unſerer Mitbürger
anwenden.
Wo etwa eine kleine Ehre, irgend ein kleiner Geldgewinn bei
einer Stelle zu erhalten ſind, da werden ſich genug Menſchen
| zudrängen, um angeſtellt zu fein. Aber deſto ſeltener find die
— 14 —
gemeinnützigen, dem Vaterlande mit reiner Liebe ergebenen Bür⸗
ger, wo die Uebernahme irgend einer öffentlichen Verpflichtung
ohne Einkünfte und ohne ſonderliche Auszeichnung, wohl gar
zuweilen mit Verantwortlichkeit und Verdruß verknüpft iſt. Da⸗
her findet man der unglücklichen Beiſpiele genug, daß aller Or⸗
ten das Privateigenthum beſſer als das Eigenthum der Gemeinde
verwaltet wird; daß Niemand Geſchäfte übernehmen will, welche
ihm keinen Vortheil abwerfen, und daß, wenn er ſie übernimmt,
er ſie mit Gleichgültigkeit als eine läſtige Nebenſache beſorgt.
Du aber, welcher edlern Herzens ſein und im großen Geiſte
Jeſu handeln will, ehre den Willen deiner Obrigkeit, ehre die
Sache deines Vaterlandes, deines Wohnortes. Dränge dich zu
keinen Aufträgen, aber ziehe dich auch nicht zurück, wenn man
dir für das Gemeinwohl eine Laſt auflegen will, der deine Kräfte
gewachſen ſind. Deine Ehre iſt deine Tugend, dein Lohn iſt dein
Bewußtſein! Werde der Diener Aller, ſo macht dich dein Herz
zum Erſten unter Allen. Verwalte, was dir anvertraut ward,
mit einer Sorgfalt, als verwalteteſt du deinen eigenen Nutzen:
ſo wirſt du in den Augen deiner Mitbürger Ehrfurcht für deine
Redlichkeit und deinen Eifer leſen, Frieden in deinem Innern,
frohe Zuverſicht in deinem Stande zu Gott finden; ſo haſt du
in der That nicht mehr fremde Angelegenheit, genden Deine eigene
verwaltet.
Herr der Welt, majeſtätiſcher Gott, ſind wir nicht Alle, der
Fürſt, wie der Unterthan, die Werkzeuge Deiner weiſen Vor⸗
ſehung und Weltregierung? Wie könnte ich es wagen, freudigen
Gemüths zu Dir emporzuſchauen, wenn ich mich weigerte, des
Landes Wohl nach meinen Kräften zu befördern, in welches Du
mich verſetzt haft? Wie könnte ich Deines heiligen Reichs wür⸗
diger Genoſſe ſein, wenn ich nicht ein rechtſchaffener Unter⸗
than und Bürger dieſer irdiſchen Welt ſein möchte? Aber, wie
wäre ich Dir, Gott, du Vater und Stifter aller Ordnungen,
gehorſam, wenn ich nicht der weltlichen Obrigkeit auf Erden zu
gehorchen wüßte?
Treu, feſt und ohne alle Umwege will ich mich allen Geſetzen
und Einrichtungen derer unterwerfen, die Du zu Vorgeſetzten
— ee
mir gegeben haft. Ich will lieber weniger haben, als mit Un⸗
gerechtigkeit haben. Ich will lieber freudig gehorchen, als durch
unanſtändiges Murren meinen eigenen Muth ſchwächen, und
meine Mitbürger zu ähnlichen Unzufriedenheiten reizen. Selbſt
wenn auch Manches, das mir vorgeſchrieben wird, von mir als
unvollkommen angeſehen würde, will ich auch dies mit redlicher
Gewiſſenhaftigkeit erfüllen. An meinen Obern iſt es, mit Voll⸗
kommenheit zu regieren; an mir iſt es, mit Vollkommenheit zu
gehorchen. Jeder iſt nur in feinem Verhältniſſe vor Dir ver-
antwortlich; er trägt nicht des Andern Schuld.
O Vater, gib mir Kraft, daß ich auch in meines Lebens bür-
gerlichen Verhältniſſen der Vollendetſte und Beſte werde; eine
Aufmunterung Vieler, ein Beiſpiel Aller! Amen.
15. |
SGSeelengrdh e.
R Matth. 5, 44—48.
Der Menſch darf mehr begehren,
Als Erd' und Himmel geben kann!
Gott will ihm mehr gewähren,
Beut ihm ein großes Erbtheil an.
Er führt ihn auf die Erde,
Daß er in dieſer Zeit
Von ihm geleitet werde
Zu ſeiner Seligkeit;
Bis er mit allen Kräften,
Gebildet und gewöhnt
Zu göttlichen Gefchäften,
Nach ihr allein fich ſehnt.
Dann endet er voll Wonne
Der hohen Tugend ſchweren Lauf.
Gott ſelbſt wird ſeine Sonne,
Und geht im vollen Glanz ihm auf.
Vollendung heißt die Palme,
Die ihm ſein Engel bringt:
Entzücken tönt im Pfalme,
Den er dem Schöpfer fingt.
Um herrlich einſt zu werden,
Groß in der Ewigkeit:
Sei göttlich ſchon auf Erden,
Und wuch're mit der Zeit.
Nur zu oft ſah ich den Menſchen in ſeiner Niedrigkeit — aber
wann habe ich ihn auch in feiner ganzen Hoheit erblickt?
Ich ſah ihn nur zu oft, wie er ſinnlich-thieriſch dahinlebte;
nur darauf bedacht, durch Arbeit ſein Brod zu gewinnen, oder
ein kleines Eigenthum mehr als ſein Nachbar zu haben, oder ſich
mit ſchönern Kleidern zu ſchmücken, als dieſer; ſah ihn, wie ſeine
ganze Freude zuletzt in ſeinen ſtolzen Einbildungen von ſich ſelbſt
beſtand, oder im Kitzel ſeines Gaumens bei Trinkgelagen oder
Gaſtmaͤhlern, oder daß er einigen andern Menſchen Befehle zu
geben hatte; ich ſah ihn, wie er an die Verbeſſerung ſeines leib—
lichen Zuſtandes unaufhörlich dachte, um die Verbeſſerung feines
Gemüths ſich aber, als waͤre gerade dies eine Nebenſache, am
wenigſten bekümmerte; ich ſah ihn feinen Verſtand nur üben,
— 127 —
Kenntniſſe zu ſammeln, Geſchicklichkeiten nur erwerben, um, wie
er ſich ausdrückte, mit Ehren durch die Welt zu kommen, als
hätte er die erhabenen Kräfte ſeiner Seele nur deswegen von der
Gottheit empfangen, damit er das ſchlauſte, künſtlichſte, gewal⸗
tigſte, aber auch das gefährlichite aller Thiere werde; ich ſah ihn,
wie er ſich ohne Scheu von ſeinen Launen regieren, ohne Scham
von ſeinen Leidenſchaften überwältigen ließ, als ware es eine
Ehrenſache, ſich keinen Zwang anzulegen, ſondern feinen Nei—
gungen, Trieben und Wünſchen den Zügel ſchießen zu laſſen,
und dem von keinem vernünftigen Geiſte beherrſchten Thiere in
allen Gemüthsäußerungen vollkommen ahnlich zu werden; ich
ſah ihn, daß er eine Religion bekannte, nicht des Herzens, ſon⸗
dern der bürgerlichen Gewohnheit und Anſtändigkeit wegen; daß
er zu Gott Gebete hinplapperte, die Kirchen beſuchte, und die
heiligen Gebrauche derſelben übte, als wäre dies ein Zeremoniel,
mit dem bei dem Regierer des Weltalls, dem Lenker der Schick—
ſale, dem Richter der Todten Alles abgethan wäre; ich ſah ihn
die Religion Jeſu zum Deckmantel feiner Verbrechen, zum Be—
ruhigungsgrund für ſein Gewiſſen machen, indem er wahnſinnig
genug fabelte, er könne ſich auf das genugthuende Verdienſt un⸗
ſers Herrn und Heilandes berufen, und der Tod Jeſu ſei ein
Opfer für ſeine Sünde geweſen, ſo daß nun keine Strafe und
Verdammniß mehr zu fürchten ſei.
Wehe! wie tief kann der Menſch ſinken! Er iſt voll unaus⸗
löſchlicher Sehnſucht nach Glückſeligkeit, und doch nie glücklich,
weil er mit ſehenden Augen in ſein unzweifelhaftes Verderben
rennt, als ſchleppte ihn eine unſichbare Macht grauſam dahin.
Wohl eine grauſame, unſichtbare Macht! Seine Leidenſchaften
ſind es, die ſeine Seele verderben und ihr Glück, ihren Frieden.
Wer iſt denn der Menſch in ganzer Hoheit, geſchaffen, ein
Ebenbild Gottes zu ſein? Iſt es der Chriſt, welcher mit genauer
Selbſtkenntniß ſich immerdar beobachtet, daß er nicht fehle, und
jene Selbſtherrſchaft über alle ſeine Gemüthsbewegungen übt,
welche ihn über den großen Haufen erhebt?
Wohl iſt ehrwürdig der Weiſe, welcher vom Reiz ſinnlichen
Genuſſes, vom Zauber der Leidenſchaften, von der Macht des
1
Ehrgeizes, der Eitelkeit, der Wolluſt, der Zornmüthigkeit unab⸗
hängig daſteht, ein Freier unter den Sklaven, ein König unter
den Knechten! Ehrwürdig iſt er, denn keine äußere Gewalt beugt
ihn, kein Glück bringt ihn außer Faſſung, kein Unglück ſchlägt
ihn zu Boden — er ſteht in allen Stürmen unerſchüttert, nur
er ſelbſt beugt Alles, weil er ſeine Neigungen und Gemüthsbe⸗
wegungen meiſtern kann, daß ſie nie Einfluß erhalten auf ſeine
Entſchließungen. Bewundernswürdiger iſt er, als der, welcher
mit Hilfe unterjochter Völker andere Völker unterjochen kann,
nur nicht ſeine eigene Ehrſucht; bewundernswürdiger, als der
größte unter den Künſtlern und Gelehrten, die Werke zuſammen⸗
bauen, welche man als Wunder der Welt anſtaunt, aber dennoch
nicht einmal den ſteten Frieden und die Glückſeligkeit ihres eigenen
Gemüths zu gründen vermögend find.
Aber iſt Selbſtbeherrſchung die letzte und höchſte Stufe der
Vollendung, die der Menſch zu erſteigen hat?
Nein, Wäre ſie es, ſo würde Jeſus, der göttliche Welter⸗
leuchter, nichts Höheres gelehrt und gepredigt haben, als was
vor ihm ſchon viele Weiſen des Alterthums gelehrt und gepredigt
hatten. Ja, ſchon ehe Jeſus Chriſtus die Erdenwelt betrat, hat
ten die tugendhafteſten und einſichtsvollſten Männer gelehrt, daß
Selbſtkenntniß und Selbſtbeherrſchung die höchſte Würde des
Menſchen vorbereiten. Noch mehr, ſie ſelbſt gaben in ihrem
eigenen, herrlichen Lebenswandel das rührende Beiſpiel der
Selbſtkenntniß und Selbſtbeherrſchung, und bewieſen, daß dieſe
Tugenden nicht zu ſchwer wären, daß jeder Sterbliche ſie üben
könnte. Sie thaten es! Noch heute ehrt die Welt die Namen ſo
edler Männer. Sie thaten es! O ihr Chriſten, die ihr feig und
ſklaviſch vor Erfüllung dieſer himmliſchen Pflichten bebet, ſie
thaten es, und doch war ihnen noch kein Jeſus erſchienen — nur
finftere Ahnung war ihnen Ewigkeit und Gericht, was uns durch
göttliche Offenbarung ſchauerlich entzückende Gewißheit geworden.
Sie thaten es — Chriſten! und die es thaten, waren nur Heiden!
Aber Jeſus, der Hocherhabene, trat mit dem Glanze himm—
liſcher Weisheit in die Welt, und forderte mehr.
Auch er forderte Selbſtkenntniß, und daß ſich Jeder prüfe,
— 129 —
weil ohne Erkenntniß unſerer Sünden keine Vermeidung ders
ſelben gedenkbar iſt. Auch er forderte Selbſtbeherrſchung, Selbſt⸗
verlaͤugnung, weil, wer nicht feinen Lüften und Begierden Zaum
und Gebiß anlegen kann, von ihnen unterjocht und von der
Nachfolge Jeſu ausgeſchloſſen wird. Doch dieſes Alles thaten
auch die Heiden. Sie ſchonten ihres Feindes, ſie machten das
Glück ihrer Freunde, ſie verabſcheuten die Ausſchweifungen des
Schwelgers, des Ehrgeizigen, des Wollüſtlings, des Trunken⸗
bolds; ſie verachteten den Stolz und die Thorheit des Geizes,
die Unerſättlichkeit der Habſucht und die Schändlichkeit des überall
für ſich rechnenden Eigennutzes. Doch alle dieſe Tugenden waren
noch keine Chriſtentugend. |
Jeſus forderte vom Menſchen mehr. Er forderte die Aehn⸗
lichwerdung Gottes; er forderte eine Seelengröße, ſo weit der
Sterbliche auf Erden ihrer fähig iſt.
5 Nicht genug, ſprach er, iſt's, feinen Zorn zu mäßigen; nein,
liebet eure Feinde; ſegnet, die euch fluchen; thut wohl denen, die
euch haſſen; bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen; auf
daß ihr Kinder ſeid eures Vaters im Himmel. Denn er läſſet
ſeine Sonne aufgehen über die Böſen und über die Guten, und
laͤſſet regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn fo ihr lieber,
die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Thun nicht das⸗
ſelbe auch die Zöllner (Heiden)? Und ſo ihr auch nur zu euern
Brüdern freundlich thut, was thut ihr Sonderliches? Thun nicht
die Zöllner (Heiden) auch alſo? Darum ſollt ihr vollkommen
ſein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen iſt. (Matth.
5, 44 — 48.) 150 |
Dies iſt die Geiſteshoheit, welche der Himmliſche von uns
fordert. Nicht genug, daß wir uns ſo vollkommen ſelbſt beherr⸗
ſchen, daß unſere Neigungen und Gefühle uns zu keinem unrech⸗
ten Schritt verleiten, ſollen wir ſogar Segen und Wohlſein
um uns her verbreiten, fo weit wir reichen können. Nicht
der iſt ſchon tugendhaft, welcher ſich ſo in ſeiner Gewalt hat, daß
er nie eine Pflicht verletzt und vernachläſſigt; ſondern der iſt's,
der ohne Rückſicht auf äußere Verhältniſſe, ohne Anſehen der
— 130 —
Perſonen Gutes thut, und die allgemeine Glückf ſeligkeit vermehrt,
ja ſelbſt das Glück ſeiner Feinde.
Dies iſt die chriſtliche Seelengröße, dies der Gipfel irdiſcher
Vollendung! Der wahre Weiſe — und nur der heilige Nach-
folger Jeſu iſt's — fühlt ſich erhaben über die Ränke, Umtriebe
und Leidenſchaften des Lebens, und will nur beglücken, wo An⸗
dere aus Selbſtſucht Böſes thun. Er iſt erhaben über Beleidi⸗
gungen und Feindſchaften; er läßt ſich durch fie nicht hindern,
denen wohl zu wollen und Nutzen zu ſtiften, die ihn haſſen. Seine
Rache heißt vergeſſen und verzeihen. Er iſt erhaben über das
kleinliche Streben der gemeinen Menſchen, mit welchem ſie ihr
ganzes Leben daran wagen, in irgend einem Sinnenkitzel, in
irgend einer Eitelkeit ihr höchſtes Glück zu ſuchen. Sein höchſtes
Gut iſt das Eins ſein mit Gott. Er, ſich ſtets ſelbſt beherr⸗
ſchend, um rein von Fehlern ſein Herz zu bewahren, haſſet die⸗
jenigen nicht, die da fehlen, ſondern betrachtet ſie als das, was
ſie wirklich ſind, als Kranke, deren Leichnam die Seele drückt und
beherrſcht; als Irrende, deren Verſtand ein falſches Gut zum
Ziel, oder ein falſches Mittel zum Zweck gewählt hat. Er haßt
ſie nicht, aber bedauert ſie, und ſucht durch Beförderung einer
weiſen Aufklärung die Uebel des Irrthums zu vermindern. Er
iſt erhaben über die Leidenſchaft der Selbſtſucht und des Eigen-
nutzes. Er will nicht der edelſte der Menſchen fein, um der hoch—
geachtetſte von allen zu werden; wollte er dies, dann wäre er
uicht mehr edel. Er will das Gute nicht thun um einer höhern
Belohnung willen; wollte er dies, ſo waͤre ſeine Tugend nicht
mehr Tugend, ſondern Schlauheit und kluger Eigennutz. Er
liebt die Tugend, weil fie göttlich iſt. Er will vollkommen fein,
weil ſein Vater im Himmel vollkommen iſt. Er will eins ſein
mit Gott, weil ſein Geiſt aus Gott iſt, und ſich zu dem erhabenen
Urſprung zurückſehnt.
Dies iſt die aͤchte Erhabenheit des Gemüthes, die Jeſus von
ſeinem Nachfolger fordert. Liebe und Wohlthun iſt ihr Weſen,
und beſcheidene Demuth ihr Schleier. Sie trachtet nach dem
Höchſten, darum iſt ihr, was vom Staube kommt und zum
Staube zurückkehrt, das Niedrigſte. Das Ewige iſt ihr Heim—
\
— 181 —
weſen; daher erſcheint ihr das Erdenleben nur als Vorbereitungs
ſtufe. Sie ehrt die menſchlichen Stiftungen und Ordnungen, als
Mittel zur Beförderung der Glückſeligkeit; aber die Wahrheit,
das Recht und das Gute höher, als menſchliche Stiftung: denn
nur zu oft vergißt der ſinnliche Sterbliche über den Glanz jener
ſelbſterfundenen Mittel den ehrwürdigen, fernen Zweck. Gott iſt
ihr in dieſer Welt Alles, weil Gott in Allem iſt, und ſie ſelbſt
in Gott. Sie liebt das Leben, weil es ein Daſein in Gott iſt,
aber verachtet den Tod, weil er nur eine geringe Aenderung in
der Art unſers Daſeins iſt.
O erhabener Jeſus, dies iſt Deine Religion, Deine Offen⸗
barung, die Du in das Leben der Sterblichen brachteſt! Dieſe
Seelengröße iſt die Frucht des Chriſtenthums. Aber was bin
ich? Nein, ich war noch kein Chriſt! Was hatte ich? Nein, ich
hatte noch kein Chriſtenthum, ſondern ein feiges Schwanken
zwiſchen Sünde und Tugend, zwiſchen Staub und Gottheit.
O Jeſus, Dein heiliges Wort fällt wie ein Lichtſtrahl in mein
Gemüth. Heller erkenne ich den Sinn Deines himmliſchen Ge-
dankens: Ihr ſollt vollkommen ſein, gleichwie euer Va⸗
ter im Himmel vollkommen iſt.“
Die Seelengröße des Chriſten beſteht nun nicht in der gänz-
lichen Vernachläſſigung und Unterdrückung des Leibes, in der
Ertödtung aller Begierden, in dem gänzlichen Abſterben für die
irdiſchen Freuden des Lebens. Nein, dieſer Leib iſt das mir von
Gott verliehene Werkzeug, wodurch ich auf die Welt um mich
her wirken kann. Dieſes Werkzeug darf ich nicht verſchmaͤhen,
nicht verwahrloſen; ich würde meinen Geiſt des wichtigſten von
Gott verliehenen Mittels berauben, durch welches er feine Voll-
endung bewirken ſoll. Aber für mehr als ein Werkzeug darf ich
ihn nicht anſehen. Wenn ich für die Stärke, Feſtigkeit, Geſchick⸗
lichkeit und Geſundheit des Körpers geſorgt habe, dann habe ich
Alles gethan. Aeußerer Schmuck und Schönheit des Werkzeuges
find vorübergehende Nebendinge. Darein darf ich nicht allen
Werth ſetzen, noch weniger ihretwillen der Kraft und Geſund⸗
heit des Leibes Eintrag thun. Aber der, welcher das Werkzeug
regiert, iſt ſelbſt wichtiger, als das Werkzeug; und der Chriſt
— 132 —
iſt's, der den Leib regiert. Er opfert dieſen freudig auf, wenn
es ſein muß, die höchſten Zwecke, allgemeine Glückſeligkeit, zu
befördern. Ob Krankheit, ob Wunden, ob Schmerz, ob Tod —
des Chriſten große Seele achtet ihrer nicht, wenn es darauf an⸗
kommt, die höhern Güter zu retten: Wahrheit, Recht, Glauben,
Unſchuld, Menſchenglück.
Die Seelengröße des Chriſten beſteht nicht in ſtolzer Ver⸗
ſchmähung aller Lebensfreuden; aber jene Freuden ſind ihm nicht
mehr, als bloße Erquickung des Körpers, damit er durch Er⸗
holung neue Kräfte gewinne, nützlich zu arbeiten. Er verachtet
es, nur beſtändig ſinnlichen Freuden nachzujagen, und ſich be⸗
ſtändig zu erholen, ohne gearbeitet zu haben. Keinen Tag voll⸗
endet er, ohne eine gute That vollbracht zu haben. Er gibt alle
Freuden hin, wenn er damit fremdes Wohl vermehren kann.
Ihm iſt es Wolluſt, zu entbehren und zu leiden, wenn er da⸗
durch Glückliche macht.
Reichthum, Ehre, Anſehen ſind für ihn kein Gegenſtand der
Verachtung, aber auch kein Gegenſtand feines vorzüglichen Be—
mühens. Alle dieſe Herrlichkeiten, die der Menſch vergöttert,
können weder das Glück des chriſtlichen Weiſen vermehren, wenn
ſie kommen, noch vermindern, wenn ſie verſchwinden. Für ihn
ſind ſie nur Hilfsmittel größerer Thätigkeit für Menſchenwohl.
Er weiß ſehr wohl, wie unzuverläſſig das Anſehen, wie zwei⸗
deutig Ehrenbezeugungen ſind, und wie wenig alles Gold der
Welt vermögend iſt, eine dauerhafte Gemüthsſeligkeit zu ſchaffen.
Er iſt jede Stunde bereit, auf allen Ruhm Verzicht zu thun,
wenn er dadurch den Frieden und das Glück der menſchliche Fa—
milie vermehren kann. Er iſt jede Stunde bereit, allen Reichthum
aufzuopfern, wenn er damit allgemeines Leiden mindern kann.
Was vom Staube kommt, iſt im Staub; auch das Glaͤnzendſte
iſt ihm keines Seufzers werth. Was liegt daran, ob wir, was
wir endlich immer verlieren müſſen, ein paar Tage oder Jahre
früher verlieren? Nur wenn wir es verlieren, ſei es fuͤr eine hei—
lige Sache der Menſchheit. Eine Tonne Goldes tft nicht fo viel
werth, als das Bewußtſein einer goͤttlich-großen That, und das
Leben iſt leichter aufzuopfern, als die Unſchuld.
— 11
Die Seelengröße des Chriſten beſteht nicht darin, daß wir es
verſchmaͤhen, unſere eigenen oder die Rechte unſerer Brüder zu
vertheidigen, wenn ihnen Gefahr droht. Alle Rechte, welche wir
oder Andere in der bürgerlichen Geſellſchaft beſitzen, ſind Be⸗
dingungen, unter denen wir Hilfsmittel zu nützlicher Wirkſam⸗
keit erwerben, gebrauchen und bewahren können. Wer aus Bosheit
oder Irrthum dieſe Bedingungen zerſtört, muß durch Sanftmuth
oder Ernſt wieder zu ſeinen Pflichten zurückgeführt werden. Wir
nennen einen ſolchen unſern Feind; aber der Chriſt hat keinen
Feind. Es iſt möglich, man kann den Weiſen verachten, haſſen,
verfolgen oder beneiden; er aber, mitten in der Beſchaͤftigung,
ſeine Rechte zu ſchützen, bleibt ſeines Gegners Freund. Er weicht
ihm nicht zürnend aus, ſondern ehrt ihn, wie bisher, und ſteht
ihm bei, wo er kann, thut ihm wohl, wo eine Gelegenheit winkt.
Und, wenn endlich nur die harte Wahl offen bleibt, Unrecht thun
oder Unrecht dulden — ſie iſt ihm nicht hart: er duldet!
Darin offenbart ſich die Seelengröße des Chriſten am leb—
hafteſten, daß er immerdar und aller Orten voller Liebe gegen
die Menſchheit iſt, wie Gott; daß die Liebe nie erkaltet durch fremde
Undankbarkeit; keinen Unterſchied macht im Wohlthun gegen
Freunde oder Feinde, und noch mehr aus ſeinen Thaten, als aus
feinen Reden erkannt wird. In jeder Stunde, bei jedem Gefchäft
ſucht er der Beſte und Nützlichſte zu ſein, der er nach Maßgabe
ſeiner Kraft in ſolchem Augenblicke ſein kann. Und dies Alles
leiſtet er lieber im Verborgenen, als vor der Menſchen Augen.
Aber auch die Blicke der Menſchen ſcheut er nicht, ſobald er glau⸗
ben kann, ſein Vorgang und Beiſpiel könne heilſam werden.
Er will jederzeit unter den Verhältniſſen, in die ihn Gottes
Führung bringt, das Beſte und Höchfte. Er will es nicht allein,
nein, fein Wille iſt That zugleich. Aber dennoch verhüllt er be⸗
ſcheiden ſein Gutes, weil er es nicht um Menſchenlob thut, und
nicht von den Schwachen gerühmt ſein mag, die leider ſchon das
zu preiſen pflegen, was doch nur einfache Pflicht des Recht⸗
ſchaffenen iſt. Eine gute That, die nach Beifall geizt, iſt nur
der Verachtung der Edeln werth. Gott kennt ſie nicht. Wahre
Seelengröͤße hat eben darin ihre vollendete Hoheit, daß fie jedes
— 134 —
Opfer für Menſcherglück darbringt, ohne daß ein Sterblicher da⸗
von erfährt. Der wahre Chriſt hat Urſache zu glauben, daß
Andere edel handeln; denn er kennt ſeine Schwäche, die er noch
zu bekämpfen hat. Aber es iſt beſchämend, ſich für die Voll⸗
ziehung ſeiner Pflichten gelobt zu hören, weil eben dies Lob be⸗
weiſet, daß die es nicht geben dürfen, welche es ertheilen. Denn
wer das lobt, was Schuldigkeit war, bekennt, daß er ſelbſt ſeine
Schuldigkeit nicht mit Strenge leiſtet. Und wie mag uns ein
Ruhm aus ſolcher Menſchen Munde gefallen?
Und waͤre Schmach, Verfolgung, Kerker, Blutgerüſt die
Folge unſers tugendhaften Wandels — die Tugend iſt Alles;
Kerker und Blutgerüſt find nur Träume. Die Seele des Ge⸗
rechten iſt frei; was thun ihr die Feſſeln, welche den Leib drücken?
Der Tod auf dem Blutgerüſte für eine heilige Sache, oder der
Tod auf dem Schlachtfelde: ſind ſie etwas Anderes, als Tod auf
dem Krankenlager? Macht das Sterbekiſſen den Unterſchied für
einen Geiſt, der in Gott, für Gott, mit Gott lebt? Wie viele
Edle ſtarben unter dem Fluch der Zeitgenoſſen und unter dem
Beil des Henkers, deren Aſche von den Thränen einer dankbaren
Nachwelt ſegensvoll geehrt ward! Nicht das ſoll uns bekümmern,
was man von uns hält, ſondern das, was wir ſind. Nur un⸗
ſere That, nicht das Urtheil der Welt über dieſelbe, iſt unſere
Angelegenheit. Jene allein iſt unſer, dieſes wird von Umftänden -
herbeigeführt. Jene allein hat Einfluß auf unſere Würde, Voll⸗
endung und Seligkeit; dieſes kaum auf unſern hinterlaſſenen
Staub. Bald deckt Vergeſſenheit die Mörder und bald den Er⸗
mordeten. Aber Gott lebt, Gott richtet!
Du lebſt, Ewiger, Du richteſt, Allerheiligſter! — Was iſt
mein Leichnam im Tode? Ein abgefallenes Gewand. Was iſt
das -finnliche Leben, wenn es endet? Ein bunter Traum, deſſen
Farben beim Erwachen erblaſſen. Ich bin Geiſt, nichts ſonſt
bin ich und habe ich. Nur die Hoheit und Kraft, welche er ſich
zueignet in ſeiner Wirkſamkeit auf Erden, die kann des Todes
Hand nicht von ihm abſtreifen; denn dieſe Kraft iſt erſt dem Un
vergänglichen, Unſterblichen inwohnend, iſt nicht Staub.
Nach Seelengröße ringen — dies iſt des Gotterſchaffenen
u Se
höchſtes Ziel. Nein, es iſt nicht über Menſchenvermögen erhaben.
Denn auch Jeſus war nicht bloß zum Scheine Menſch; er leiſtete
das Höchſte, um darzuthun, dem ernſten Willen ſei auch das
Vollkommenſte erreichbar. Und nach ihm wandelten, von feinem
Wort und Beiſpiel begeiſtert, zahlloſe Andere. Sie opferten für
Recht und Wahrheit, für Unſchuld und Tugend, für Vaterland
und Menſchenglück muthvoll und entſchloſſen alle Kleinodien des
Lebens hin — Vermögen, Freundſchaft, Liebe, Ehre, Gewalt,
Freiheit, ja das Leben ſelbſt. Warum ſoll ich nicht können, was
ſie? Warum es nicht konnen, wenn auch tauſend ſchwache, von
ihrer Sinnlichkeit beſtochene und gelähmte Menſchen daran zwei—
feln, oder es Schwärmerei heißen? Urtheil Gottes in meiner Bruſt,
was gilt mir neben dir das Urtheil der tief in den Schlamm der
Sinnlichkeit und des Eigennutzes verſunkenen Menſchen? Sind
ſie für die Vollendung ihres Geiſtes nicht fähig, was Staub iſt,
Staub zu nennen, und was vergänglich iſt, dem Ewigen 1
opfern: warum ſollte ich es nicht fähig fein?
Jeſus Chriſtus! Vollendeter! Göttlicher! Du Urbild deſſen,
was im Weltall der Geiſter ſein ſoll und gilt; Du, aus dem
mich Gott und Natur anſprechen; In, eins und daſſelbe mit
Gott und Natur! Iſt's nicht Dein Beiſpiel, das mir vorleuchtet?
Die Welt von Menſchen, die Dich umgab, begriff Dich nicht,
Du heilige Kraft. Sie ſah auf Staub, auf Tand, äußere Macht
und bürgerliche Verhaltniſſe; Du trateſt laͤchelnd über den Staub
hin, und kannteſt nur die ewigen Verhältniſſe zwiſchen Dir und
Deinem Vater.
So will ich werden, Jeſus, wie Du. Soll ich Dein Nach⸗
folger nicht ſein, warum trug man mich als Kind zur Taufe,
und weihte mich zu Deiner Nachfolge? Ich will Dein Leben leſen.
Ich will Deine Lehren leſen. Ich will das Schwerſte thun, um
Hoheit und Freiheit der Seele, um Gottähnlichkeit zu erringen! —
Hart wird oft gegen meine ſinnlichen Begierden und Neigungen
der Kampf ſein! O Gott, o Kraft, o beharrlichen Muth! Amen.
16.
Weltklugheit und Chriftenweisbeit.
Matth. 10, 16.
Ich flehe nicht um Geld und Gut,
Ich flehe nicht um thränenloſe Tage,
Um Weisheit nur, o Gott, und Muth,
Daß ich als Chriſt des Lebens Schickſal trage!
Ich will nichts, Quell der Weisheit, nichts
Als Weisheit, wenn ich wirk' und leide,
Als Weisheit nur in Harm und Freude,
Als Licht von Dir, Du Quell des Lichts!
Auch der klügſte Mann kann fehlen, und durch eben diejeni⸗
gen Mittel, welche Jedermann für die zweckmäßigſten zu ſeinem
Glück hält, ſich das furchtbarſte Elend vorbereiten.
Auch der frömmſte Chriſt kann fehlen, und gerade daun
das größte Unglück anſtiften, wenn er am tugendhafteſten zu han⸗
deln glaubt, und es am beſten zu machen ſucht.
So unglaublich dies auch zu ſein ſcheint, daß man mit bloßer
Klugheit in den Abgrund des Verderbens ſtürzen, daß man mit
allem Tugendeifer, mit dem gerechteſten und heiligſten Sinn viel
Uebels anrichten könne: fo wahr iſt es doch. Die Erfahung gibt
uns davon unzählige Beiſpiele. — Dieſe Beiſpiele ſollen mich
warnen, ſollen mich aufmerkſamer auf meine eigene Art zu denken
und zu handeln machen. Vielleicht bin auch ich noch einer von
denen, die nicht den rechten Unterſchied zwiſchen dem, was klug,
und zwiſchen dem, was weiſe iſt, machen. Vielleicht bin auch
ich oft klug, ohne Weisheit; oft weiſe und fromm, aber ohne den
göttlichen Willen mit erforderlicher Klugheit auszuüben. Viel⸗
leicht bin auch ich einer von denen, die Jeſu erhabenen Spruch
nicht verſtehen: Seid klug, wie die Schlangen, und ohne Falſch,
wie die Tauben!
Der größte Theil der Sterblichen, wenig bekuͤmmert um gött⸗
liche Weisheit, jagt mehr dem Ruhm der Klugheit nach. Weni⸗
gen fällt bei ihren Unternehmungen ein, zu fragen: Erfülle ich
damit auch Gottes Willen? Iſt das, was ich thun will, auch der
4
— 11
Nutzen meiner Mitmenſchen? Habe ich damit auch das Wohl
meines Nächſten eben ſo ſehr im Auge, als meinen eigenen Vor⸗
theil? Handle ich bloß aus Neid, aus Habſucht, aus unreiner
Begierde, aus geheimem Haß gegen dieſen oder jenen, aus Stolz,
aus Herrſchſucht? — Verſäume ich nicht vielleicht größere Pflich-
ten, wenn ich dies oder jenes thue? — Wenige fragen ſo. Wohl
aber denken die Meiſten darauf, durch welche Mittel ſie zu ihrer
Abſicht am geſchwindeſten gelangen mögen; auf welchen Wegen
ſie ihr erwünſchtes Ziel am ſicherſten erreichen. Ob unter dieſen
Hilfsmitteln denn auch eine Lüge, ein Betrug, eine boshafte
Hinterliſt, eine Unredlichkeit mit unterlaufe, dies iſt ziemlich gleich-
gültig; dies verzeihen ſie ſich gern. Es iſt ihnen ſogar ſchmeichel⸗
haft, wenn man von ihnen ſagt: Er hat es klug angefangen, man
kann zwar nicht alles billigen, was er gebrauchte, um ſeinen
Plan durchzuſetzen: aber er hat ihn doch mit Klugheit durchge—
ſetzt; er hat ſein Ziel erreicht; gleichviel 1 es ihm nun, wie und
auf was für Art.
Ach nein, es iſt nicht gleichviel! Nein, die dich loben, haben
auch dein Verdammungsurtheil ausgeſprochen. Sie ehren deinen
Verſtand, deine Vorſicht, deine Geſchicklichkeit in Behandlung
deiner Geſchäfte, aber fie verabſcheuen deine Gewiſſenloſigkeit,
die Unredlichkeit mancher deiner Mittel. Du haſt dein Ziel ge⸗
wonnen, aber das Zutrauen, die offene Liebe deiner Mitbürger
für immer verloren. Wer einmal betrog, dem traut man nie
wieder! Du hörſt es nicht, wie man hinter deinem Lobe auch die
Worte hinzuſetzt: Vor dem muß man ſich in Acht nehmen! —
Du haſt mehr verloren, als gewonnen; du haſt dir vielleicht ein
todtes Gut errungen, aber edle, lebendige Herzen von dir ge—
ſtoßen. Man achtet deinen Verſtand, aber verachtet dein Herz.
Man bewundert mit Widerwillen und Ckel deine Geſchicklichkeit,
aber liebt in dir nicht mehr den guten Menſchen.
Sprich nicht: es iſt mir gleichgültig, was man von mir denkt.
Es iſt Thorheit, ſich nach den Urtheilen der Menſchen zu richten.
Hätte ich's nicht gethan, fo hätte es ſtatt meiner ein Anderer ge-
than. Gleichviel Alles, wenn ich nur meine Abſicht erreiche.
Nein, es iſt nicht gleichviel! Du haſt deine Abſichten erreicht,
1
aber die Achtung für dich ſelbſt Haft du verloren. Du waͤhlteſt
in deiner Klugheit unbillige Mittel, die dich freilich zum Zweck
führten; aber du haſt Gott verloren und das Vertrauen zu den
Menſchen. Du fürchteſt nun eben ſo von ihnen hintergangen zu
werden, wie du Manchen von ihnen hintergingſt. Du biſt aus
dem Paradieſe ſchöner Unbefangenheit und Unſchuld heraus⸗
getreten in eine unſichere Wildniß, du haſt keine Stütze mehr,
als dich und deine Klugheit. b
Denke nicht: Aber dieſe iſt mir Stütze genug; ich werde mich
ſchon in dem, was ich gethan, was ich erreicht habe, zu erhalten
wiſſen! — O du, der ſich mit ſeiner Klugheit brüſtet, wie ſchnell
verläßt dich jetzt ſchon deine Klugheit, wie ſchnell die Menge der
Erfahrungen, auf welche du ſtolz biſt! — Welcher Menſch kann
ſich genug auf eigene Kraft verlaſſen? — Ein Zufall kann Alles
zerreißen, was dein Witz verband; ein ſchreckliches Ohngefähr
kann Alles zertrümmern, was du erbaut haſt. Nein, kein Ohn⸗
gefähr, Gottes Welteinrichtung iſt's, der du, ſchwaches Weſen,
unterworfen bleibſt. Gottes Hand kann deinen Stolz vernichten.
Wie dann, wenn du nun mehr verloren haſt, als dir deine Kunſt
und Liſt gewann? Wenn du mit unerlaubten Mitteln dir Ver⸗
mögen zuſammenſcharrteſt, und dann unverhofft zum Bettler,
zum flüchtigen Schuldner wurdeſt, und ſtatt des Mitleidens dich
die Schadenfreude, dich die gerechte Verachtung ins Elend be⸗
gleitet? Oder wenn du für Ruhm, für Ehre, für Anſehen dein
Gewiſſen verunreinigeſt, und dann eine gewaltſame Umänderung
der Dinge dich aus der Höhe herabſtürzt, und Jeder dir nach—
ruft: er hat es verdient! — und Jeder, der dich nicht mehr zu
fürchten hat, dir nun ſtatt des Lobes, für das du Alles opferteſt,
Schmach und Spott nachruft, über das Grab hinaus dir nachruft?
Was war deine Klugheit am Ende? War fie nicht Thorheit?
Wie verächtlich iſt dein Verſtand, der nur auf die nächſten Wochen
hinaus rechnet, aber bei allen Unternehmungen vergißt, in jedem
Falle, auch im unglücklichſten feine Anordnungen für die ganze
Lebenszeit ſicher zu ſtellen! — Wie wenig verdient der das Lob
eines umſichtigen Mannes, der für den Genuß des Augenblicks
das Leben, für das Vergaͤngliche und Zufällige das Ewigwerthe
„ A
aufs Spiel jegt! — der, um glücklich zu werden, erſt die Hoch-
achtung gegen ſich ſelbſt, und dann das Zutrauen der beſſern
Menſchen, dann die Huld ſeines Gottes, endlich die frohe Aus-
ſicht in die finſtern Welten jenſeits der Sterbeſtunde verlieren
muß: — Hier iſt nicht Klugheit, ſondern Wahnſinn; hier iſt
nicht Vorſichtigkeit, ſondern Leichtſinn! — Denn dieſer Klugheit,
dieſer Vorſicht fehlte die wahre Grundlage — ſie wird Weisheit
genannt!
Wäre unſer Erdball, gleich einer beſſern Welt, nur mit hei⸗
ligen Weſen, nur mit Engeln bevölkert: ſo würde Weisheit zu
gleicher Zeit die höchſte Klugheit fein. Jeder würde die Leiden—
ſchaft fliehen, Jeder der Sünde fluchen, Jeder ſich unverſtellt
zeigen dürfen, ohne zu fürchten, von Böſewichtern mißbraucht
zu werden.
Aber ſo iſt es nicht. Der Gerechte, der Chriſt ſteht hienieden
unter Menſchen, die, ohne Menſchenliebe, nur ihrer unerſätt⸗
lichen Habſucht, ihrem Golddurſt, ihrem Ehrgeiz ein Genüge
thun wollen; unter Menſchen, die ſich oft darin groß dünken,
wenn fie, ſchlauer als ihr redlicher Bruder, ihn zu ſeinem Scha-
den, zu ihrem Vortheil überliſten können; unter Menſchen, die
Ihresgleichen nur wie Nebendinge, nur wie Werkzeuge und Ma⸗
ſchinen betrachten, welche man zu ſeinem Nutzen gebrauchen müſſe;
unter Menſchen, welche, wenn ſie auch nicht offenbar laſterhaft
ſind, doch von unreinen Begierden oft zu unreinen Handlungen
verführt werden; unter Menſchen, die, wenn ſie auch nicht ab⸗
ſichtlich ſchaden wollen, doch aus allzugroßer Schwaͤche ſchaden
können. — Darum ſprach der göttliche Meiſter, Jeſus Chriſtus,
der Weltkenner, zu ſeinen Jüngern, da er ſie auf ihre Wande⸗
rungen im Leben vorbereitete: Siehe, ich ſende euch als die Läm⸗
mer mitten unter die Wölfe. (Luk. 10, 3.)
In einer ſolchen Welt, unter ſolchen Menſchen, wie ſie nun
ſind, iſt es nicht genug, den Willen Gottes zu wiſſen; es iſt nicht
genug, die Geſetze Gottes zu vollſtrecken, um tugendhaft zu ſein:
man muß mit Vorſicht handeln, man muß mit Klugheit tugend⸗
haft ſein, man muß wiſſen die Tugendgeſetze richtig und ihrem
Zwecke gemaͤß anzuwenden. Und wer dies nicht weiß, oder aus
— 140 —
übertriebenem Eifer nicht will, kann durch Unbehutſamkeit ſich
und Andere zu Grunde richten, kann mit ſeiner vermeinten Tu⸗
gend das Werkzeug verachtungswürdiger Böſewichte werden und
das Reich der Sünde erweitern, wo er das Reich Gottes zu
vergrößern gedachte.
Wahr iſt's, du ſollſt dem Armen beiſtehen und dem Dürf⸗
tigen dein Almoſen reichen; aber mit einer ohne Klugheit aus⸗
geübten Barmherzigkeit wirſt du den zudringlichen, in Müßig⸗
gang lebenden Bettler füttern, und ihn in den Laſtein feiner Träg⸗
heit beſtärken.
Wahr iſt's, du ſollſt die Wahrheit reden; aber nicht ohne
Vorſicht. Es gibt Wahrheiten, deren Entdeckung das Glück recht⸗
ſchaffener Menſchen in Gefahr ſetzen könnte. Es gibt Heuchler,
welche dir mit der Miene des Wohlwollens Geheimniſſe ablau⸗
ſchen, durch die ſie nachher dich und Andere ins Verderben bringen
möchten. N
Wahr iſt's, du ſollſt Niemanden beleidigen, Niemanden er⸗
zürnen, gegen Niemanden hadern. Aber Menſchen werden dich
um dein Eigenthum, um deine Ehre, um deine Rechte zu betrü⸗
gen, andere werden dich und die Deinigen mit offener Gewalt zu
berauben ſuchen; vergebens ſtellſt du ihnen deine Menſchenfreund⸗
lichkeit, deine Unſchuld entgegen. Sie verſpotten deine Tugend;
ſie berauben dich und die Deinigen, wenn du ihrer Gewalt nicht
Gewalt entgegenſtellſt; wenn du nicht den Schutz der Geſetze
gegen ſie anrufſt; wenn du nicht vereint mit deinen Mitbürgern
in den Krieg hinauseilſt, oder deine Söhne ſendeſt, die Rechte,
das Eigenthum, die Ehre und Unabhaͤngigkeit deines Vaterlandes
zu vertheidigen.
Es iſt wahr, wir ſollen nicht irdiſchen Wohlſtand, gemädh-
liches Leben dieſer Welt als das Einzige und Höchfte anſehen,
wonach wir zu ringen haben, ſondern die Veredlung unſers Her—
zens immerdar zur Hauptſache machen; der Welt, das heißt, den
gemeinen thieriſchen Lüften, abſterben, und unſer Gemüth Gott
weihen, das heißt, göttlicher, heiliger machen. Allein dem Um—
gange mit Menſchen entſagen, ſich in Einſamkeit verſchließen,
nur beten, und der bürgerlichen Geſellſchaft, auf deren Koſten
— 141 —
man lebt, nichts nützen, iſt eine Frömmigkeit, die Gott nicht ge⸗
fallen kann, der den Menſchen unter den Menſchen ſchuf, daß
einer dem andern brüderlich diene, und Jeder nach allen Kräften,
die Wohlfahrt Aller vermehre.
Wahr iſt es, wir ſollen Vertrauen auf Gottes Führungen
haben; aber dies Vertrauen darf nicht zur Trägheit verleiten,
nicht zur Gleichgültigkeit gegen den Gang der Dinge. Wir müſſen
durch unvorſichtiges Betragen nicht ſelbſt die Stifter großen Uebels
für uns und Andere werden, und dann uns mit dem falſchen
Glauben beruhigen, Gott habe es ſo gewollt. Wir müſſen uns
und Andere nicht ſelbſt durch Unklugheit ins Unglück ſtürzen,
und dann dabei auf Gottes Beiſtand hoffen.
So iſt denn alle irdiſche Klugheit ohne chriſtliche Weisheit
nur Unklugheit, welche zuletzt Verderben erzeugt. So iſt Tugend,
ohne Klugheit und Ueberlegung geübt, zuletzt eine Untugend, des
ſtrengſten Tadels werth. Wir ſollen weiſe ſein mit Klug—
heit, und klug ſein mit Weisheit.
Klugheit aber iſt jene Geſchicklichkeit, die wir durch Erfah-
rung erwerben, vermöge welcher wir bei allen unſern Handlun-
gen immer die uns möglichſt beſten Mittel zur Erreichung unſerer
Abſichten wählen. Die Klugheit macht ſich mit allen Umftänden
bekannt, unter welchen ſie handeln ſoll. Die Klugheit ſinnet nur
auf ihren Vortheil, und ſucht ſich dahin der ſicherſten Wege zu
bemeiſtern. Die Klugheit geht bei Allem überlegt, behutſam,
vorſichtig und bedacht zu Werke.
Weisheit hingegen iſt das Streben, nur dasjenige zu thun,
was recht und gut iſt, was Jeſu Lehre, was der Wille des Aller⸗
heiligſten iſt. Die Weisheit will keinen Vortheil, nur Tugend;
ſie ſinnet nicht bloß auf ihren eigenen Nutzen, ſondern auf das,
was edel und wohlthätig iſt, es nütze dann, wem es mag. Sie
Sie ſehnt ſich nach der Heiligkeit ihres Gemüthes. Bei allen ihren
Handlungen athmet ſie nur Liebe zu Gott, nur Liebe für das
Wohl der Menſchen.
Die Klugheit wählt ſich irgend einen Vorſag, den ſie voll⸗
ſtrecken will, um ſich in neuen Vortheil zu ſetzen. Die Weisheit
aber ſpricht: Iſt dein Zweck auch erlaubt? Iſt er ſo, daß er Gott
— 142 —
gefällt? Haſt du dabei nur dich, haſt du nicht auch das Wohl
deiner Brüder im Auge.
Die Klugheit waͤhlt die ſicherſten und ſchicklichſten Mittel, um
ihr Ziel zu erreichen. Aber die Weisheit ſpricht: Wähle keine
ſchändlichen Mittel, deren du dich zu ſchämen hätteſt! Wähle
kein Mittel, das du tadeln würdeſt, wenn Du es bei Andern
wahrnähmeſt! Drücke die Hausarmen nicht mit ſchmählichem
Wucher, damit du Bettlern reiche Almoſen geben könneſt; lüge,
heuchle und ſchmeichle nicht, um dir die Gewogenheit Jemandes
zu erwerben; verleumde nicht einen deiner Mitbürger, um dir in
der Meinung der übrigen ein Anſehen zu verſchaffen.
Dies iſt alſo der wichtige Unterſchied zwiſchen der Klug⸗
heit und Weisheit. Jene gründet ſich auf den Verſtand, dieſe
auf die Wahrheiten der Vernunft. Jene ändert ihre Handlungs-
weiſe nach den Umſtänden; dieſe bleibt ſich zu allen Zeiten und
allen Orten gleich, weil ſie nur das will, was recht iſt. — Jene
ſchöpft ihre Kraft aus vielen Erfahrungen im Leben, dieſe aus
den Ueberzeugungen der Vernunft, aus der Erkenntniß des gött⸗
lichen Willens, wie ihn Jeſus uns geoffenbaret hat. Jene bringt
kurze, vorübergehende Vortheile; dieſe aber gewährt uns blei⸗
bendes Glück, nämlich innere Zufriedenheit, Seelenruhe, Achtung
für uns ſelbſt, freudigen Hinblick auf Gott und Ewigkeit. Jene
iſt für die Erde, dieſe iſt für den Himmel ſorgend.
Klugheit und Weisheit — welcher von beiden alſo ſoll
der Sterbliche den Vorzug geben? Sind ſie nicht beide Gottes⸗
gaben, dem Menſchen zu ſeinem Wohl verliehen? Er ſoll die eine
nicht ohne die andere üben; er ſoll ſie nie trennen. Seid klug,
ſagte Jeſus zu den Seinigen: ſeid klug wie die Schlangen,
aber ohne Falſch, wie die Tauben!
Jetzt erſt wird mir die Tiefe und Wahrheit des Sinnes klar,
der in dieſen Worten meines göttlichen Meiſters ausgeſprochen iſt.
O wie oft war ich nur nichts im Leben, als klug! Wie viel tau⸗
ſend Dinge that ich, wobei ich nur an meinen augenblicklichen
Vortheil dachte, ohne daran zu denken, ob das, was ich wollte,
und wie ich es that, auch gut, auch edelmüthig, auch keinem an—
dern Menſchen ſchadlich ſei! — Daher iſt es auch gekommen,
— 143 —
daß ich von fo Vielem, was ich wahrend meines Lebens voll-
brachte, auch keinen wahren bleibenden Nutzen hatte; daß mir
Vieles Sorge brachte und Manches ſogar Reue hinterließ. Ich
ſehe es ein, daß Klugheit ohne Chriſtenweisheit doch nur Unklug⸗
heit ſei.
Hätte ich bei jeder meiner wichtigern und unwichtigern Hand⸗
lungen immer auch daran gedacht, ob ſie ſchuldlos, ob ſie gerecht,
ob ſie für andere Menſchen ebenfalls ſegensvoll wäre, — o, ich
hätte bei meiner Klugheit keine böſe Handlung vollbracht, nie
eine That, deren ich mich jetzt heimlich ſchaͤmen muß, ſo oft ich
mich ihrer erinnere! O ich könnte heute nur an ein Leben voll
ſchöner, edelmüthiger Verrichtungen denken! — Ich wäre heute
der Wohlthäter aller der Meinigen, Wohlthäter unzähliger Mit-
bürger und Fremden, Wohlthäter vielleicht meines ganzen Vater⸗
landes! Ich wäre heute ſchon ein beſſerer, edlerer, größerer Menſch,
als ich leider nicht bin! — Ich wäre heute ſchon meinem heiligen
Urbild Jeſu ähnlicher, wäre meinem Gott naͤher!
Und ich bin es nicht. Ich handelte nur klug, nur für meinen
flüchtigen Nutzen; aber die wahre Weisheit, das zarte Gefühl des
Rechten, des Edelmüthigen, war fern von mir.
Nun denn, vermähle du dich, heilige Chriſtenweisheit, Weis-
heit der Religion, mit der irdiſchen Klugheit, wie der unſterb⸗
liche Geiſt vermählt iſt mit dem irdiſchen Leibe! — Denke, o
meine Seele, bei Allem, was du unternimmſt: Iſt das auch gut
und nach Gottes Willen, was du thun willſt? Könnteſt du nicht
etwas Beſſeres thun ſtatt deſſen? Oder könnteſt du es nicht auf
eine beſſere Art thun, ſo daß kein Unſchuldiger dabei litte, ſon⸗
dern es vielen Menſchen zum Vortheil gereichte?
Dann wahle zu deinen guten Abſichten mit Klugheit auch die
beſten Mittel. Bediene dich keiner unanſtändigen, keiner enteh⸗
renden Mittel, um deine Wünſche erfüllen zu können. Durch
ſchändliche Wege ein gutes Ziel erreichen zu wollen, heißt das
nicht mit Hilfe der Hölle in den Himmel eingehen wollen? Irre
dich nicht, Gott läßt ſich nicht ſpotten.
Handle lieber gar nicht, wenn du nicht mit Weisheit han⸗
deln kannſt. Laß lieber deine heißeſten Wünſche fahren, wenn
— 14 —
du einſiehſt, fie ſeien Andern nachtheiliger, als ihre Erfüllung
dir nützlich. Laß dein Urtheil nicht durch Leidenſchaft, durch die
Heftigkeit deiner Begierden beſtechen. Wähle einen ruhigen Augen⸗
blick der Ueberlegung, und mit kalter Beſonnenheit entſcheide
über das Rechtliche und Edle oder Unedle deines Beginnens.
Und haſt du entſchieden, dann handle mit unerſchütterlicher Seelen⸗
ſtärke deiner beſſern Ueberzeugung getreu. Haſt du ſchon etwas
angefangen, worüber dein Gewiſſen dir ſelbſt heimlich einen Vor⸗
wurf macht — laß deine unlautern Abſichten, laß deine übelge-
wählten Mittel fahren. Opfere lieber deinen ſchlechten Wunſch
auf, als die Hochachtung für dich ſelbſt! Denke, wie du deine
Wünſche auf eine andere: deiner würdigere Art befriedigen könneſt!
Und wenn die großen Augenblicke der Prüfung kommen;
wenn dein kleiner Vortheil neben dem größern Vortheil des Mit⸗
bürgers oder der Menſchheit vor dir auf der Wagſchale liegt; wenn
dein Nutzen der Schaden Anderer werden ſollte — dann erſcheine
in herrlicher Seelengröße! Hinweg dann mit kleinlicher, irdiſcher
Klugheit, die nur ihren Vortheil berechnen will, und gegen die
Chriſtusweisheit ſtreitet! Dann gehorche Gott mehr als den Men-
ſchen; dann gehorche Gott mehr als deinen ſinnlichen Begierden! —
Vielleicht könnte deine Rache nun einen Triumph feiern; nein,
triumphire du ſelbſt über deine Leidenſchaft, wie ein verklärter
Geiſt! Vielleicht könnteſt du dich bereichern: aber es wäre unge
rechtes Gut — nein, in den Staub mit dieſem Staube, und
ziehe dafür den ganzen Himmel in deine Seele. Verachte den
Namen des Klugen, und erwirb dir den Namen des Weiſen, des
Gerechten, des Edelmüthigen! Oder fürchteſt du, man werde deine
That verkennen? die Welt werde dich einen Thoren heißen, ſtatt
dich zu bewundern? — O laß die Welt! Wer wird ſeiner Seele
Reinheit verkaufen wollen um die Bewunderung der kurzſichtigen
Welt, um das Urtheil von Menſchen, das ſo ſelten gegründet
und gewöhnlich ſo wankelmüthig iſt? — Dich ſieht der Himmel,
dich beurtheilt Gott der Allerhöͤchſte!
3
17.
Der Werth des Lebens für den Meuſchen.
Phil. 2, 13. 14.
Es flieht der Menſch von Traum zu Traum,
Mit Hoffen und mit Liebe,
Durch dieſes Daſeins engen Raum,
Als ob ein Geiſt ihn triebe.
Er ſieht aus ſich hinaus, und fordert Seligkeit,
Und was er ſich ergreift, iſt Eitelkeit der Zeit!
Sei Weltgebieter,
Umſtrahlt von alles Glückes Sonnenlicht,
Sei Herr der ſchönſten Erdengüter:
Doch Seligkeit, die haſt du nicht!
Denn Seligkeit wohnt nur im heiligen Gemüthe,
Sie iſt nie Frucht des Goldes oder Ruhms;
Sie iſt nur Blüthe
Des Geiſterthums.
Drum nicht im Weltgetümmel,
Hier zwiſchen Trug und Schein:
Dein Wandel ſoll im Himmel
Mit Jeſu fein!
Flüchtige Tage! Flüchtige Jahre! Wir erwarten mit Ungeduld
die Erſcheinung des blumenreichen Frühlings, und nach weniger
Zeit ſeufzen wir: er iſt ſchon geweſen! Was wir Monden, Jahre,
Ewigkeiten nennen, ehe es kommt, nennen wir Augenblicke,
wenn es vorüber iſt. Das Kind begehrt nach der Jünglings⸗
ſtunde, der Jüngling nach dem reifern männlichen Alter. Zu
ſchnell kommt die Stunde, zu ſchnell das Alter. Sie blicken mit
wehmüthiger Sehnſucht in das Verſchwundene, wie in einen
ſchönen Traum, zurück; ihr Haar iſt eisgrau geworden. So war
es vor tauſend und abermal tauſend Jahren unter den Menſchen;
alle Geſchlechter der Vorzeit ſind längſt verſchwunden; ihre Aſche
iſt längſt verweht. Aber wir, mit unſern Begierden, Erwartun⸗
gen und Klagen, find noch, wie fie geweſen find. Und wie wir
heute ſind, ſo werden unſere Nachkommen nach tauſend und aber⸗
mal tauſend Jahren fein, wenn wir und unſere Familien längſt
verſchwunden find, und unſere Aſche ſchon längſt von allen Win⸗
den verweht iſt.
III. 7
— 146 —
Dies Drängen und Treiben der Sterblichen nimmt kein Ende,
und doch nimmt jeder Menſch ſein Ende ſo früh. Jedes Hundert
Jahre ſieht drei neue Menſchengeſchlechter kommen und gehen.
Aber alle drängen und treiben, als hätte das Leben kein Ende.
Sie ſcharren Geld und Gut zuſammen, als hätten ſie für ein
mehrhundertjähriges Auskommen zu forgen; fie ſtreiten, fie krie⸗
gen und unterhanveln, als müßten fie ewig herrſchen; fie werben
und ringen um Ehre und Würden, als könnten ſie auf Erden
das Unendliche haben; ſie kaufen und ſorgen, hadern und bauen,
als würden ſie ihre Häuſer und Güter nie verlaſſen. Und darüber
gehen ſie zum Grabe und hinterlaſſen Andern die Frucht ihrer
Mühen; wie ſie ſich über Erbſchaften von ihren verſtorbenen Ver⸗
wandten gefreut haben, ſo erfreuen ſich nun Andere über den
Gewinn ihrer Hinterlaſſenſchaft. i
Betrachtet man das Spielen und Tändeln, das Wirken und
Schaffen der Menſchen, man ſollte glauben, es wäre kein Tod
in der Welt. Und ſehen ſie Kinder, Jungfrauen, Jünglinge,
Männer und Greiſe aus dem Leben ſcheiden, ſo iſt es, als wenn
nur dieſe ſterblich geweſen, alle Ueberlebenden aber Unſterbliche
wären. Sie gehen weinend oder lächelnd von den Gräbern der
Freunde oder Bekannten zurück, und vergeſſen der Todten; ſo
wie die Krieger im Schlachtfelde links und rechts in den Reihen
des Heeres ihre Gefährten gleichgültig fallen ſehen, und Sieg
jauchzen, als wäre der Sieg von ihnen allein erfochten.
Man ſpricht vom Frieden, vom Krieg, vom Theilen der Länder
und Völker, von eigenen Entwürfen, von gelungenen und miß⸗
lungenen Arbeiten, von Feſten und Luſtbarkeiten, von Feind⸗
ſchaften, Heirathen, Reiſen, — von Allem. — Wer hört eben
fo in Geſellſchaften, oder unter Zweien und Dreien von der Ewig—
keit Sprechen? Glauben ſollte man faſt, der Gedanke an die Ewig—
keit ſei ein weggeworfenes Maͤhrchen, welches Keiner mehr möge
erzählen hören, oder er ſei gar nicht in dem Sterblichen vorhan—
den. Und doch dies alles iſt nur äußerer Schein. Nein, die
Menſchen ſchweigen nur von dem, was vor ihnen daſteht: aber
ernſt und finſter iſt ihr innerer Blick faſt ununterbrochen dahin
gerichtet. Sie ſchweigen und glauben; ſie lächeln vielleicht bei
— 147 —
dem Worte zweifelhaft, aber glauben und zittern. Die Jungfrau
ſchmückt ſich zum Tanz; aber auch vor dem Spiegel weht der
Gedanke an das Grab durch ihre Seele. Der gewerbfleißige Mann
überrechnet ſeinen Gewinn; aber unter dem Klange des Geldes
erhebt ſich der Gedanke an die Todesſtunde. Der Fürſt hüllt ſich
in ſeine Pracht und nimmt den gebietenden Scepter; aber auch
auf dem Thron, mitten im Gefühl ſeiner Hoheit, durchzuckt ihn
unwillkürlich der Gedanke an die Ewigkeit. — Was Alle ver⸗
ſchweigen, daran denken Alle. Der Schein iſt von außen; die
Wahrheit im Herzen verborgen und heimlich.
Und fo knüpft Jeglicher fein äußeres Leben ſtill an fein
inneres, und ſagt Niemanden davon. Jeder hat den Glauben
an Gott und Ewigkeit, aber wie er ihn hat und bewahrt, das iſt
ſein eigenes, tiefes Geheimniß. Da findet nur zwiſchen ihm und
der Gottheit Mittheilung und Offenbarung und Zuverficht ftatt.
Da fürchtet Jeder, würde er ſein Allergeheimſtes dem Andern
offenbaren, er könnte es entweihen; und jeder, auch der zarteſte
Einwurf würde ihn verwunden, ohne daß er ihn zu widerlegen
Neigung hätte. Denn das, was wir in unſerm Innerſten glauben
und in unſerm Innerſten ſind, das ſind wir wirklich ſelbſt;
daran mögen wir kein fremdes Auge und keinen fremden Zweifel
rühren laſſen. Alles, was wir nach außen hin gegen die Welt
ſind, iſt nur Klugheit und Schein. Das weiß Einer vom Andern,
und Jeder ehrt des Andern Geheimniß und daneben noch ſeinen
Schein, weil er das Gleiche für ſich von allen Uebrigen fordert.
Es iſt gar nicht nöthig, dem Menſchen zu ſagen, er lebe ſchon
hienieden ein zweifaches Leben. Er lebt es ja wirklich, und weiß
es von ſich.
Nur die Verbindung dieſer zweierlei Leben iſt bei Allen ver⸗
ſchieden, nach den Graden ihrer geiſtigen Ausbildung. Dem
Einen hat das irdiſche, ſinnliche Daſein mehr Werth, als ſein
Inneres und Ewiges, dem Andern ſtehen beide im Range gleich;
der Dritte fühlt klar, daß der Werth des Erdenlebens tief unter
dem des ewigen ſei. |
Der rohe Wilde, welcher noch mit unentfalteten Kräften der
Vernunft der Stillung ſeiner Triebe und körperlichen Bedürfniſſe
= 1
nachjagt; das Kind, welches noch unerfahren mit dem Augen⸗
blick der Gegenwart tändelt, und mit den Blumen über Gräbern
ſpielt, ohne zu ahnen, daß es einſt ſelbſt unter der Erde ſchlafen
müſſe; der verbildete, durch falſche Entwickelung ſeiner Verſtandes⸗
kräfte und durch Gewalt ſeiner Leidenſchaften wieder verthierte
Mann, der ſich in feiner Ueberfeinerung bereden möchte, Alles
ſei Staub, Alles Zufall, Alles für den Menſchen mit ſeinem
letzten Athemzuge zu Ende — — ſämmtlich ſtehen dieſe auf
einerlei und zwar auf der niedrigſten Geiſtesſtufe. Mit dem Irdi⸗
ſchen noch auf das engſte und innigſte verwachſen, wie das Thier,
ahnen ſie keine Erhöhung des Geiſtes über daſſelbe, kein er⸗
habeneres Leben. Die Welt, wie ſie ſie jetzt und hier haben, iſt
ihnen noch Eins und Alles. Außer dieſem Leben unterm Himmel
hat nichts für fie Werth.
Bei weitem aber der größte Theil der Erdenbewohner hat
feine innere Religioſität, die mehr oder weniger derjenigen nahe
kommt, die er mit den Lippen bekennt. Er weiß, daß er auch nach
dem Tode des Leibes nicht aufhören werde, da zu ſein. Er weiß,
daß er auch für ein beſſeres Loos jenſeits des Grabes zu ſorgen habe.
Doch ſeine Vorſtellungen vom Werthe dieſes und jenes
Lebens ſind noch verworren und unvollkommen. Allzuenge mit
ſeinen Begierden an das angeſchloſſen, was ſeinen Sinnen und
Neigungen wohlthut, legt er der Erde ſo vielen Werth bei, als
dem Himmel. Er möchte hier Alles genießen, Alles haben, und
weiht dieſem den größten Theil ſeines Sorgens und Thuns; in
den Nebenſtunden bedenkt er auch wohl das Ewige, und ſchmeichelt
ſich, durch Herſagen langer Gebete, durch Mittheilen von Almoſen,
die ihm zu geben Mühe machen, durch den Beſuch der Kirchen,
durch den Gebrauch der Sakramente, die Gottheit hinlänglich zu
befriedigen, und ſie zu bewegen, feiner Seele dereinſt nach dieſem
Leben ein anderes und beſſeres Loos zu gewähren. — Für ihn
iſt zwiſchen dem Dort und Hier kein großer, allgemeiner Zu⸗
ſammenhang. Er will hier gern ſeinen thieriſchen Neigungen ein
Genüge thun, und doch dort plötzlich ein höherer Geiſt ſein; er
erlaubt ſich hier die Werke des Stolzes, des Betrugs, der Wolluſt,
des Neides, und hofft durch das Verdienſt Jeſu Chriſti oder durch
win. A
die Fürbitte der Heiligen Vergebung aller Sünden, und dort
die höchſte Vollkommenheit. Er gehört überhaupt der Gegenwart
anz; dieſe Welt iſt ihm Hauptſache, jo lange fie ihm gehört, ge⸗
hört er ihr. Seinem beſchränkten Blick ſteht die Ewigkeit zu tief
im Hintergrunde. Er fühlt ſeine eigene Würde, als Geiſt, noch
zu wenig; darum iſt ihm das Irdiſche, mn was nicht des Geiſtes
iſt, noch ſo vielwichtig.
Je mehr der Menſch ſelbſt werth iſt, je weniger iſt ihm das
flüchtige Leben mit allen Vergänglichkeiten werth; je mehr geht
ihm Ewigkeit, Tugend und Gottheit über Alles. Wer einmal ſo
weit gekommen iſt, daß er mit Wenigem zufrieden ſein kann: was
fragt der nach Tonnen Goldes? Wer ſo weit gekommen iſt, zu
erfahren und einzuſehen, wie blindlings die Menſchen nach dem
Schein urtheilen, und wie wenig ſie das wahre Verdienſt zu er⸗
kennen und zu ehren, oder gegen Wohlthaten dankbar zu ſein
geneigt ſind was fragt der noch ängſtlich nach dem Urtheil des
großen Haufens, nach Anſehen und Berühmtheit? Wer einmal
den bittern Schmerz eines gebrochenen Herzens beim Verluſt
ſeines ganzen Vermögens, oder bei der Schändung ſeines guten
Namens durch menſchliche Bosheit, oder beim Sarge eines über
Alles theuern Geliebten, einer Freundin, eines Vaters, einer
Mutter, eines Kindes, gefühlt hat: wird der noch mit zuverſicht⸗
licher Leidenſchaft an irgend einem Gute dieſes Lebens hängen,
da er voraus weiß und ſich ſagen muß: Wer ſein ganzes Herz an
dieſes Vergängliche hängt, ſchafft ſich wohl ſelbſt die grauſamſten
Schmerzen!
So, indem der Weiſe die Nichtigkeit des Irdiſchen erkenut,
und um ſeiner eigenen Ruhe willen ſich der leidenſchaftlichen
Vorliebe für irgend einen Theil deſſelben erwehrt, indem er ſehr
gut einſieht, daß er in der Erfüllung äußerer Wünſche ſein inneres,
unzerſtörbares Glück unmöglich gründen kann, — daß dieſe un⸗
mittelbare Ruhe und Zufriedenheit des Gemüths vom Trieb nach
Wohlleben, Ruhm, Liebe, Reichthum nur vernichtet, keineswegs
vermehrt wird, — daß nur Bewußtſein vollbrachter großer
Pflichten, Unabhängigkeit vom Einfluſſe der Leidenſchaften und
gemeiner Vorurtheile, Einsſein mit Gott, Wandel durch dieſes
= We
bunte Leben im hohen und doch beſcheidenen Geiſte Jeſu eine
dauerhafte Seligkeit des Herzens bewirkt: — wird er göttlicher,
und das Leben ſinkt für ihn im Preiſe. Mag er auch zuweilen
noch lebhafter ſein Herz für dies oder jenes auf Erden ſchlagen
fühlen: er kann doch das herrliche Wort des weiſen und erfahrungs⸗
reichen, und über alle Schickſale hocherhabenen Jüngers Jeſu
mitſprechen: Meine Brüder, ich ſchätze mich ſelbſt noch nicht, daß
ich es ſchon ergriffen hätte. Eins aber ſage ich: Ich vergeſſe,
was dahinten iſt, und ſtrecke mich zu dem, was da—
vornen iſt, und jage nach dem vorgeſteckten Ziel, nach
dem Kleinod, welches vorhält die himmliſche anne
Gottes in Chriſto Jeſu. (Phil. 3, 13, 14.)
Wer unter uns, ſo vollkommen er auch wirklich ſchon wäre,
könnte von ſich ſelber ſagen: Ich habe mein Ziel ſchon er—
griffen! Ich habe vollendet! Mein Herz wird durch keine vor⸗
herrſchende Liebe zu irgend etwas Irdiſchem mehr gefeſſelt! —
O wer dies ſagen könnte, müßte er nicht mehr als Menſch ſein?
Daher ſoll man ſich hier vor Uebertreibung in denjenigen Vor⸗
ſtellungen hüten, welche man ſich von Weltverläugnungen macht.
Wir wandeln noch in unſerm ſterblichen Leibe; dieſer Leib hat
noch feine Beoürfniffe, die nach dem Willen des Schöpfers be-
friedigt werden müſſen, wenn wir nicht ſelbſtmörderiſch verfahren
wollen; bis zum letzten Augenblick des Lebens fordert nach ewigen
Geſetzen der Natur das ſinnliche Leben ſeine Genugthuung.
Unſere aus Fleiſch und Blut hervorgehenden Triebe und Nei⸗
gungen, inſofern ſie zur Lebenserhaltung und Bewahrung der
körperlichen Geſundheit abzielen, find keineswegs fündlich, ſondern
rein und gut. Aber ſehr leicht machen wir wieder durch Ueber-
reizung oder allzuhäufige Befriedigung eine dieſer Neigungen zu
herrſchend; daraus entſpringt wieder Leidenſchaft des Gemüths,
und damit wieder ein unmaͤßiges Hangen an irgend einem ver=
gänglichen Gegenſtand.
Der Menſch iſt folglich, ſo lange er lebt, in einem beſtündigen
Hinneigen zum Sinnlichen und Wiederzurückſtoßen deſſelben. Er
zerbricht, was ihn zu ſtark feſſelt, und knüpft ſich neue Bande.
Er wird nie ganz frei, und doch iſt ſein immerwährendes Streben,
— 151 —
frei vom Einfluſſe des Sinnlichen zu werden. Auch in der letzten
ſeiner Stunden wird er noch mit Paulus ſagen: Nicht daß ich
es ſchon ergriffen habe, oder ſchon vollkommen ſei.
Aber eins ſage ich: Ich vergeſſe, was dahinten iſt, und ſtrecke
mich zu dem, was davornen iſt. Ich ehre die Einrichtungen und
Bedürfniſſe des Lebens von außen, aber mein höheres Leben, das
Wandeln in Gott, das tugendhafte Wirken und Wollen, richtet
ſich über alles Vergängliche auf. Ich beherrſche meine Neigungen,
meine Liebe, meinen Widerwillen, und laſſe mich nicht von ihnen
beherrſchen. Ich thue, was recht, was Jedem nützlich, was edel
iſt, ſo ſehr ſich auch vielleicht demſelben meine andern Begierden
widerſetzen. Nicht menſchlicher Beifall, nicht das Lob der Mit-
bürger, nicht der Tadel des großen Haufens, nicht Ehrbegier,
auch nicht Erwartung von anderm Gewinn, beſtimmen mich, das
zu thun, was nach meiner innerſten Ueberzeugung recht und
göttlich und eines Jeſuſchülers würdig iſt. Die Welt kann meinen
Geiſt weder belohnen noch beſtrafen. Er findet ſeinen Lohn in
der Aehnlichkeit mit Gott, und ſeine furchtbarſte Strafe in der
Entfernung von Gott. Darum laſſe ich alle Genüſſe dieſes Lebens
mich weder zum Böfen, noch zum Guten locken; ſie ſollen alle
dem Körper, nicht dem Geiſte dienen. Ich vergeſſe, was da—
hinten iſt, und jage nach dem vorgeſteckten Ziel, nach
dem Kleinod, welches vorhält die himmliſche Berufung
Gottes in Chriſto Jeſu. Dieſe Welt, mit Allem, was ſie
Liebens- und Wünſchenswürdiges für mich haben könnte, iſt
doch nicht das Endziel meines Daſeins. Ich bin durch Gott zu
etwas Himmliſchem berufen; zum Geiſterleben, zu einer Voll—
endung, von deren Größe und Herrlichkeit ich als Menſch hienie—
den nicht einmal einen Begriff faſſen kann, während die dunkle
Ahnung davon doch in meinem Geiſte iſt. Dies Ewigſein, dies
Göͤttlichſein, dies Gottähnlichwerden, dies Hellerkennen Gottes,
meiner ſelbſt und des Weltalls, dies Heiligſein im unendlichen
Heiligthum, — dies iſt das Kleinod, dem ich nachjage, dies das
Kleinod, welches mir meine Beſtimmung, der himmliſche Ruf
Gottes, vorhält. Meine Beſtimmung und die mir von Gott ge⸗
ſchehene Berufung erkannte ich aber in Jeſu Chriſto und durch
-— Mn
Jeſum Chriſtum. Denn er iſt es, der Licht in die große Finſter⸗
niß des Lebens brachte; und darum wird er mit Recht das Licht
des Lebens genannt. Er iſt es, der mich durch ſein geoffenbartes
Wort aus der ungeheuern Verirrung, von der Tiefe des Wahnes
empor zu Gott, zum Vater des Weltalls und der Seligkeit führt.
Ich werde Gott haben, werde in ihm meine Seligkeit finden, wenn
ich Jeſu Anweiſungen folge; denn er, das heißt, ſeine Tugend,
iſt der Weg zum wahren Leben. Jeſu Tugend aber iſt, den
Willen des Vaters zu thun. Der Wille des himmliſchen Vaters
aber iſt, daß wir ihn lieben über Alles, und jeden unſerer Mit⸗
menſchen, mit dem wir auf irgend eine Weiſe in Verhältniß
kommen, ſo glücklich zu machen ſuchen, als uns ſelbſt.
Der wahrhafte Jünger des göttlichen Lehrers legt alſo nur
einen ſehr mäßigen Werth auf das gegenwärtige Daſein. Er ver⸗
ſchwendet feine Stunden nicht am Putztiſch für die Schönheit
und beſtändige Ausſchmückung eines Leichnams, deſſen Be⸗
ſtimmung iſt, Moder zu werden; er ſieht die Achtung guter
Menſchen gern, ohne ſich durch Achtung oder Tadel von den
Leuten in der Uebung feiner Pflichten wankend machen zu laſſen.
Was er will und thut, thut er nicht wegen des Urtheils der Leute,
ſondern aus Liebe zu Jeſu, das heißt, aus Liebe zur Heiligkeit.
Er freut ſich der Freundſchaft, freut ſich zärtlicher Gefühle einer
wechſelſeitigen Liebe und Gegenliebe, aber er bleibt demunge⸗
achtet ſeiner Empfindungen Meiſter. Liebe iſt unſterblich, und
die Weſen bleiben einander im unendlichen All — aber der
Menſch iſt ſterblich. Darum baut der Jünger des Herrn, der
Weiſe, nicht die ganze Glückſeligkeit ſeines Gemüthes auf das
gebrechliche Leben eines Menſchen. Gattin, liebe den Gatten;
Jüngling, die Auserkorne deines Herzens; Vater und Mutter,
liebe dein Kind! — Aber denke dir oft, daß der Tod nothwendig
einmal Einen vom Andern reißen wird: und wie ſteht es dann
mit der Ruhe deines Gemüths, mit deiner Glückſeligkeit? Schau-
dert es dir, und fürchteſt du mit dem Verluſt des Lieblings alle
deine Ruhe und Seligkeit einzubüßen, dann — ſo fromm und
gut du übrigens auch fein mögeft — hängft du zu ſehr an der
Welt, gibſt du ihr einen unmaͤßigen Werth; dann liebſt du leiden—
— 153 —
ſchaftlich; und darum biſt du nicht frei, nicht glücklich, und wirſt
es nicht werden, bis du auch hier, ſtark durch Tugend, und er⸗
haben durch die Hoffnung eines ewigen Seins, vom Irdiſchen
dich ſo weit losgewunden haſt, daß du das Liebſte auf Erden ver⸗
lieren kannſt, ohne darum dein ganzes inneres Glück und jene
Himmelsruhe einzubüßen, welche das Bewußtſein der Tugend
gewährt. Je weniger Werth dies Erdenleben für dich hat, mit
Allem, was es dir geben kann, um fo höher iſt dein eigener
Werth. Erſt dann wirſt du mit dem heldenmüthig frommen
Apoſtel jagen: Wir ſind getroſt alle Zeit, und wiſſen, daß, die⸗
weil wir im Leibe wohnen, ſo wallen wir dem Herrn. Wir ſind
aber getroſt, und haben vielmehr Luſt, außer dem Leibe zu wallen
und daheim zu ſein bei dem Herrn. Darum fleißigen wir uns
auch, wir ſeien daheim oder wallen, daß wir ihm wohlgefallen.
(2. Kor. 5, 6. 8. 9.)
Was bin ich werth? — Ich erkenne auch den Werth, welchen
ich auf das Leben oder einige Gegenſtände deſſelben ſetze. Je
größern Werth dies Leben, dies flüchtige, nichtige, für den Sterb-
lichen hat, je geringern hat er noch in ſich ſelber. Er iſt mit dem
Bergänglichen noch enger verwandt, als mit dem Unvergänglichen,
mit dem, was vom Staub kommt und zum Staub zurückkehrt,
enger, als mit Gott und allem Göttlichen.
Wohin hat mich dieſe Betrachtung geführt? — Da ſtehe ich,
mir ſelbſt befremdet, und blicke auf die Welt, auf mich, und,
o Gott, empor zu Dir! — — Und indem ich auf alles das
hinſehe, was mich auf dieſer Welt beſonders an ſich zieht; auf
Alles, was, wenn ich ihm nahe bin, mein Herz freudiger be—
wegen, oder was mich in namenloſen Schmerz ſtürzen würde,
wenn ich es verlieren ſollte — — ſo habe ich meinen eigenen
Werth gewogen. Noch bin ich meiner innern Vollendung fern,
ach! ich liebe, ich fürchte noch in dieſem Leben und von ihm zu
vieles, das weder dieſe leidenſchaftliche Liebe, noch Furcht ver-
dient. Noch hange ich zu ſehr an Manchem, mehr als meiner
Ruhe, meiner innern Seligkeit und ſelbſt meiner Tugend zu⸗
träglich iſt. Nicht daß ich allen ſchönen Freuden, die Deine
Ll.iebe mir auf Erden darbietet, entſagen follte: aber daß dies Ver⸗
— 154 —
gängliche nicht völlig beherrſche das Unſterbliche in mir, das iſt
Dein Gebot; das zu erſtreben, mein Ziel!
Herr, lehre mich eingedenk ſein, wie flüchtig meine Tage, wie
unſicher alle Annehmlichkeiten in dieſer Welt ſind, auf daß ich
ſie, ohne von Dir abzufallen, mit weiſer Mäßigung genießen und
mit erhabenem Troſte verlieren könne. Dies iſt die ächte Welt⸗
verläugnung, zu welcher mich Dein Sohn Jeſus Meſſias mahnt.
Herr, lehre mich eingedenk ſein, daß dies Wohnen auf Erden
nur ein kleiner Punkt meines unendlichen Seins iſt; daß mein
Wandel im Himmel ſein ſoll. Was meinen Geiſt jenſeits der
Todesſtunde erwartet, ich kann es nicht wiſſen; und könnte ich
es ſchon jetzt wiſſen, ich würde es nicht verſtehen. Wie mag das
unmündige Kind, welches an ſeinen Spielwerkzeugen mit Be⸗
gierde hängt, die edeln Freuden des reifern Alters begreifen?
So wandeln auch wir hienieden im Glauben und nicht im
Schauen.
Herr, lehre mich meines eigenen Werthes eingedenk ſein,
daß in meinen Augen der Werth dieſes Lebens ſinke. Gib mir
Kraft, Dein Geiſt ſei mit mir; nur ſo erringe ich die Freiheit
vom Zauber des Vergänglichen, und von der Gewalt der Leiden
ſchaften. Du, Herr, biſt der Geiſt. Wo aber der Geiſt des Bonn
iſt, da iſt Freiheit. Amen.
A
18.
Die Verirrungen guter Menſchen in
Beurtheilung des Lebens.
Joh. 16, 1. 4.
Fordre nicht, um deinen Wunſch zu ſtillen,
Eine beſſ're Welt;
Sie iſt beſſer, denn wofür dein Eigenwillen
Sie oft hält.
Du denkſt edel — biſt du ſonder Mängel?
Schlägt dein Herz ſtets rein?
Fordre denn auch nicht, daß Andre hier ſchon Engel
Der Vollendung ſei'n.
Jeder wandre ſtill in dem Geleiſe
Eigener Natur.
Suche ſtill und duldend nur in ſeinem Kreiſe
Gottes Spur!
In dem Gemüth aller Sterblichen iſt ein Bild deſſen, was gut,
vollkommen und heilig iſt. Dieſes Urbild der Vollendung wird
der Maßſtab, nach welchem wir die Höhe oder Niedrigkeit unſerer
eigenen Handlungen richten. Wir erkennen durch Vergleichung
unſers Lebens und wirklichen Seins mit dem, was wir
ſein ſollten, wie weit wir noch vom hohen Ziel der Vollkommen⸗
heit entfernt ſtehen. Daraus entſteht in allen vortrefflichen Ge-
müthern das heiße Streben, immer das Beſte zu begehren, und
nach dem Vollendetſten in feiner Art zu ringen. Daher entſteht,
daß jeder Menſch ſich für die Thätigkeit ſeiner Kräfte, ſelbſt für
fein bürgerliches und häusliches Leben, immer ein noch höheres
Ziel erwählt. Ohne jenes in uns wohnende Urbild des Voll-
kommenen würden wir beinahe ohne alle Wünſche nach einem
beſſern Zuſtande ſein.
Gott ſelbſt gab uns daſſelbe. Es ſollte unſere Leuchte ſein in
der Finſterniß. Er gab es, daß Jeder wiſſe, wohin er ſolle, was
er leiſten müſſe. Er gab es Jedem zur richtigen Beurtheilung
ſeiner eigenen innern Welt, nicht, um darnach die äußere
Welt zu richten. Denn die Mannigfaltigkeit von den Erſcheinun⸗
gen in dieſer letztern kann uns oft verwirren. Was ich ſelbſt bin,
—
und wie ich ſelbſt ſein ſoll, das weiß ich bei einiger Selbſt⸗
beobachtung ſehr leicht. Aber was andere Menſchen wirklich ſind,
und wie die Welt wohl ſein ſollte, dies iſt nicht ſo leicht zu ent⸗
ſcheiden. Dazu gehört eine ausgebreitete Erfahrung des Lebens
und ſeiner Verhältniſſe; eine Weltkenntniß, die nur in einer
längern Reihe von Jahren erworben werden kann; ein geübter
Blick, der nach mancher wahrgenommenen Taͤuſchug den Schein
endlich vom Weſentlichen zu unterſcheiden fähig iſt. Junge, un⸗
beſcheidene Leute, welche ſich Urtheile über die Welt, bei aller
ihrer Unkunde des menſchlichen Herzens, erlauben, pflegen daher
übereilt und vorſchnell abzuſprechen. Erfahrnere, einſichtsvollere
Perſonen urtheilen mit größerer Umſicht, und eben darum be⸗
dächtiger.
Die Anwendung der Urbilder des Vollkommenen und Guten
auf das wirkliche Leben iſt manchem Mißbrauch unterworfen.
Dieſer Mißbrauch kann beſonders auf doppelte Art geſchehen,
entweder indem man ſeine eigenen Vorſtellungen von menſchlicher
Seelengüte und Vollkommenheit, oder menſchlicher Verworfen⸗
heit mit der Wirklichkeit verwechſelt; oder indem man ohne
Berückſichtigung der verſchiedenen Anlagen und Denkarten der
Sterblichen, ohne ihre mannigfaltigen Verhältniſſe, Gemüths⸗
ſtimmungen und Anſichten in Anſchlag zu bringen, ſich vorſetzt,
vermittelſt ihrer ein uns vorſchwebendes Bild der Vollkommen⸗
heit in dem wirklichen Leben zur That zu machen, und auszu⸗
führen. 3
Dieſer Mißbrauch von den in uns wohnenden Urbildern des
Vollkommenen iſt ein Fehler, der gewöhnlich bei den evelgefinn-
teſten, gutmüthigſten, oft bei den geiſtvollſten Perſonen am
häufigſten wahrgenommen wird, die mit der Erkenntniß deſſen,
was ſein ſollte, eine lebendige Einbildungskraft, einen ſtarken
Willen vereinigen. Solche Gemüthseigenſchaften find beſonders
der Jugend eigen. Daher iſt auch nichts gemeiner, als daß junge
Leute ſich beftändig ſelbſt täufchen in ihren Urtheilen über die
Welt; keine ruhige Mittelſtraße zu halten wiſſen; immer von
einem Außenende zum entgegengeſetzten übertaumeln; den, der
ihnen gefällt, für einen Engel, den, der ihnen mißfällt, für einen
— 157. — 6
Teufel halten; in Allem ſogleich das Herrlichſte oder das Ge⸗
meinſte finden, die geſammte Menſchheit verbeſſern oder beglücken
möchten; von allen Leuten fordern, daß ſie mit gleichem Feuer⸗
eifer ſich ihrer Sache annehmen, und zuletzt Alles verdammen,
was nicht mit ihnen übereinſtimmend wünſcht und wirkt. Sie
leben nur unter ihren erhabenen Vorſtellungen, unter ihren Ur⸗
bildern des Schönen und Guten; unbekannt mit der Wirklichkeit,
verachten fie Alles, was ihnen nicht entſpricht, oder fie vergöttern
mit ſchwärmeriſcher Liebe, was denſelben ähnlich zu ſein ſcheint.
Solche fehlerhafte Stimmung bleibt aber oft bis ins ſpätere Alter
herrſchend, wenn beſonders bei Perſonen die Einbildungskraft
ein unmäßiges Uebergewicht gegen den prüfenden Verſtand ge⸗
wonnen hat, wo ſte dann zwar immer im Geiſte ihr Ziel ſehen,
aber unfähig bleiben, die dazu tauglichſten Mittel und Wege in
der wirklichen Welt zu würdigen.
Schwebte jemals irgend Jemandem das Urbild des Voll⸗
kommenſten vor; hat jemals Einer den kühnſten Entwurf zur
Beförderung des allgemeinen Wohls gefaßt, und zur Verbeſſe⸗
rung der Welt den ungeheuern Plan mit tiefſter Liebe gefühlt,
mit dem ſtärkſten Willen ausgeführt: ſo war es Chriſtus Jeſus.
Wer kam ihm je gleich? Aber bei feinem göttlich großen Ziel,
und ſeinem göttlich großen Eifer, der ihn noch in der Sterbe⸗
ſtunde am Kreuze nicht verließ, nahm er immerdar die Welt, wie
ſie wirklich war, um ſie in das zu verwandeln, was ſie nach
ſeiner hohen Vorſtellung ſein ſollte; er erwartete nie mehr von
den Leuten, als ſie ſein konnten. f
Er begann ſein hohes Unternehmen erſt in demjenigen Alter,
welches auf der Grenzſcheide zwiſchen Jugend und Mannheit die
warme Begeiſterung und Innigkeit von jener, mit Erfahrung,
Bedachtſamkeit und ausdauernder Kraft von dieſer verbindet. Er
ſtellte ſich die Menſchen nicht vortrefflicher, nicht ſchlechter vor,
als ſie waren. Er empfahl zur Sanftmuth der Tauben die Klug⸗
heit der Schlangen, zur Unſchuld des Gemüths die Vorſichtigkeit
gegen Andere. Er zeigte ſeinen Jüngern, was ſie von den Men⸗
ſchen zu erwarten hätten; denn auch fie erwarteten vielleicht noch
zuviel, und hielten dafür, Jeder denke wie ſie, und ſei für das
— 158 —
Heiligſte entflammt wie ſie, Darum ſprach er: Solches habe ich
zu euch geredet, daß ihr euch nicht ärgert. Es kommt die Zeit,
daß, wer euch tödtet, meinen wird, er thue Gott einen Dienſt
daran. Aber ſolches habe ich zu euch geredet, auf daß, wenn die
Zeit kommen wird, ihr daran gedenket, daß ich es euch geſagt
habe. (Joh. 16, 2. 4.) So warnte Jeſus, der tiefe Menſchen⸗
kenner, ſeine allzugutmüthigen, allzueifrigen, von der Güte ihrer
Sache allzuvollen Jünger. Was die Welt ſein ſollte, um
vollkommener und glückſeliger zu ſein, davon gab er ihnen
ein hohes Urbild, dem Jeder nachzuſtreben hätte. Was aber die
Welt wäre, davon theilte er ihnen ſeine Erfahrungen mit, und
dazu munterte er ſie auf, Erfahrungen zu machen, auf daß ſie
ſich mit ihren Wünſchen immerdar inner den Grenzen der Wirf-
lichkeit hielten.
Die Warnung an ſeine Jünger, nicht das Unerreichbare zu
hoffen, nicht ihre Vorſtellungen von der Welt mit der Wirklich—
keit zu verwechſeln, und fo in Gefühlen und täuſchenden Trau—
men zu leben, die dem, was außer ihnen ſei, nicht entſprechen,
iſt zugleich Warnung für mich und Jeden, der in einen ähnlichen
Fehler ſeiner Vorſtellungsart verfallen könnte. Die Warnung
iſt in unſern Tagen um ſo wichtiger, da die Jugend eines Theils
ſorgfaͤltiger als jemals erzogen, nur mit Beiſpielen des Edelſten
aller Zeiten umringt, und nur für Alles, was groß und gut iſt,
begeiſtert wird, wo ſie dann leicht beim Eintritt in die Welt, mit
Schwärmerei an den hohen Vorbildern hangend, die überſpann⸗
teſten Forderungen im Leben macht, und nur erſt mit bittern Er⸗
fahrungen zur Erkenntniß ihrer Selbſttäuſchung gelangt; an—
dern Theils aber zu nachlaͤſſig erzogen wird, mehr lieſet als
lebt, die Welt nur aus Büchern, das menſchliche Herz nur aus
Romanen und Schauſpielen kennen lernt, deren Verfaſſer, oft
ſelbſt noch jung und ohne Erfahrung, ihre Einbildungen von der
Welt, und Schattenſpiele ihrer Phantaſie für Abſchattungen der
Wirklichkeit geben. |
Das Streben, die Urbilder des Vollkommenen
außer uns in dem wirklichen Leben zu finden, und das,
was in uns iſt, auf die Außenwelt zu übertragen, iſt
— 159 —
ein Fehler. Und als ſolcher wird er die Quelle mannigfaltiger
Uebel für uns und Andere.
Es verleitet und die falſche Einbildung, welche wir uns von
den Menſchen machen, zu einer falſchen Behandlung derſelben.
Wer Alle entweder für vollkommene Weſen oder für Teufel haͤlt,
wird in ſeiner Verehrung, wie in ſeinem Widerwillen, zu den
nachtheiligſten Ausſchweifungen gerathen; er wird ſich dem Einen
zu unbedingt hingeben und vertrauen; keine Schwachheit an ihm
vermuthen, Alles göttlich an ihm finden, und oft nur durch
einige glänzende Eigenſchaften geblendet ſein, ihn für den Beſitzer
aller Vollkommenheiten zu halten. Er wird den Andern, viel—
leicht nur, weil er kalter, bedachtiger anſpruchloſer iſt, ohne wei⸗
teres Prüfen verdammen, verachten, meiden, und ſelbſt gegen
ſeine unlaͤugbaren Verdienſte ein Vorurtheil nähren. Er wird
ſich ſo unaufhörlich betrügen, nicht mit den wirklichen Menſchen,
ſondern mit ſeinen Einbildungen von ihnen, umgehen; Keinen
verſtehen und von Keinem verſtanden werden. — Es fehlt leider
an dergleichen Schwärmern nicht, von denen man zu ſagen pflegt,
daß fie nirgends ganz hinpaſſen; die man zwar lieben, aber zu=
gleich bemitleiden muß. Sehr oft machen fie durch ihre phan⸗
taſtiſchen Vorſtellungen das Unglück derer, die nach denſelben
unrichtig handeln. Noch öfter machen ſie ſich ſelbſt elend, ent⸗
weder wenn ſie Betrügern in die Hande fallen, die ihre Thorheit
benutzen, oder wenn ſie, beſtändig betrogen in ihren Erwartun⸗
gen, endlich überall Betrug und Verrath fürchten, Keinem mehr
vertrauen wollen, Ekel an der wirklichen Welt empfinden, die fie
nie kannten, und eben dann am meiſten verkennen, wenn ihre
ehemalige Begeiſterung und Liebe für die Menſchheit ſich in bittere
Menſchenverachtung oder gar in Menſchenhaß umkehrt. Es ver-
achtet Niemand die Menſchen mehr, als der ſie vorher allzugut-
müthig und heiß geliebt hatte. Aber ſowohl ſein Haß, wie ſeine
Liebe, find keine Zeugen vom Werth oder Unwerth der Menjch-
heit, ſondern von der Fehlerhaftigkeit ſeiner Vorſtellungsart von
der wirklichen Welt. |
Perſonen von feuriger Einbildungskraft und lebhaften. Stun
für das Gute, die ſich gewöhnt haben, mehr in ſich und mit
— 10
ihren Urbildern von Vollkommenheit, als in der wirklichen Welt
und mit den Menſchen, wie ſie ſind, zu leben, verlieren ſich leicht
in dieſe Fehler, ohne Prüfung der Zeiten, der Umſtände, der
Menſchen, das, was ſie für das Höchſte und Beſte halten, im
alltäglichen Leben auszuführen. Sie ſind immer voll großer und
ſchöner Entwürfe, an deren Gelingen ſie ihre eigene Begeiſterung
nie zweifeln läßt. Die Güte ihrer Abſichten ſcheint ihnen auch
das Glück derſelben zu verbürgen. Ihrem innigen, ihr ganzes
Weſen erfüllenden Wunſch ſcheint nichts unmöglich, und das
Schwerſte ausführbar. Sie ſtiften wohlthätige Anſtalten, und
träumen ſich von denſelben nur unvergängliche oder doch lange
Dauer, ohne zu erwägen, wie mancherlei Unfälle dazwiſchen
treten können, die deren Werth mindern, deren Zweck vereiteln.
Sie ſtiften Geſellſchaften zu vortrefflichen Zwecken, aber trauen
den Gliedern die gleiche Begeiſterung zu, in welcher ſie ſelber
athmen, und muthen ihnen mehr Thätigkeit zu, als dieſelben bei
ihren anderweitigen Pflichten und Verhältniſſen anwenden dürfen
und können. Ihre Unbekanntſchaft mit den verſchiedenen Nei⸗
gungen, Intereſſen, Leidenſchaften und beſondern Zielen aller
einzelnen Perſonen, Familien und Staaten, wird immer ſelbſt
das erſte und wichtigſte Zerſtörungsmittel ihrer gutgemeinten An⸗
ſchläge. Sie möchten Alles verbeſſern, Alles auf den Gipfel der
Vollkommenheit erheben, davon ſie vor ſich das Urbild ſchweben
ſehen: die Erziehung der Menſchheit, die Einrichtung der Staa⸗
ten, die Sitten der Völker, die Eintracht der Kirche — und ver⸗
ſäumen über das Allerbeſte, was ſie fordern, das Nützliche und
Gute, was ſchon vorhanden iſt.
Ungerechnet, daß dem menſchlichen Geſchlecht durch die Füh-
nen Verbeſſerungsverſuche ſolcher wohldenkenden, aber mit der
Wirklichkeit allzuunbekannten Eiferer vielerlei Elend erwachſen
iſt, muß ſchon die vergebliche Verſchwendung von Zeit und Kräf⸗
ten zur Ausführung an ſich unausführbarer Entwürfe mit Recht
getadelt werden. Die nothwendige Unzufriedenheit, welche in
uns gegen die Welt entſtehen muß, die für unſere hohen und
kühnen Gedanken keine Empfänglichkeit zu haben ſcheint, ſelbſt
der allmälig ſich aus dem beſtändigen Mißlingen unſerer men⸗
— 164 —
ſchenfreundlichſten Anfichten entwickelnde Menſchenhaß, muß uns
endlich lehren, daß der Fehler nicht ſowohl an der Welt und den
Menſchen, als an uns ſelbſt liege. Viele bilden ſich gern ein —
denn es kitzelt ihre Eigenliebe — ſie ſeien von der Welt nicht ver⸗
ſtanden, ſie ſeien verkannt von ihr; aber im Grunde verkennen
ſie die Welt, und verſtehen das Leben nicht.
Chriſtus, der Sohn Gottes, warnte vor dieſem Fehler. Aber
es iſt ſehr ſchwer, das wirkliche Daſein eines ſolchen Fehlers in
uns ſelbſt wahrzunehmen. Denn wie kann ich immer wiſſen, ob
ich bei meinen Wünſchen, irgend eine gute Sache auszuführen,
Welt⸗ und Lebenskenntniß genug dazu habe? Wie kann ich wiſſen,
ob meine Vorſtellungen von den Menſchen übertrieben ſind?
Hüte dich vor allen Dingen, an die Zuverläffigfeit deiner Ur⸗
theile über Perſonen und Sachen zu glauben, wenn du weißt,
daß du mit einer oft allzulebhaften Einbildungskraft
begabt biſt. Traue dir ſelber nicht. Höre das Urtheil älterer,
erfahrnerer, umſichtigerer Perſonen. Noch mehr, bemühe dich,
die Lebhaftigkeit deiner Einbildungskraft zu mäßigen, und zwar
dadurch, daß du ſie weniger, dafür aber mehr den ruhig berech⸗
nenden Verſtand bejchäftigeft. Die Einbildungskraft, eine fo-
herrliche Gabe Gottes ſie iſt, wird für das Gemüth nachtheilig,
wenn ſie ſich an die Stelle des Verſtandes ſchwingt. Sie iſt nur
ein untergeordnetes Vermögen der Seele. Der Geiſt, ruhig prüs
fend, ſoll allein herrſchen. Die meiſten Verirrungen der Jugend,
ſo wie aller guten Menſchen in Beurtheilung der Welt, entſprin⸗
gen aus dem Uebergewicht, welches fie der Einbildungskraft ge⸗
gen die Erfahrung einräumen. Dadurch verſetzen fie ſich in eine
ſelbſt gedichtete Welt, welche nirgends, als in ihnen iſt, und ver⸗
wechſeln ihre Träume und Vorſtellungen mit der wirklichen Welt,
die ſie ſich viel zu wenig Mühe gaben kennen zu lernen.
Verſaͤume keine Gelegenheit, mit und unter den Men⸗
ſchen ein thätiges Leben zu führen, nicht bloß ein ftil-
les, betrachtendes in deinem Zimmer. Nur dadurch wirſt
du zur Erkenntniß der mannigfaltigſten Gemüthsarten gelangen,
und den wahren Grund vieler Handlungen erfahren, den du jetzt
nur durch Schlüſſe folgerſt, und aus Vorausſetzungen herleiteſt,
— 162 —
die du dir machteſt, aber nicht in der Natur derer fandeſt, die mit
dir umgehen. Da wirſt du einſehen lernen, daß Jemand der vor⸗
trefflichſte Menſch ſein, und doch in ſeinen Anſichten von dir ab⸗
weichen kann; daß das Glänzende nicht immer das Beſte, und
das Schlichte, Unſcheinbare nicht immer das Verwerflichſte ift.
Meide jedes Urtheil, meide jeden Entſchluß, ſobald
du dich dabei von allzulebhaften Empfindungen des
Wohlwollens oder Mißfallens ergriffen fühlſt. Alle
Aufwallungen, alle zu tiefen Rührungen verdunkeln die Klarheit
des Urtheils; bringen die Einbildungskraft in Flammen; ver⸗
miſchen Traum und Wahrheit, machen uns einem Bercauſchten
gleich, oder einem Fieberhaften, der Dinge außer ſich zu ſehen
wähnt, die nur allein in ſeiner Einbildung wohnen. Je mehr
du zu heftigen Empfindungen geneigt biſt, je feſter ſei verſichert,
daß du in Uebertreibungen verfällit, worin du den Gegenſtand,
der dich beſchaftigt, zu ſchön oder zu häßlich erblickſt, Alles für
zu leicht ausführbar oder für zu gefährlich hältſt; daß du An⸗
dern im Lobe oder Tadel meiſtens, dir ſelbſt aber jedesmal,
Unrecht thuſt. Es iſt um ein gefühlvolles Herz ein köſtliches
Ding, ſo lange es dem zur Alleinherrſchaft beſtimmten Geiſte
gehorcht; aber es iſt die Quelle der größten Leiden, wenn es ge⸗
bietet, ſtatt zu gehorchen, Empfindungen für untrügliche Urtheile
gibt, und blindlings liebt und verdammt, weil es ihm nicht an⸗
ders gemüthlich iſt.
Halte überhaupt auch den beſten Menſchen in deiner Bekannt⸗
ſchaft, den geliebteſten unter deinen Freunden, nicht für ſo gut,
daß er nicht einen Fehler habe, der je nach den Umftän«
den ihn zu einem ihm und dir gefährlichen Schritt ver—
leiten könnte. Suche dieſe ſeine vielleicht ſchon ſehr entwickelte
Anlage zum Böſen, dieſe Schwäche, in welcher der Keim eines
Verbrechens liegt — ein ſolcher Keim iſt in jeglicher Schwäche! —
kennen zu lernen, um den Freund von dieſer Seite mit Vorſicht
zu behandeln. Aber halte auch den dir verhaßten widerlichſten
Menſchen nicht für ſo ſchlecht, daß er nicht eine oder die
andere tugendhafte Eigenſchaft beſäße, in welcher er
dich bei weitem übertrifft. Auch der Verbrecher, von ſeinen
— 163 —
Verbrechen auf das Blutgerüſt geführt, hat noch edle Züge des
Gemüths, die ihn achtungswürdig machen könnten, wenn ſie ſo
bekannt wären, wie die Ausbrüche feiner Rohheit.
Vergiß nie, auch bei den vortrefflichſten Entwürfen, die du
zur Beglückung deiner Mitmenſchen machſt, und zu deren Aus⸗
führung du mit hoher Begeiſterung ſchreiteſt: daß es gefährlich
ſei, alles Vorhandene umzuwerfen, ſeiner Mängel we—
gen, während du vielleicht das Gute nicht hinlänglich
gekannt haſt, welches doch auch darin liegen mochte.
Zerſtören iſt oft leicht, aber auch kein Verdienſt; das Beſſere aber
immer zweifelhaft, was man noch zu bauen gedenkt. Vergiß nie,
daß die Natur nicht plötzlich das Vollkommenſte darſtellt, ſondern
ſtufenweiſe Fortſchritte verlangt. Vergiß nie, daß nur ein Thor
das Gute verſchmäht, weil er nicht das Beſte haben kann. Min⸗
dere die Mängel; entwickele das vorhandene Gute; verlange nicht
die Ehre der That, ſondern gewähre ſie Andern: dies iſt der Weg,
auf welchem du allmälig zum Ziel gelangſt, dasjenige in der
Wirklichkeit darzuſtellen, wozu dich die Vorſtellung des Vollkom⸗
menen beſeelte.
Gott ſelbſt gab das Urbild der Vollkommenheit und die hohe
Liebe deſſelbem jeglichem Geiſte, nicht daß er nach demſelben die
Welt ändere, ſondern ſich ſelbſt. So erforſche denn dich zuvor,
was dir fehlt, um in deiner Lage und in allen Beziehungen der
Vollkommenſte zu ſein. Suche erſt dich ſelbſt zu veredeln, ehe
du an Andere die Forderung machſt, daß fie deiner Vorſtellung
von Vollkommenheiten entſprechen. Verachte darum Niemanden,
weil er nicht iſt, was er ſein könnte; denn auch du biſt nicht, was
du in deinen häuslichen und bürgerlichen Verhältniſſen, in deinen
Berufsgeſchaften, in deinen freundſchaftlichen Verbindungen, in
dem weiten Kreiſe der Chriſtenpflicht, ſein ſollteſt. Auch in dir
wohnen mehr Faͤhigkeiten und Kräfte, als du mit Weisheit zum
Beſten deiner Umgebungen anzuwenden weißt. Die Welt, die
ganze Menſchheit wird dir vortrefflicher zu ſein ſcheinen, wenn
du ſelbſt vortrefflich biſt, und dein Gemüth, fern von Eigendünkel,
aufhört, der Tummelplatz kleinlicher Leidenſchaften und betaͤu⸗
„
bender Gefühle zu ſein, ſondern nur Liebe und nichts als Siehe
zur Menſchheit if.
So warſi Du, Gottesſohn, Welterlöfer, die Liebe ſelbſt. Du
verkannteſt die Welt nicht, aber ſie verkannte Dich. Du ſaheſt um
Dich her Bosheit, die Dich haſſen mußte; Trägheit, der Du
gleichgültig bliebſt; Leichtſinn, der Dir anhing, um Dich wieder
zu verlaſſen; Schwachheit, die nicht Muth hatte, Dir zu folgen;
Blödſinn, der Dein erhabenes Ziel nicht begriff; und dennoch
liebteſt Du Alle mit gleicher Zärtlichkeit, und Deine Liebe über⸗
wand die Welt. Wie die Soune wandelt durch Regenſchauer
und in reiner Himmelsblaͤue, liebend, ſegnend, unaufhaltſam ihre
Bahn, wohlthätige Strahlen ſendend auf das Feld des Reichen
und des Armen, des Gerechten und des Miſſethäters: ſo warſt
Du, mein Heiland, Urbild ftiller, göttlicher Größe! Dir will ich
nachwandeln; leben, wirken, wie Du, nach meiner Kraft in De⸗
muth, zur Glückſeligkeit Aller, auf die ich zu wirken fähig bin!
Amen.
19.
Die Verleumdung
Epheſ. % 29.
Haſſen laßt uns alle Lügen,
Alle Schmähſucht; Jeder ſei
Offenherzig und verſchwiegen,
In der Freundſchaft feſt und treu;
Jeder nehme, wo er kann,
Des Verleumdeten ſich an.
Ja! mein Urtheil ſoll ſelbſt billig
Gegen meine Feinde ſein,
Ueberall zum Lobe willig
Und vom Gernetadeln rein.
Haſt genug an Dir zu thun,
Freund, laß fremde Fehler ruh'n.
— —
Von allen Untugenden iſt vielleicht in der menſchlichen Gefell-
ſchaft keine verhaßter, und doch keine gewöhnlicher; es wird keine
allgemeiner getadelt und keine allgemeiner geübt, als die Untugend
3 A: or
der Verleumdung, des Ausſpürens fremder Fehler, der Unter⸗
haltung von häuslichen Angelegenheiten Anderer, und der ſcha⸗
denfrohen Bemerkungen darüber.
Ja, viele Menſchen, denen ein gutes oder doch zum Guten
geneigtes Herz nicht abzuſprechen iſt, Menſchen, die im Beſitz
mancher löblichen Eigenſchaften ſind, denen es um ein wahres
Chriſtenthum ernſtlich zu thun iſt, können oft eine unwiderſteh⸗
liche Neigung haben, ſich um die Gefchäfte, den Zuſtand und das
Leben anderer Haushaltungen zu bekümmern, mit denen ſie viel⸗
leicht ſonſt wenig oder gar keine Gemeinſchaft haben. Noch mehr,
viele Perſonen, die das Laſter der Verleumdung, das Gift der
Läſterzungen am innigſten verabſcheuen, Perſonen, welche ſich
ſelbſt über das Leid beklagen, welches fie von fremden Zungen
erdulden müſſen, verfallen oft in den gleichen Fehler, den ſie An⸗
dern mit Recht zum Vorwurf machen, und glauben es doch von
ſich keineswegs.
Wer iſt Verleumder? — Jeder, welcher durch feine Reden,
Urtheile, Nachrichten, Bemerkungen dazu beiträgt, daß unfere
innere Achtung gegen einen unſerer Nächten mehr oder weniger
verkleinert werden kann, ohne daß dieſer vielleicht die Abnahme
unſerer Achtung verdient. Denn wer durch ſeine Bemerkungen,
durch ſeine Herumträgereien, durch das Ausſpüren und Feiltragen
deiner kleinen Familen⸗Angelegenheiten, durch liebloſe Auslegung
deiner Worte und Thaten die Achtung fehmälert, welche gute
Menſchen bisher von dir hatten, ihnen auch nur Mißtrauen und
Aengſtlichkeit im Umgange mit dir einflößt — raubt er dir nicht
einen Theil deines guten Rufes, deines bisher unbeſcholtenen
Namens, deiner bisher unbefleckten Ehre? Und iſt der Entweiher
deines innern Werthes, der Beſudler deines guten Leumdens,
nicht ein Verleumder?
Gewöhnlich denken ſich Viele, die ſich vielleicht ſelbſt von
dieſer gemeinen Sünde des Pöbels nicht ganz rein wiſſen, unter
dem harten Worte Verleumdung nur das Laſter in feiner größten
Argheit: abſichtliche Erdichtung ſchändlicher Nachreden, boshafte
Erfindung übler Gerüchte zum Nachtheile des guten Namens
und der Ruhe des Nächſten.
— 166 —
Man möchte gern nur das für Verleumdung halten, was
wider Jemandes Ehre ausgeſprengt wurde, aber davon die Wahr⸗
heit ſich nachmals nicht beſtätigte; jede ſchwarze Lüge, die Haß
und Neid erſonnen; jede Vergrößerung irgend eines kleines Fleckens
in der Denkart und Handlungsweiſe des Mitbürgers; jede allzu⸗
kühne und bösmüthige Folgerung aus irgend einem an
oder auch nur aus dem Schein deſſelben.
Aber wahrlich, der Tempelräuber, welcher das Heiligthum in
den Stunden der Nacht erbricht, entweiht und zerſtört, iſt nicht
allein ein Dieb. Der, welcher ſich das Geringſte, kaum eines
Almoſens werth, von dem Eigenthum des Nächſten wider deſſen
Wiſſen und Willen zueignet, iſt auch ein Dieb.
Der Erfinder ſchändlicher Nachreden und Gerüchte iſt nicht
allein der wahre Verleumder. Nein, auch der iſt es, welcher
dem Böſewicht Ohr und Zunge leiht, um die nachtheilige,
ehrenrührige Botſchaft geſchäftig unter allen Bekann⸗
ten herumzutragen. Er iſt der verächtliche Gehilfe des Bos⸗
haften, und für den Verleumder, was der Hehler für den Dieb
iſt. Beide find gleich ſtrafbar und ſchändlich. Beide find Genoſſen
gleicher Abſcheulichkeit.
Der Boshafte würde verſtummen, wenn er keine Genoſſen
feiner Läſterſucht hätte; er würde feine häßlichen Zwecke nicht er⸗
reichen, wenn er nicht immer ſchwache, plauderhafte Herumtraͤger
und Feilbieter ſeines Giftes fände.
Es iſt verleumderiſches Weſen, es iſt nicht menſchenfreund⸗
licher Jeſusſinn, wenn Brüder ſich auch nur erlauben, über die
Denkart, über die möglichen Neigungen ihrer Mitmenſchen zu
urtheilen, um fie irgend von einer ſchlimmen Seite ver-
dächtig zu machen und herabzuſetzen. Und, o wie groß iſt
die Zahl dieſer geſchäftigen Ehrenmörder! Wie Mancher, der ſich
für chriſtlich gut und weiſe hielt, ſinkt ſo in die Klaſſe derer, die
Gott mißfallen! Wie Mancher, der den Balken in ſeinem Auge
nicht bemerkt, lobt ſeinen Nächſten, nur um durch ein dem Lobe
angehängtes Aber den Splitter im Auge feines Nächſten bemerk—
bar zu machen! Wie Mancher zuckt die Achſeln, oder lächelt
haͤmiſch erniedrigend, um die gute Meinung zu zerſtören, welche
EEE ER INN 6.
Einer und der Andere von den Eigenſchaften feines Mitmenſchen
hatte! Wie Mancher ſucht durch gleichgültiges Schweigen, durch
bedenkliche Mienen Argwohn gegen den zu erregen, welcher etwa
Lob einärntet, und ſich doch dabei vor dem Rufe eines Läſterers
zu verwahren, indem er eigentlich kein übles Wort redet!
O wahrlich, auch dieſe find Verleumder, und von der ge—
fährlichern Art. Ihr Achſelzucken, ihr bedenkliches Schweigen
ſpricht mehr aus, als eine boshafte Zunge. Sie vergiften mit
ihrem Lächeln, ſie verleumden mit ihren Mienen. In ihnen iſt
nicht die erhabene Güte, welche dem Jünger Jeſu geziemet, ſon⸗
dern Falſchheit, Schadenfreude, Verrath und Neid toben in ihren
Herzen, und ſpiegeln ſich in ihren Geberden.
Es iſt Hang zur Läſterſucht, wenn man im geſelligen Um⸗
gange gefliſſentlich das Geſpräch auf das Thun und Laſſen des
Nächſten lenkt, um Gelegenheit zu finden, ſpöttiſche Anmerkungen,
oder boshafte Folgerungen, oder Verkleinerung manches
Guten, oder Uebertreibung manches Fehlers anzubringen.
Es iſt Hang zur Läſterſucht, wenn man durch mancherlei
Mittel die Angelegenheiten fremder Haushaltungen,
die innern Verhältniſſe anderer Familien auszuſpüren
ſucht, um ſie zum Stoff geſellſchaftlicher Unterhaltungen zu
machen, das heißt, um fie mit geſchwaͤtzigem Munde von Haus
zu Haus zu tragen, und zu Jedermanns Kunde zu bringen.
Denn jegliches Haus und jegliche Familie hat in ihrem In⸗
nern mancherlei Vorfälle und Umſtände, welche beſſer ein Ge—
heimniß bleiben, ob ſie gleich nicht zur Schande gereichen, wenn
ſie kund werden. Man liebt es, in ſeinem Hausweſen ohne Zwang
und unbeachtet einherzugehen, und ſich ſelber anzugehören. Man
nimmt weniger Rückſichten in Thaten und Worten, und bindet
ſich weniger an die Formen des Anſtandes und der geſellſchaft⸗
lichen Uebereinkunft, wie man wohl im Oeffentlichen thun muß.
Wer durch zudringliche Neugier dieſe innere Sicherheit des Hau-
ſes ſtört, wer durch Ausforſchen und Weiterſagen die kleinen
Familiengeheimniſſe den Menſchen aufdeckt, welchen wenig daran
gelegen fein ſollte: der iſt ein Verbrecher am häuslichen Glück
des Nächſten; er iſt Handlanger des ſchadenfrohen Verleumders
— 168 —
oder Verleumder ſelbſt, weil er gewiſſe Dinge weltkundig macht,
welche nicht gethan waren, um öffentlich zu erſcheinen, und daher
Andern leicht Stoff zum muthwilligen Geſpött oder zu nach⸗
theiliger Folgerung gewähren.
Und alſo ſteht in der Reihe der Verleumder Jeder, welcher
durch Urtheile, Nachrichten und Bemerkungen dazu beiträgt, daß
unſere Achtung gegen irgend Jemand vermindert wird, ohne daß
dieſer vielleicht die Abnahme unſerer Achtung verdient.
Wie aber kommt es, daß viele, in mancher Hinſicht oft ſchaͤtz⸗
bare Menſchen dennoch in dies ekelhafte Laſter verſinken, und
ſich des chriſtlichen Namens, und der öffentlichen Hochachtung
der Edeln, und des Wohlgefallens Gottes verluſtig machen?
Wohl mag oft Neid, oft Haß, oft die Bosheit eines ver-
brecheriſchen Herzens den Hauch der Verleumdung gegen des
beſſern Menſchen ehrenvollen Namen und Verdienſte ausſtoßen;
wohl mag oft die Schadenfreude in niederträchtigen Gemüthern
über allfällige Blößen des Nächſten oder über Unfälle deſſelben
triumphiren; wohl mag oft ein Laſterhafter Vergnügen daran
finden, Andern die Achtung zu rauben, die ihm ſelbſt nicht ge⸗
währt werden kann.
Noch öfter aber bewirkt eine thörichte Eitelkeit den gleichen
Fehler, indem Menſchen, die von derſelben beherrſcht werden,
gern Andere geringſchätzig machen wollen, um daun neben ihnen
deſto größer zu erſcheinen. Sie tadeln, um zu zeigen, daß ſie
von ſolchen Mängeln nichts an ſich haben. Sie ſetzen herab, um
ſich erheben zu können, ohne offenbares Selbſtlob. Sie ſpotten,
um von ſchwachen Leuten gefürchtet oder bewundert zu werden.
Sie reden von den Heimlichkeiten der Familien, um ſich wichtig
zu machen, weil ſie fühlen, daß ſie ſonſt zu arm an Hilfsmitteln
ſind, um einige Aufmerkſamkeit auf ſich zu ziehen. Sie plaudern
unbeſonnen und eifrig alles Gehörte wieder aus; und machen
ſich aus Horchen und Wiederſagen ein Verdienſt, um ſich bei
Neugierigen in Anſehen zu ſetzen, und bei kleinen Seelen beliebt
zu machen.
Zuweilen iſt es bloße Neuigkeitsſucht, Mangel an edlerer
Beſchaͤftigung des Geiſtes, was die Menſchen von ſchlechter Er-
A
ziehung oder lockern Grundſätzen anſpornt, die Worte und Tha—
ten Anderer auszuforſchen, das Geringſte, was in Häuſern ge-
ſchieht, in Erfahrung zu bringen, um dann darüber zu brüten
und zu urtheilen, und, wenn es die Gelegenheit mit ſich bringt,
auch wohl darüber zu laſtern.
Immer aber iſt dieſes Uebel ein unverwerfliches Zeugniß vom
Mangel eines richtigen Verſtandes; Zeugniß von der Ab-
weſenheit eines ächtchriſtlichen, edeln Gemüths. Aus Mangel
richtigen Verſtandes gehen oft ſo viele unbeſonnene, voreilige
Reden hervor, welche der Ehre des Nächſten zu nahe treten. Aus
Mangel richtig gebildeten Verſtandes ſucht man in dem Wieder-
erzählen deſſen, was Andere gethan, Stoff zur geſellſchaftlichen
Unterhaltung, und in der Verkündigung unſchädlich ſcheinender
Familienheimlichkeiten ein Vergnügen.
Dieſer Hang kann endlich zur herrſchenden Gewohnheit
werden, und wird dann im vollen Sinn des Wortes zum Laſter —
zum Laſter der Verleumdung, oder der ihr verwandten Klatſch—
ſucht; ein Name unedel, wie die Sache ſelbſt! — Man hält dann
die Neigung, ſich von den Schwächen, Blößen und Lächerlich—
keiten des Nächſten zu unterhalten, für eine der unſchuldigſten
Freuden des geſellſchaftlichen Lebens. Man verfchönert die efel-
hafte Sünde mit beſſern Namen; hält ſie für Theilnahme am
Wohl und Wehe der Mitmenſchen; haͤlt ſie für Uebungen des
Witzes, für harmloſe Scherze. Genug, die Sünde ſchmückt ſich,
um nicht durch ihre Haͤßlichkeit vor ſich ſelber zu erſchrecken.
Allein vergebens: Wer ſcherzend und tändelnd mit grauſamem
Vergnügen ſeinem Bruder den tödtenden Dolch ins Herz ſtößt:
iſt der weniger ein Mörder, als derjenige, welcher es im Rauſche,
im Wahnſinn des Zornes thut? — Wer ſcherzend, witzig, ſogar
geiſtreich, nur zur geſellſchaftlichen Unterhaltung, nur um ſich
angenehm und wichtig zu machen, durch hämiſche Bemerkungen,
durch Ausplaudern häuslicher Heimlichkeiten, durch Verdächtigen
gewiſſer Handlungen und Umftände die Achtung für einen feiner
Mitbürger im geringſten vermindert: iſt der weniger ein gefühl⸗
loſer Verleumder, als der, welcher das Gleiche thut, von Neid
oder ſchadenfrohem Haß entflammt? Ehrenmörder, Verleumder
III. 8
— —-
ſind beide, vor dem allgerechten Gott, wie vor dem Urtheil edlerer
Menſchen! Beiden gilt in gleich furchtbarem Ernſte die warnende
Stimme des göttlichen Wortes: „Laſſet kein faul Geſchwätz aus
euerem Munde gehen; ſondern was nützlich zur Beſſerung iſt, da
es noth thut, daß es holdſelig ſei zu hören!“ (Epheſ. 4, 29.)
Beide ſtiften durch ihre Liebloſigkeit Unfrieden, gegenſeitige
Verachtung und Geringſchätzung. Es iſt Verleumdung das Gift,
welches die Eintracht zwiſchen den Gliedern der Gemeinde auf—
löſet, daß fie alle einzeln daſtehen, und keines dem andern auf-
richtig zugethan iſt. Die Zunge des lächelnden Läſterers iſt das
Schwert, welches fo viele Herzen ſchied, die ſich einſt zärtlich lieb⸗
ten, und die Hölle in den Schoos mancher Familie warf, die
ſonſt einen Himmel beſaß.
Am furchtbarſten wüthet dies Laſter in kleinen Städten, wo
Wohlſtand genug herrſcht, um Müßiggang zu erzeugen; wo
Mangel einer beſſern Erziehung zur Wahl des Pöbellaſters ge-
neigter macht; wo die Menſchen nahe genug beiſammen leben,
um ſich alle zu kennen und zu berühren. Dort wüthet die Peſt
des bürgerlichen und häuslichen Glücks am nachtheiligſten, alſo
daß dort oft am wenigſten gegenſeitiges Vertrauen, Einmüthig⸗
keit der Familien, Alles umfaſſende Liebe zu finden iſt. Hier
geht leichter ein böſes Geſchwätz von Haus zu Haus; und die
Ohrenbläſer, Hin- und Herträger und Wiederſager werden nicht
ſo bald für ehrlos gehalten, als in größern Gemeinden, wo der,
welcher ſich um des Nachbars Heimlichkeiten bekümmert, auffällt,
weil man ſich im Gewühl der Menge weniger genau zu erkennen
und zu berühren gewohnt iſt.
Sollte ich die traurigen Wirkungen der Laſterſucht ni we
Begierde, jedes Gute und Edle an Andern zu verkleinern, ach—
tungslos hingeworfene Worte mit Wichtigkeit aufzuheben und
gehäſſig zu deuten — ſollte ich die Wirkungen dieſes niedrigen
Laſters in ihrer ganzen Gewalt ſchildern: woher nähme ich Zeit
und Worte? -
Ich müßte reden von den tauſend Thränen, welche durch
haͤmiſche, mit Eifer ausgebreitete Gerüchte den Unſchuldigen,
Verkannten ausgepreßt wurden. Ich müßte reden von den Seuf—
— 171 —
zern, welche klagend zu Gott aus der Bruſt deſſen ſtiegen, dem
ein boshafter Witz, oder des Neides Schlangenzahn, das edelſte
Kleinod, den guten Ruf zerſtörte; müßte reden von glücklichen
Familien, welche durch Mißverſtändniſſe und Zwiſchenträgereien
auf immer von einander geriſſen und entfernt wurden; müßte
reden von manchem Redlichen, dem durch die giftigen Verdach—
tigungen eines Dritten das Zutrauen eines Freundes, das Wohl-
wollen eines Gönners geraubt ward; reden von den Umtrieben
der Rachſucht und des gegenſeitigen Haſſes, welche eine Folge
unvorſichtiger Geſchwätze und ehrenjchänderifcher Klatſchereien
waren; reden von der allgemeinen Kälte, Gleichgültigkeit, ge-
heuchelten Freundlichkeit, Parteiſucht und Schadenfreude, welche
die Erbübel der Städte ſind, in welchen Verleumdung und Gern—
tadel zur Alltäglichkeit geworden; reden von der Vernichtung ſo
vielen häuslichen Glücks, wo ſtatt harmloſer Zwangloſigkeit nur
ſchüchterne Furcht und ängſtliche Rückſicht einheimiſch wurde,
und ſelbſt im Heiligthum feiner Hütte der Menſch keine Sicher-
heit vor der unbeſcheidenen Neugier lüſterner Tadelſucht hatte! —
„Aber (wird Mancher in der Stille denken) iſt es nicht er⸗
laubt, über ſeine Mitmenſchen ein unſchuldiges Wort oder einen
Scherz zu ſagen? Iſt denn jede Aeußerung eines Tadels ſelbſt
über anerkannt tadelnswerthe Menſchen eine Sünde? Wenn mir
nicht geſtattet fein ſoll, mein Urtheil über den Werth Eines oder
des Andern auszuſprechen: wie ſoll ich einen, der mir theuer iſt,
warnen können, dieſen als Verführer zu fliehen, jenen als Heuch⸗
ler zu meiden?“
Die heilige Schrift antwortet: Was nützlich zur Beſſerung iſt,
da es noth thut, daß es holdſelig ſei zu hören — das rede.
(Epheſ. 4, 29.) Dann alſo, wenn du glauben darfſt, dein
Tadel könne Beſſerung hervorbringen; dann, wenn du glauben
darfſt, die Erklärung deines Urtheils ſei Pflicht, die Verſchwei—
gung deſſelben könne Schaden ſtiften, — dann rede! Aber rede,
daß es holdſelig ſei zu hören, d. h. auch dann noch ohne Bitter-
keit, ohne Schadenluſt, ohne dich ſelbſt damit brüſten zu wollen. —
Wer ſieht in dieſen Worten der heiligen Schrift nicht die ſcharf—
1
gezeichnete Grenzlinie zwiſchen dem pflichtmaͤßigen und dem un⸗
erlaubten Tadel?
Auch fühlt es jedermann ſowohl an ſich ſelbſt, als in der
Art zu reden des Andern, ob ein geſprochener Tadel nothge⸗
drungen oder muthwillig und leichtſinnig ſei; ob er aus den reinen
Quellen der ächten Menſchenfreundlichkeit, oder aus den Quellen
der Bosheit, des Neides, der Langeweile, der Geſchwätzigkeit,
des Spottes, der Eitelkeit und Neuigkeitsſucht fließe.
Iſt es dir Ernſt, dich über den rohen Haufen der Bildungs⸗
und Herzloſen erhoben zu ſehen; iſt es dir Ernſt, deine Zunge,
für deren Gebrauch du Gott, dem ſtrengen Richter, verantwort⸗
lich biſt, dem Dienſte der Verleumdung zu entziehen: ſo meide
die Geſellſchaft der Verleumder. Und kannſt du das deiner
beſondern Verhältniſſe wegen nicht immer: ſo ſtimme nicht
ein in ihren Tonz ſei nicht ihr Gehülfe, ſei nicht der Wieder⸗
träger ihrer giftigen Bemerkungen, ſondern erhalte dein eigenes
Urtheil über diejenigen Perſonen rein, mit welchen ſich die Ge⸗
ſchwätzigkeit boshafter oder unbeſonnener Leute beſchäftigt. Das
iſt es, was Paulus, der Geſandte Chriſti, ſagt: „Gebet nicht
Raum dem Läſterer!“ (Epheſ. 4, 27.)
Es iſt kein Ort, wo man nicht diejenigen mit heimlicher oder
lauter Verachtung ziemlich genau bezeichnet, welche eine loſe
Zunge haben. Man iſt vielleicht zu ihrem Umgang gezwungen,
aber man verhehlt ſich nicht den Ekel vor ihrem bekannten Fehler,
alſo, daß jeder Gute immerdar vor ihnen gewarnt iſt. Selbſt
die Läſterſüchtigen unter einander verachten und fürchten ſich gegen⸗
ſeitig, alſo daß unter ihnen keine Liebe iſt.
Gebiete deinem Munde Schweigen, wenn ſich die fehaben-
frohen und ſpöttelnden Geſpräche auf Perſonen hinlenken, gegen
welche du ſelbſt vielleicht Abneigung empfindeſt, oder die dir An⸗
laß zum Mißvergnügen geben. Denn dein Urtheil über ſolche
könnte alsdann noch falſcher und ungerechter, noch bitterer und
gehaͤſſiger ausfallen, als das Urtheil berüchtigter Läſterer, weil
chſi bei dir leidenſchaftliche Empfindlichkeit oder eine kleine Rach⸗
ſucht wegen erlittenen Unrechts einmiſcht.
Behalte deine ruhige Beſonnenheit, jo oft du üble Nach—
— u a
richten und Bemerkungen über Andere vernimmſt. Scheinen dir
aber doch ſolche Läſterberichte für deine Verhältniſſe nicht ganz
gleichgültig zu ſein: ſo forſche nach den Quellen, aus welchen
dieſe Anzeigen gekommen find, und ſuche die Wahrheit zu er—
gründen. Schon oft verliert bloß dadurch eine boshafte Erzählung
ihren ganzen Werth, ſobald man nur erſt weiß, aus was für
einem Munde ſie hervorgegangen. In keinem Falle aber ſei du
der MWeiterträger der Botſchaft. Sie ſei geſprochen und vergeſſen
in demſelben Augenblicke; iſt ſie gegründet geweſen, wird ihre
Wahrheit endlich ans Licht treten müſſen, ohne dein geringſtes
Zuthun.
Weiche ſelbſt dem Geſpräche über anerkannte Fehltritte deiner
Mitbürger aus, weil man aus deinen Worten vielleicht noch mehr
Gift zum Nachtheil der Fehlbaren oder Unglücklichen ſaugen
möchte. Kannſt du aber, ohne die Wohlanſtandigkeit zu ver-
letzen, nicht dem Geſpräche entrinnen: fo ſei dein Urtheil bejchei-
den, ſanftmüthig, mildernd, gleichſam Verzeihung flehend.
Beginne lieber die Rede von den Verdienſten, von den löb—
lichen Eigenſchaften der Getadelten, und lege fie ihren Fehlern
gegenüber in die Wagſchale. Schon nur dieſer Verſuch wird
manchen Läſterer vorſichtiger machen, oder ihn ganz zum Ver-
ſtummen bringen. Nur dieſer Verſuch ſchon wird deinem Herzen
Ehre gewähren, wird dir ſogar Achtung und einiges Vertrauen
bei den Läfterfüchtigen und Schwägern erwecken, weil fie über—
zeugt werden, du ſeieſt edel und muthig genug, auch von ihnen
ſelbſt in ihrer Abweſenheit das Gute zu ſagen.
Beſonders aber vermeide, dich um Häuslichfeiten deiner Mit-
bürger zu bekümmern, die doch auf dein eigenes Wohl und Wehe
keinen Einfluß haben. Laß Jedem in ſeiner Wohnung die ſchöne
Freiheit des Thuns, welche dir ſelbſt ſo lieb iſt, wenn du ſie ge—
nießen kannſt. Und wenn du auch bei deinem Nachbar, bei deinen
Bekannten mancherlei wahrnähmeſt, was allenfalls deinen Bei-
fall nicht erregen könnte: lerne ſchweigen, und werde nicht Ver-
räther und Ausplauderer von Dingen, die Keinem nützen zu
wiſſen. Sprich nicht von ihnen, ſelbſt nicht gegen deine Ver⸗
trauteſten. Nichts wird leichter zu einer unſeligen Gewohnheit,
— 174 —
als dieſe unanſtändige Mittheilungsbegierde, die der erſte Schritt
zur laſterhaften Geſchwätzigkeit, zu Tadelſucht und Verleum⸗
dung wird. ö |
Alles, was ihr thut mit Worten oder mit Werken, das thut
Alles in dem Namen des Herrn Jeſu, und danket Gott und dem
Vater durch ihn! (Kol. 3, 17.)
Ach, wie leicht kann auch ich ſchon oft durch unüberlegte
Urtheile über des Nächſten Thun und Laſſen gefehlt haben!
Vater im Himmel, Vergelter jedes Unrechts, ernſter Richter jeder
Sünde, vergib! Vergib mir dieſe Sünde, die ich von Herzen
bereue. Ich empfinde es, wie lieblos, wie ſchändlich ich gehan⸗
delt habe! O vergib, wenn irgendwo eines meiner unbedachtſam
ausgeſtoßenen Worte in Andern die Achtung minderte, die ſie
ſonſt für irgend einen ihrer Brüder hatten. Vergib, wenn meine
unbeſonnenen Reden irgend einem meiner Miterſchaffenen nur
einen mißvergnügten Augenblick, nur eine Thräne verurſachten!
Ich will von heute an ſtrenger über mich ſelbſt wachen, und
meine Lippen bewahren vor dem, was ungerecht und böſe iſt,
und Dir und allen Edeln unter meinen Brüdern mißfällt. Denn
Du, Gott, biſt kein Gott der Läſterer, der Spötter und der
Störer haͤuslichen Glückes, ſondern ein Gott der Frommen,
welche den Menſchen lieben, wie Jeſus geliebt hat. Amen.
20.
Der Schmerz, verkannt zu ſein.
Matth. 5, 10 — 12.
Dein Beifall iſt das Größte,
Wonach ich ſtreben kann!
Wenn ich mich deſſen tröſte,
Wie glücklich bin ich dann!
Ob mir gleich oft auf dieſer Welt
Der Menſchen Lob und Ehre
Bei guten Thaten fehlt.
Wenn einſt die ernſte Waage
Du, Weltenrichter, nimmſt,
Und am Vergeltungstage
Der Thaten Werth beſtimmſt:
Dann müſſe meinem ew'gen Geiſt
Des Himmels Krone werden,
Die mir Dein Wort verheißt.
Was habe ich nun davon, daß ich meine ganze Kraft, meine
Zeit, mein Geld und ſo manche ſchöne Stunde meines Lebens,
die ich dem Vergnügen entzog, für Nutzen und Wohlfahrt An—
derer mit dem redlichſten Eifer hinopferte? — Undank habe ich
dafür geaͤrntet, Spott und Achſelzucken. Ich muß mich wohl gar
noch glücklich ſchätzen, daß man mich nur noch in der menſchlichen
Geſellſchaft duldet, und nicht ausſtößt und verfolgt.
Gewiß mit herzlicher, uneigennütziger Liebe habe ich die Men-
ſchen geliebt; ich Hätte mich für fie zu Grunde richten laſſen, wenn
es gefordert worden wäre. Ich ſchonte meiner nirgends, wo es
darauf ankam, ihnen beizuſtehen. Ueberall that ich mehr, als
die gewöhnliche Pflicht und Schuldigkeit von mir forderte. Zum
Helfen fand man mich immerdar bereit, aber mir dagegen mochte
Keiner helfen; ja vielmehr ſind diejenigen, für die ich lebte und
arbeitete, die erſten, die mich zu verleumden und zu erniedrigen
ſuchen, meinen guten Namen beflecken, und nicht nur den Werth
deſſen, was ich that, in Zweifel ziehen oder verkleinern, ſondern
mir wohl gar, wenn ſie könnten, zum Vorwurf und Verbrechen
machen möchten.
Ich verſuchte manches Gute. Warum ward es boshaft zer⸗
— 176 —
ſtört und gehindert oder verachtet, weil es von mir kam? Ich war
wohlthätig, wo ich es irgend fein konnte, nachgiebig und dienſt⸗
gefällig auf jede Art. Warum find eben die am meiſten wider
mich, denen ich am meiſten diente? Warum wird einer geringen
Urſache willen ſogleich Alles vergeſſen, was ich Gutes ſtiftete und
Rechtſchaffenes leiſtete, und dagegen Alles hervorgeſucht, um
mich vor Andern und vor mir felbft zu erniedrigen?
Nicht daß ich für das, was ich zum Vortheil meiner Neben-
menſchen that, Lob und Ruhm begehrte; nicht daß ich für meine
Aufopferungen eigentlich von den Menſchen eine Vergeltung ver—
langen möchte: ich erwarte von den Leuten weder Ruhm noch
Lob, noch Dank und Vergeltung. Ich weiß, wie ſchwer es dem
großen Haufen der Selbſtſüchtigen wird, ſich ſelber auf einen
Augenblick zu verläugnen, und menſchlich-edel zu empfinden.
Aber doch iſt es bitter, wenn man ſich am Ende gänzlich verkannt
ſieht. Ich glaubte wenigſtens auf Achtung, auf Schonung An⸗
ſpruch machen zu dürfen, und keinen gehäſſigen Nachreden, keinen
öffentlichen Verfolgungen ausgeſetzt ſein zu müſſen.
Welch eine traurige Vorſtellung geben mir meine ſchmerz⸗
lichen Erfahrungen von den Menſchen! — So wie ich, klagt auch
mancher Edle im Stillen. Denn wo iſt wohl irgend ein treuer
Freund, ein redlicher Diener des Vaterlandes, ein eifriger Men⸗
ſchenfreund, ein Wohlthäter der Seinigen, ein Beförderer ge-
meinnütziger Dinge, irgend einer, der mit Eifer einer guten Sache
beiſtand, welcher nicht zuletzt über Undank, Hohn und Mißhand⸗
lung ſeiner Ehre, ſeines Namens, ſeiner Perſon zu klagen gehabt
hätte! Sollte man nicht beinahe in Verſuchung kommen, allen
fernern nützlichen Vorſätzen zu entſagen, ſich auf ſich ſelbſt zurück—⸗
zuziehen, und die breite Straße des gemeinen Menſchenhaufens
mitzugehen; ſich um keinen als um ſich ſelbſt zu bekuͤmmern, und
gleichgültig bei anderer Leute Wohl und Wehe zu bleiben?
In der That iſt es ſchmerzhaft, mit ſeinem guten Willen ſo
allein dazuſtehen, und in ſeinen allerbeſten Abſichten verkannt
zu werden; es iſt kraͤnkend, Alles, mas man thut, übel ausge—
legt zu ſehen, und von der Bosheit elender Menſchen, von der
Unwiſſenheit des großen Haufens, von dem Eigennutz und Stolz
a
der Angeſehenen bei jedem Schritt gehindert zu werden, den man
zu einem wohlthätigen Ziele machen will. Es iſt ſchmerzhaft,
Augenzeuge zu ſein, wie der, welcher nichts Anderes thut, als
für ſich ſelber ſorgen, oder wie der, welcher lachen würde, wenn
man ihn aufforderte, zum Beſten Anderer ein beträchtliches Opfer
zu bringen, gar ruhig und unangefochten lebt; gewohnlich Lob
und Beifall für nichts einärntet, und Andern hoch anrechnet,
was ihn nichts koſtete. Es iſt ſchmerzhaft, zu ſehen, wie der
Niedertraͤchtige ſich emporſchmeichelt; wie er mit Glück fremdes
Verdienſt herabwürdigt, um ſeine Gemeinheit geltend zu machen;
wie er ſich ohne Ehrgefühl auf den verächtlichſten Wegen, mit
den ſchimpflichſten Mitteln Partei, Anhang, Freunde, Gönner-
ſchaft erwirbt. — Iſt dies der Weg, in der Welt etwas zu gelten
und zu leiſten?
Warum aber kränkſt du dich deswegen? Möchteft du wohl
in den Reihen derjenigen ſtehen, die ſich durch Niederträchtig⸗
keiten auszeichnen und erheben? Laß doch Andere ſchlecht ſein;
aber du ſei gut. Dein Loos iſt das Loos der meiſten rechtſchaffe⸗
nen Leute, die nicht mit der Welt, wie ſie nun einmal iſt, gemeine
Sache machen, ſondern ihren eigenen Weg gehen wollen. Dir
gibt dein Gewiſſen ein beſſeres Zeugniß, als die Menſchen geben
können. Selig, ſagt Jeſus, ſelig find, die um der Gerech—
tigkeit willen verfolgt werden, denn das Himmelreich
iſt ihrer; ſelig ſeid ihr, wenn euch die Menſchen um
meinetwillen verfolgen, und reden allerlei Uebels
wider euch, ſo ſie daran lügen. Seid fröhlich und ge—
troſt, es wird euch im Himmel wohl belohnt werden.
(Matth. 5, 10 — 12.)
Und ich muß es mir doch nicht verhehlen, war ich nicht viel⸗
leicht auch wohl ſelbſt hin und wieder Urſache, daß man mich
nicht ſo unbefangen und gerecht beurtheilte, als ich es wünſchte? —
Zeigte ſich vielleicht in meinen Worten und Handlungen zuweilen
nicht etwas Zweideutiges, welches Anlaß gab, daß ich verkannt
wurde? Wandte ich auch überall da, wo ich Gutes beabſichtigte,
die nöthige Klugheit und ſchonende Vorficht an, um Andere nicht
zu kränken, oder zu erbittern? War ich, wenn mir, was ich
— 178 — h
wollte, endlich gelungen war, nachher auch immer beſcheiden
genug und mit derjenigen Demuth auf mein Thun blickend,
welche endlich jeder guten That die Krone aufſetzt? Die Menſchen
ſind im Grunde gern geneigt, Jemanden Gerechtigkeit wider⸗
fahren zu laſſen, wenn man ihnen nur bei ihren Unternehmungen
ebenfalls Gerechtigkeit widerfahren läßt. Sie verzeihen es ziem-
lich gern, wenn man beſſer denkt und handelt, als ſie, nur muß
man dabei doch ihre ſehr reizbare Eigenliebe in Acht nehmen.
Sie anerkennen noch gern ein Verdienſt, welches man hat, fo=
bald man nur nicht dieſe Anerkennung von ihnen gewiſſermaßen
ertrotzen will. Prüfen wir unſer Betragen, ehe wir über das
unwürdige Betragen der Andern gegen uns Klage führen! —
Sehen wir zu, ob nicht erſt Fehler, die wir begingen, Andere
reizten, Fehler gegen uns zu begehen. Im Triumph und Eifer,
den man leicht hat, wenn man irgend einen guten Zweck zu er⸗
reichen im Begriff iſt, kann man ſich leicht vergeſſen. Man ſpricht
von ſeiner Sache mit allzugroßer Wärme, wodurch man theils
weniger billig gegen Andere wird, theils ſeinem Geſchäfte einen
übertriebenen Werth beilegt, den Andere nicht wahrnehmen.
Ueberhaupt iſt auch wohl im Urtheil der Leute über un⸗
ſer Verdienſt weniger Bosheit, als Irrthum enthalten.
Es iſt ſehr wohl möglich, daß bei einigen die Bosheit vorwaltet;
daß ſie vom Neid, vom Stolz, vom beleidigten Ehrgeiz, vom
bedrohten Eigennutz, von der hämiſchen Schadenfreude zur Ver⸗
folgung unſerer Perſon aufgewiegelt ſind. Doch wird dies ge—
wiß nur der Fall bei einigen ſchlechtdenkenden leidenſchaftlichen
Leuten ſein. Die übrigen plaudern nur nach; ſie ſprechen aus
Leichtſinn mit, ſie verkennen uns, weil ſie uns nicht kennen. Ent⸗
weder ſind ſie überhaupt nicht fähig, unſere Unternehmungen
und Abſichten zu verſtehen, oder wir hatten es vernachläffigt, fie
von der Güte unſers Thuns zu belehren; oder ſie wiſſen über—
haupt nicht, worin unſer Verdienſt beſteht, und ſind daher ſehr
gleichgültig gegen uns, und ziehen jeden Andern vor, der ihnen
bekannter iſt, oder dem fie für irgend eine kleine Gefälligkeit ver-
pflichteter ſind, als uns. Darum ſollen wir nicht einiger unedeln
Menſchen willen alle ſammt und ſonders verdammen; ſonſt ſind
— 19 —
wir gegen Viele eben jo ungerecht, als fie es gegen uns aus
Irrthum ſind; und wir verdienen dann ſelber die Vorwürfe,
welche wir ihnen jetzt machen. |
Wir müſſen uns doch hüten, zu glauben, daß alle Men⸗
ſchen das Gute, was wir befördert oder geſtiftet haben,
ſo hoch aufnehmen, wie wir ſelber; denn fie können
nicht wiſſen, wie groß oder gering unſer eigentlicher
Antheil daran iſt; ſie können nie wiſſen, wie viel oder wie
wenig es uns gekoſtet; ſie können nie wiſſen, ob wir es mehr oder
weniger in reinen, anſpruchloſen Abſichten thaten. Wir ſelbſt
würden ja dem Verdienſte Anderer weniger Werth beilegen, ſo—
bald wir wüßten, daß Alles nur aus Ruhmſucht, Großthuerei,
heimlichem Eigennutz, aus verſteckten Nebenabſichten geſchah,
oder auch nur, weil damit durchaus nichts weiter, als obliegende
Schuldigkeit und Pflicht erfüllt ward. Man iſt darum von der
Welt noch nicht verkannt, weil man von ihr noch nicht gekannt
genug iſt. Und wir müſſen deswegen, weil wir unſern Werth,
unſere Unſchuld, unſer Recht am beſten kennen, keineswegs ver-
langen, Andere ſollen davon eben ſo gut unterrichtet ſein.
Es iſt übrigens das Loos, von der Welt verkannt zu werden,
das Loos der meiſten guten und trefflichen Menſchen, welche ſich
durch ihren Eifer für das Löbliche ausgezeichnet haben. Wiſſen
wir denn nicht, daß die meiſten edeln Menſchen der Vorwelt ihrer
glänzendſten Tugend willen von den Zeitgenoſſen verfolgt wur-
den? Wiſſen wir nicht, daß die meiſten von den Wohlthätern der
Menſchheit, die heute wegen ihrer Verdienſte lange nach ihrem
Tode hoch geprieſen ſind, während ihres Lebens verfolgt wurden,
in Armuth ſeufzten, oft ſogar in Kerkern nahe oder mit
Schande überhäuft ſtarben? f
Wie Viele, die zur Zeit Jeſu Chriſti, unsers Erlöſers, lebten,
haben ihn, ſeine göttliche Denkart, feine Mühen um das Wohl
des menſchlichen Geſchlechts, ſeine Opfer, die er dem Heil der
Welt und der Nachwelt brachte, gebührend anerkannt und geehrt?
Sehr wenige. Sein Herz war ſo unſchuldig, ſein Wandel ſo an—
ſpruchlos und wunderbar, als all fein Thun wohlthätig. Den-
noch ward er allgemein verleumdet und verlaͤſtert; er hatte oft
*
— 180 —
nicht, wohin er ſein Haupt legen konnte; nur einzelne gute Men⸗
ſchen fühlten die ganze Größe ſeines Verdienſtes und ſchloſſen
ſich treu und feſt an ihn an. Seine Widerſacher aber gewannen
den großen, blind urtheilenden Volkshaufen für ſich. Ja, ſie
ſiegten über ihn. Er ward gefänglich eingezogen, gemißhandelt
wie der größte Verbrecher, und zum Richtplatz von den Henkers⸗
knechten hinausgeführt. Er ſtarb den Tod des Sünders, der
einzige Gerechte! j | vH
Wie gering iſt mein größtes Verdienſt, welches ich wirklich
habe, oder noch erwerben kann, neben dem Verdienſt und den
Tugenden Jeſu Chriſti! Und warum will ich den Schmerz, ver⸗
kannt zu werden, minder gelaſſen ertragen, als er? Wer den
Muth hat, von der gewöhnlichen Bahn des gemeinen Haufens
abzuweichen, muß auch den Muth haben, ihm Trotz zu bieten.
Wer die Tugend will, muß auch ihretwillen Leiden übernehmen
können. Kann ich mich denn jemals ſchmeichelhafter belohnt
fühlen, als wenn ich das Schickſal erfahre, welches die Edelſten
der Menſchen erfuhren? Kann ich eine ſchönere Stelle in der
Welt einnehmen, als wenn ich in ihrer dornengekrönten Gemein⸗
ſchaft ſtehe? Was kann mich mehr erheben, als der Gedanke, daß
ich, ein Nachfolger meines göttlichen Vorbildes, gleich wie er,
einer gerechten Sache willen leide, und nicht nur in meinen Ge⸗
ſinnungen, ſondern auch in meinen Schickſalen einige Aehnlich⸗
keit mit ihm habe? — O wahrlich, in der Reihe ſolcher Edeln
zu ſtehen, iſt mehr, als die Welt mit allem ihrem Beifall geben
kann. Ein ſolches Bekanntwerden, ein ſolches Verfolgtſein iſt
der eigentliche Triumph der Tugend. Ich moͤchte ihn nicht gegen
alle Ehrenbezeugungen der Leute vertauſchen.
Zudem iſt jedes Drangſal, welches man der guten
Sache willen leiden muß, die man ergriffen hat, für
große Seelen erſt der wahre Sporn, immer muthiger
und feſter in der Tugend zu werden. Kampf gilt es
gegen Kampf. Ich habe ein gutes Zeugniß in mir und vor
Gott, was bedarf ich des Zeugniſſes von Menſchen, die, von
ihren Leidenſchaften hin und her getrieben, heute eben ſo gern
das „Kreuzige! Kreuzige!“ ſchreien, wie ſie geſtern das „Ho—
— —⁴—
ſiannah!“ riefen? — Ich weiß vielmehr, oder beſorge doch,
daß, wenn man mich, wegen meiner geringen Verdienſte, mit
Schmeicheleien umringte, mein Eifer leicht nachlaſſen könnte.
Ich würde leicht glauben können, ſchon genug gethan zu haben.
Ich würde Gefahr laufen, weniger uneigennützig und großſinnig
zu denken und zu handeln, als gegenwärtig, da ich Verdruß und
Undank ärnte. Der Weihrauch, welchen man unſerer Tugend
ſtreut, iſt meiſtens für ſie verderblicher, als der giftige Schlangen⸗
biß der Verleumder und Spötter. Als man die allererſten Be-
kenner Jeſu mit Noth und Tod verfolgte, wurden ſie erſt be—
geiſterter, ihn öffentlich zu bekennen. Je mehr Scheiterhaufen
für ſie angezündet, je mehr Kerker für ſie gebaut wurden, je
zahlreicher ward aller Orten und Enden die Jüngerſchaft Jeſu.
Allein ſobald die Verfolgungen der chriſtlichen Religion abnah⸗
men, ſobald die Kirche von den Königen mit Gold und Silber
geſchmückt, und die Prieſterſchaft mit Reichthümern und Würden
beſchenkt ward, verloſch der reine, heilige Eifer, und die göttliche
Sache ward über die Spielerei des Ehrgeizes und der Habſucht
vergeſſen.
Ich will keineswegs glauben, daß ich beſſer ſei, als die
meiſten Menſchen find, denen es leichter iſt, in Noth und Trüb-
ſal ſtandhaft zu bleiben, als im Glück und unter rauſchendem
Beifall ihrer Handlungen. Man tadle mich, man verleumde mich,
man verfolge mich: dies Alles kann mich nur ehren und den
Werth meines Thuns erhöhen. Je mehr Sturm von außen, je
mehr Stille und Frieden im Herzen.
Schon daß ich verkannt und verfolgt werde, während ich doch
Niemanden beleidigt habe, iſt ehrenvoll für mich; ſchon daß
man ſich Mühe gibt, auch den allergeringſten Fehler an mir auf⸗
zuſpüren, um einen Vorwand zu haben, meinen guten Namen
zu beflecken, und mich in der Meinung Anderer zu erniedrigen,
iſt mir ein ſehr beruhigender Beweis, daß ich ſo ganz ſchlecht und
verdorben nicht ſein müſſe. Denn fänden ſie tadelnswerthere
Dinge an mir, ſie würden gewiß nicht anſtehen, darüber lautes
Geſchrei zu erheben. Man arbeitet mir entgegen. Das Gute,
was ich zu thun ſuche, wird verachtet. Man legt mir falſche Ab⸗
— 182 —
ſichten bei. Man zählt an meinem, aus redlichem Gemüth be⸗
gonnenen Unternehmen, welches doch nicht zu meinem, ſondern
zu Anderer Beſten iſt, allerlei Mängel auf, wirkliche und ein⸗
gebildete; man erſchöpft ſeinen Witz, bald um zu beweiſen, mein
Thun ſei verderblich und gefährlich; bald, es ſei übel berechnet;
bald, es ſei leeres Geklingel. Man ſucht mich bei Unbefangenen
und wenig Unterrichteten bald verhaßt, bald recht lächerlich zu
machen. Meine Widerſacher hoffen mich zu erſchrecken, zu beugen
und von dem abtrünnig zu machen, was ich für wahr, recht, gut
und nützlich halte. — Aber ſie irren. Sie bewirken von Allem,
was ſie bezielen, das Gegentheil. Sie belehren mich von der
Güte meiner Sache, und machen mich auf die kleinſten Mängel
zu ihrer Verbeſſerung aufmerkſam. Ein kleiner Fehler fällt an
dem, was gut iſt, mehr auf, als zehn Fehler an einer ſchlechten
Sache. Je reiner und heller ein Gewand, je ſichtbarer wird
darin der geringſte Flecken.
Iſt mein Thun gut und gerecht: fürwahr, ſo wird
es durch boshafte Urtheile nicht böſe und ungerecht
werden. Der verfolgeriſche Eifer der Widerſacher macht nur
die Welt aufmerkſamer, und zieht mir auch unparteiifche Richter
herbei, die bald oder ſpat mir Gerechtigkeit widerfahren laſſen
werden. Das iſt gewiß: das Tugendliche und Wahre und Wohl-
thätige einer Sache, die um ihrer innern Vortrefflichkeit willen
unternommen und ausgeführt wird, kann niemals untergehen,
und wenn ſich die ganze Welt dawider verſchwören wollte. Denn
das Gute iſt ewig, und findet ſeinen Boden und ſeine Stunde;
das Göttliche iſt Gottes Sache. Hingegen preiſet, was an ſich
ſchlecht und verderblich iſt, ſo hoch als ihr wollet; helfet ihm mit
aller Mühe empor; laſſet Könige und Fürſten dafür Gold und
Blut ihrer Unterthanen verſtrömen: das Schlechte wird in ſich
ſelber unhaltbar fein, und trotz eures Rühmens und Prahlens
unerrettbar untergehen und vergeſſen werden. Nichts bleibt, als
das Gute, Wahre und Gerechte; denn es iſt etwas Göttliches.
Das Schlechte darum und daran iſt Menſchenwerk, Folge eines
Irrthums oder einer Leidenſchaft, und verdient nicht zu leben.
Warum ſollte ich mich alſo grämen, daß ich und mein Thun
8
von Menſchen verkannt werden? Es wird beſtehen, wenn es zu
beſtehen verdient. Ich werde gerechtfertigt werden in meiner Un⸗
ſchuld, wenn ich der Rechtfertigung werth bin. Sollte ich mich
irre machen laſſen durch Pöbelgeſchrei? Sollte ich meiner guten
Sache treulos werden, um den Anhängern der ſchlechten Sache
zu gefallen? Nimmermehr! Wie möchte ich ſo feige ſein, und
mir ſelber Schmach anthun? Nein, ich will meine guten Zwecke
nicht fahren laſſen, noch das Zeugniß meines Gewiſſens. Ich
will zu meinen Widerſachern ſprechen, wie mein Heiland zu den
ihn verfolgenden Juden ſprach, die ihn zu tödten ſuchten, weil
er an einem Sabbath einen Kranken heilte. „Ich nehme nicht
Ehre an von Menſchen!“ ſprach er: „aber ich kenne euch, daß
ihr nicht Gottes Liebe in euch habt. Und die Ehre, die von Gott
allein iſt, die ſuchet ihr nicht.“ (Joh. 5, 40. 41. 44.)
Muth denn, alle ihr Leidenden, ihr Verfolgten, ihr Ver⸗
kannten, die ihr ſeufzet um einer heiligen und gerechten Sache
willen! Muth denn, und unverzagt ans Werk; Gott iſt mit euch!
Was kann euch aller Widerſpruch ſchaden? „Gedenket,“ ſagt
die heilige Schrift, „gedenket an den, der ein ſolches
Widerſprechen an uns armen Sündern wider ſich er—
duldet hat, daß ihr nicht in eurem Muth matt werdet
und ablaſſet. Denn ihr habt noch nicht bis aufs Blut
widerſtanden über dem Kämpfen wider die Sünde!
(Hebr. 12, 3. 4.) Es iſt möglich, daß ihr auf Erden wenig
Freude erleben werdet, und noch im Tode verkannt bleibet.
Fordert ihr aber Ruhm von der Welt? So ihr dieſen begehret,
habt ihr falſche Wege erwählt, weil ihr Spott und Haß ärntet.
Begehret ihr keinen Ruhm von den Menſchen; gilt euch euer Be⸗
wußtſein und der Beifall Gottes mehr: warum ſchmerzt es euch,
von der Welt verleumdet und verkannt zu ſein? — Eben euer
Leiden um der gerechten Sache willen gibt euch jenes ſeelener⸗
hebende Gefühl, von welchem der große Haufe derer keine Ahnung
hat, die euch verdammen. Eben euer bitteres Loos hienieden,
neben aller eurer Unſchuld und Gerechtigkeit, deutet auf eine
höhere Anerkennung eures Werthes hin. Nicht auf Erden voll-
enden Geiſter ihre Laufbahn; auch rief Gott ſie nicht nur dieſes
— 184 —
flüchtigen Hierſeins wegen in ſeine Welt. Edle Seelen! unſer
Weg iſt lang, denn er geht durch die Ewigkeit, unſere Straße iſt
herrlich, denn fie führt über die Trümmer des Vergänglichen zum
Schauen Gottes.
Selig ſind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werben
denn das Himmelreich iſt ihnen. Seid fröhlich und getroſt, es
wird euch im Himmel wohl belohnt werden!
Wohl gibt es ſchwere Stunden, da meine Entſchloſſenheit
wankt, wenn Alles wider mich aufſteht; wohl kann ich meinen
Thränen nicht wehren, meinen Unmuth nicht dämpfen, wenn ich
mit Liebloſigkeit und Undank ſelbſt von denen behandelt werde,
welchen ich ſo oft und am liebevollſten half. Oft könnte ich faſt
an mir irre werden, und an meinem eigenen gänzlichen Werth
verzweifeln, wenn ich von allen Seiten Widerſpruch und Kränkung
erfahre. Doch mein Muth ſoll nicht brechen. Ich will ſtandhaft
beharren bis ans Ende, und meinen Lauf vollenden. Und ver⸗
kennt mich die Welt, Du, o Gott, o Herzenskundiger, kennſt
mich, und weißt es, ob ich falſch bin! Du biſt der Vertraute
meiner Empfindungen, meiner Gelübde, meiner redlichen Ab⸗
ſichten, und wie ich, ohne nach eigenen Vortheilen zu jagen, doch
hauptſaͤchlich nur das Beſte meiner Mitmenſchen bewirken möchte.
21.
Die Gefahren, Andere zu verkennen.
Jak. 4, 11. 12.
Nur der Richter aller Welten
Richtet mit Gerechtigkeit:
Jedem wird er einſt vergelten,
Wie er lebt in dieſer Zeit.
Ueberlaß ihm das Gericht:
Richte du den Nächſten nicht.
Wie empfindlich der Schmerz ſei, von Andern verkannt zu wer⸗
den, und ſich bei den beſten Abſichten hamiſch beurtheilt zu ſehen,
davon hat wohl Jeder ſchon die Erfahrung gemacht. Wenn nun
— 15 —
ziemlich allgemein bekannt ift, wie wenig dazu gehört, bei aller
Unſchuld dennoch von den Leuten übel angeſehen und ſchlechter
Grundſätze oder unedler Abſichten verdächtigt zu werden: jo muß
man um ſo mehr erſtaunen, daß ſich ſo wenige Menſchen hüten,
in den gleichen Fehler zu verfallen. Ja, man erlebt ſogar, daß
ſelbſt die, welche das Loos hatten, eine lange Zeit verkannt zu
werden, keinen Anſtand nehmen, ihrerſeits auch andere Perſonen
vorſchnell und dreiſt zu beurtheilen und zu verdammen.
Freilich, Jeder, der über einen Andern und deſſen That und
Leben ſeine Meinung ſagt, bildet ſich ein, etwas Richtiges zu
ſagen. Es muß ein grundboshaftes Gemüth ſein, welches recht
mit Vorſatz eine tückiſche Lüge verbreiten wollte. Man glaubt,
indem man über das Betragen und die Unternehmungen einer
Perſon ein etwas ſcharfes oder mißbilligendes Urtheil fällt, ſeiner
Sache gewiß zu ſein, und vielleicht wohl gar Gutes zu ſtiften
und zu warnen. |
Aber wie leicht ift da der Irrthum auf unſerer Seite! Wie
ſchnell können wir in Gefahr kommen, den Nebenmenſchen zu
verkennen! Es iſt der frechſte, abſprechendſte Eigendünkel, wenn
man ſagen kann: ich irre mich hier gewiß nicht! — O wie leicht
irrt man in Beurtheilung des menſchlichen Herzens!
Denn wenn wir Werth und Unwerth einer uns weniger be—
kannten Perſon ermeſſen wollen: welchen Maßſtab nehmen wir
dazu? — Zur Beurtheilung fremder Einſichten doch nur den
Maßſtab unſerer eigenen Einſichten; zur Beurtheilung fremder
Denkart doch nur den Maßſtab unſerer eigenen Denkart! Woher
wollten wir einen andern Maßſtab nehmen?
Nun aber iſt unſere Einſicht ganz gewiß in vielen Dingen
beſchränkter, als die Einſicht Anderer. Und mögen wir noch fo
viel vortreffliche Geiſtesgaben oder Kenntniſſe beſitzen, wir ſind
nicht im Beſitz aller. Schon unſere Herkunft, unſere frühere Er-
ziehung, unſere ſpaͤtern Erfahrungen haben uns eine gewiſſe Ein⸗
ſeitigkeit gegeben. Andere ſtehen auf andern Standpunkten;
Andere haben in manchen Dingen höhere und genauere Anſichten
der Welt. Wir find keineswegs die Alleinwiſſenden, die All-
weiſen. Wenn Jemand ganz abweichend von der herrſchenden
ni
Meinung urtheilt, wenn Jemand zu irgend einem guten Zwecke
ganz andere Wege einſchlägt, als die bisher gewöhnlichen, müſſen
wir darum nicht glauben, er ſei ein Thor, ein Schwärmer, ein
Geck, ein Böſewicht. Er kann vielleicht die Wahrheit erfaßt haben,
‚während wir Andern Alle mit unſerer vermeinten Einſicht im
Irrthum ſind. Immer waren die, welche dem menſchlichen Geiſte
eine neue Bahn eröffneten, im Widerſpruch mit dem großen Hau⸗
fen. Es hat kaum einen einzigen berühmten Weiſen des Alter-
thums gegeben, der nicht von der größten Menge ſeiner Zeitgenoſſen
als ein Thor oder Verbrecher behandelt worden wäre. Mußte
nicht ſelbſt Jeſus Chriſtus, mußten nicht alle ſeine Jünger Ver⸗
folgungen dulden, weil ihre Lehre nicht die gemeine Lehre der
Welt war?
Eben ſo gefährlich iſt es auch, wenn wir unſere eigene Denk⸗
art zur Denkart Anderer machen, und daraus auf die Beweg—
gründe ihrer Handlungsweiſe ſchließen wollen. Glaube mir, mein
Freund, es gibt in der Welt nur einen einzigen Menſchen, der
in Allem ganz ſo iſt, wie du; und dieſer Einzige biſt du. Alle
Andern find anders. Bilde dir daher nicht ein, daß den Hand-
lungen Anderer dieſelben Triebfedern vorausgehen, wie den dei—
nigen. Daher, wenn wir auch hundert Perſonen im Verdammen
einer andern einig ſehen, ſtimmen wir doch nicht in ihren geheim—
ſten Meinungen über die Urſachen zuſammen. Wer das Geld
liebt, wird ſagen: es iſt ihm um Geld zu thun! Wer gern herr—
ſchen mag, wird ſagen: er will ſich obenan bringen! Wer eitel
iſt, wird ſagen: er will nur Aufſehen e — Und ſo jeder
anders.
Wir alle wiſſen ſehr gut, daß es Andern ſchwer ſein müſſe,
unſere eigene Perſon richtig zu beurtheilen, weil ſie ſelten die
tiefſten Beweggründe unſers öffentlichen Betragens zu errathen
im Stande ſind. Warum maßen wir uns denn ein abſprechendes
Urtheil über Andere an? Wir werden doch auch dieſe nur nach
dem äußern Schein beurtheilen können, und wie leicht führt der
bloße Anſchein zu Mißverſtändniſſen und ungegründeten VBerbäch-
tigungen! Wie viel Unglück iſt daraus ſchon für ganze Familien,
oft für ganze Lander entſtanden!
— 187 —
Sogar die erſten nachtheiligen Wirkungen einer Unterneh—
mung oder Handlungsart von andern Perſonen geben uns nicht
immer das Recht, den Werth ihrer Sache oder ihrer Gemüthsart
für ſchlecht zu erklären. Iſt uns denn nicht ſelbſt ſchon Vieles
mißlungen, und hat nicht Manches, das von uns in beſter Ab⸗
ſicht gethan ward, auch wirklich ſcheinbar üble Folgen nach ſich
gezogen? — Iſt denn darum die Religion Jeſu Chriſti, oder die
Abſicht ihres göttlichen Urhebers verwerflich geweſen, weil die
Religion fo viel Streit, Krieg und Blutvergießen unter den Men—
ſchen veranlaßte? Jeſus ſelbſt ſah dieſe Wirkungen vorher, und
ſagte ſie voraus. Aber deswegen ſtand er nicht von ſeinem
Werke ab.
Und geſtehen wir es uns doch nur ſelber: oft find unſere un
günſtigen Meinungen über das Thun und Laſſen Anderer die
Früchte höchſt kleinlicher Urſachen. Geſtehen wir es uns doch,
daß gewöhnlich unſere Eigenliebe und Selbſtgefälligkeit dabei das
große Wort mitſpricht, daß wir uns dabei gern als die Klügern,
Verſtändigern, Bedächtigern und als die Edeldenkendern ſehen
laſſen möchten! — Geſtehen wir es doch, daß zuweilen bloß das
Aeußerliche einer Perſon, welche uns nicht gefällt, oder die Art,
wie ſie ſich vielleicht bei irgend einer Angelegenheit gegen uns
zeigte, einen mächtigen Einfluß auf unſere unvortheilhafte Mei-
nung von ihren Verrichtungen hat. Geſtehen wir es, daß wir
zuweilen bloß deswegen wider Jemanden geſtimmt ſind, weil ſein
Thun und Laſſen unſerm eigenen Intereſſe zuwider ſein kann.
Ja, oft ſind wir ſo ſchwach, daß wir Jemanden ohne anders
mitverdammen helfen, bloß weil wir unbeſonnen und treuherzig
alles Schlechte nachſchwatzen, was wir vom Hörenſagen wiſſen.
Wir würden vielleicht unſere Meinung auffallend verändern, wenn
wir den Jemand genauer kennen lernten und die wahren Beweg—
gründe ſeines Verfahrens.
Es gehört ein ungewöhnlicher Grad von Unbefangenheit,
Selbſtverläugnung und Leidenſchaftsloſigkeit dazu, und mehr noch,
es gehört eine unglaublich tiefe Menſchenkenntniß dazu, um eines
Menſchen und ſeines Thuns und Treibens wahren Werth richtig
beurtheilen zu können. Und alſo auch der unbefangenſte, auch
— 188 —
der erfahrenſte Menſchenkenner kann ſich in hundert Fällen neun⸗
undneunzigmal täuſchen, und die Perſon, welche er, oder deren
Handlungen er als tadelnswürdig verdammt, gänzlich verkennen.
„Darum ſeid vorſichtig! Afterredet nicht unter einander, lieben
Brüder,“ ſagt der lebensweiſe Jeſusjünger Jakobus; „wer ſei⸗
nem Bruder afterredet und urtheilet ſeinen Bruder, der afterredet
dem Geſetz und urtheilet das Geſetz. Urtheileſt du aber das Geſetz,
ſo biſt du nicht ein Thäter des Geſetzes, ſondern ein Richter. Es
iſt ein einiger Geſetzgeber, der kann ſeligmachen und
verdammen. Wer biſt du, der du einen Andern urthei—
leſt? (Jak. 4, 11. 12.) b |
Nicht nur müſſen wir als verſtändige Menſchen uns hüten,
durch vorſchnellen oder nachplaudernden Tadel uns ſelber in Irr⸗
thum zu ſtürzen; ſondern auch als billige, wohldenkende
Menſchen, als Chriſten uns vor der leicht möglichen Gefahr in
Acht nehmen, Andere zu verkennen, und dadurch in Verdruß und
Verderben zu bringen. Denn es iſt wahrhaftes Verbrechen gegen
Gottes- und Menſchenliebe, einen Unſchuldigen zu kränken; einen
Rechtſchaffenen in Verdacht der Schlechtigkeit zu bringen; aus
bloßem Vorurtheil gegen nützliche Unternehmungen zu arbeiten
und ſie zu hintertreiben; durch eine falſche und voreilige Meinung
ganzen Familien, vielleicht ganzen Gemeinden oder Völkern Scha-
den und Unheil zu bringen, und, ohne es zu wollen, vielleicht
aus bloßer Nachplauderei, für boshafte, undankbare Menſchen
ein Werkzeug gegen ſonſt achtungswerthe und verdienſtvolle Per-
ſonen zu werden.
So leicht es iſt, in die Gefahr zu kommen, Andere zu ver—
kennen, eben ſo leicht iſt es, in die Gefahr zu gerathen, alles
mögliche Uebel zu ſtiften und ſtiften zu helfen.
Wenn du einen wohlgeſinnten, rechtſchaffenen Mann ver-
kennſt, und dich, vom Schein bethört, verführen läſſeſt, ihn für
ſchlecht zu halten: kannſt du glauben, wenn er dies erfährt, daß
es ihn nicht tief und bitter kranken müſſe? daß es ihn nicht
ſchmerzen müſſe, wenn er auch nicht dergleichen thut? Welche
Freude könnte es dir denn machen, wenn du einem Unſchuldigen
durch deinen Verdacht, durch dein vorſchnelles Verdammungs-
1
urtheil eine ſchmerzliche Lebensſtunde bringſt? Biſt du nicht ein
Mörder an ſeinem Glück? Die Thräne des Unmuths, welche er
oder ſeine Familie weint, fällt ſie dir nicht zum Gericht? Und
ſiehſt du die Folgen alle voraus, welche deine Ungerechtigkeit her⸗
vorbringen kann? Iſt es etwas Unerhörtes, daß eine Perſon,
die das Unglück hatte, verkannt zu werden, dadurch das Opfer
ihres geheimen Grams geworden; daß dadurch ihre Geſundheit
allmälig untergraben, und die natürliche Friſt ihres Lebens ver-
kürzt wurde? Ach, wie mancher Unbeſonnene iſt durch ſeine Zunge,
durch fein: Klüger- und Beſſerſeinwollen, durch ſein voreiliges,
gehäſſiges Abſprechen ſchon Mörder an der Lebensruhe, an dem
Lebensglücke nachher unſchuldig befundener Perſonen geworden! —
Wenn das nicht deine Abſicht war, warum bedachteſt du dich
nicht früher? Kann dein Bereuen hintennach das Geſchehene un—
geſchehen, die gefloſſenen Thränen ungefloſſen machen? Leicht⸗
ſinniger, wenn dich vielleicht der Arm weltlicher Obrigkeit wegen
deines Vergehens nicht wohl züchtigen darf und kann, bildeſt du
dir ein, daß für eine gekränkte Unſchuld kein Richter mehr lebt,
und für deine verderbliche Zunge keine Strafe? 5
Ja, es iſt gefährlich, Andere zu verkennen, ſie dadurch men⸗
ſchenſcheu und menſchenfeindlich zu machen; ehemals gute, theil⸗
nehmende, liebevolle Menſchen argwöhniſch gegen ihr Geſchlecht
zu machen; ihnen die Luſt zu rauben, ferner wohlzuthun und ge⸗
meinnützig zu ſein. Es iſt gefährlich, durch Unbedachtſamkeit ſei⸗
nen Mitmenſchen den Glauben an die Menſchheit zu rauben! —
Und dies iſt eine ſehr gewöhnliche Wirkung des Verkennens.
Dadurch iſt ſchon manche zärtliche Freundſchaft gebrochen, manche
Liebe zerriſſen, der Eifer manches Edeln für Alles, was er gern
Nützliches geſtiftet haben würde, erkältet worden. Dadurch hat
man ſchon manchen wackern Menſchen in Unthätigkeit zurückge⸗
ſchreckt und manchen vortrefflichen Bürger feinem Vaterlande ge-
raubt, indem er verkannt und verdächtigt und unſchuldig zurück⸗
geſetzt ward. Denn wer möchte ſeine Liebe auch an Unwürdige
verſchwenden, die uns nur ſchlechte und niederträchtige Geſinnun⸗
gen zutrauen? Wen freut es, unter Menſchen zu leben, die alles
das nicht achten, was man um des Guten willen verrichtet, hin⸗
— 190 —
gegen, weil man in ihrem gemeinen Treiben nicht mittreibt, un⸗
erſchöpflich in gehäffigen Vermuthungen und beſchimpfenden Ver⸗
leumdungen ſind? Wen ermuthigt es, einen größern oder geringern
Theil ſeines Vermögens, ſeiner Kräfte, ſeines Lebens zum Wohl
Anderer aufzuopfern, wenn man dafür nicht nur die undank⸗
barſte Gleichgültigkeit, ſondern Spott, Gelaͤchter, üble Nachreden,
Verfolgungen jeder Art ärntet?
Wenn du alſo über Perſonen nachtheilige Urtheile fällſt, biſt
du ſicher, daß du ſie nicht verkennſt? Biſt du ſicher, daß
du nicht ganzen Familien, vielleicht dem Ruhm und Glück deines
Vaterlandes, den größten Schaden ſtifteſt? Wer biſt du, der du
einen Andern verurtheileſt?
Das Loos, verkannt zu werden, wird am gewöhnlichſten aus⸗
gezeichneten Perſonen zu Theil, die entweder durch vorzügliche
Talente, oder durch großes Vermögen, oder durch hohe Aemter
die Augen der Menge auf ſich ziehen. Ueber ſie maßt ſich nun
Jeder das Recht an, zu urtheilen, als wenn Jeder ſie auf das
vertrauteſte kennte. Weil man viel von ihnen ſpricht und reden
hört, glaubt man ſie ſchon hinlänglich zu kennen. So lange jene
Perſonen in dem Geleiſe der Gemeinheit bleiben; in dem, was
ſie thun, vom Glücke begleitet ſind; oder ihre Schritte nicht gegen
dies und jenes Intereſſe anſtoßen: läßt man ſie. Aber ſobald ſie
vom Gemeinen abweichen, erhebt ſich die Krittelei, und Jeder
läßt gegen ſie ſeine Weisheit blicken. Sind ihre Unternehmungen
nicht ſogleich vom Glück gekrönt, jauchzt der ſchadenfrohe Pöbel
feinen Spott. Pöbel heißt aber nicht die arme Volksklaſſe, ſon—
dern der reiche und arme, hohe und niedere, geiſtesbeſchränkte
Troß im Volk, der keines eigenen und edeln Urtheils fähig iſt.
Die Läfterzungen werden rege und reger, wenn der Verkannte
nicht ſogleich im Stande iſt, den Nutzen ſeiner Unternehmungen
ſonnenklar für jedes Auge darzuſtellen. Und hatte er die aller—
loͤblichſten Zwecke, der Pöbel wird ihm die niedrigſten Nebenab—
ſichten zuſchreiben; wird ihn, ſobald es erlaubt iſt, verfolgen und
freuzigen, weil er nicht iſt und thut, wie der gemeine Haufe iſt
und thut.
Kennſt du, mein Freund, keine Beiſpiele dazu aus den Er—
— 191 —
fahrungen deines eigenen Lebens? Haſt du dir nicht auch ſchon
in deinem Urtheil über ausgezeichnete Perſonen, ohne gründliche
Kenntniß der Sache und des Menſchen, abſprechende, verbäch-
tigende Urtheile erlaubt, und dich auf die Seite des Pöbels ge—
ſtellt? Haft du nicht auch ſchon deinen Witz angeſtrengt, den
Verſtand und das Herz ausgezeichneter Perſonen lächerlich und
veraͤchtlich oder gehäſſig zu machen? Haft du nicht auch ſchon,
ohne vorher gehörig geprüft zu haben, das Böſe und Feindliche
nachgeplaudert, was von dergleichen Perſonen geſagt wird? Haſt
du nicht auch ſchon geholfen, das Gute zu unterdrücken, das Nütz⸗
liche zu hintertreiben, beſonders weil es von Dieſem oder Jenem
herrührte, gegen welchen du im Herzen eingenommen wareſt? —
Siehe, ſo ſtandeſt auch du deiner unwürdig da, in der ekelhaften
Schlechtigkeit des Pöbels, der allezeit fähig iſt, die Unſchuld zu
verdammen, oder das Verdienſt zu läſtern, weil er ſelber nicht
unſchuldig iſt, oder nicht groß genug, das Edlere zu begreifen
und zu ehren. Schwacher Chriſt, der du dich deſſen ſchuldig
weißt: auf welcher Seite würdeſt du geſtanden ſein, wenn du in
den Tagen Jeſu Chriſti, deines Erlöſers, gelebt haͤtteſt? Würdeſt
du mit den wenigen Jüngern Jeſu geweſen ſein, und ihre Gefahr
mit ihnen getheilt haben; oder haͤtteſt du es mit dem Poͤbel der
Schriftgelehrten, Phariſäer und anderer Feinde des Herrn ge—
halten? N
Darum (denn Gefahren und Schaden ſind groß, Andere zu
verkennen) ſei behutſam im Ausſprechen deines Urtheils
über Andere; — nicht nur im Ausſprechen, fondern ſelbſt
im bloßen Denken eines nachtheiligen Urtheils! Entſcheide nicht
gleich, und argwöhne nicht ſogleich das Schändlichſte, bevor du
nicht Perſon und Sache auf das Vollkommenſte ergründet haſt.
Selbſt der Schein der Umſtände gibt dir noch kein Recht, Böfes
zu vermuthen; Erfahrungen ſollten dich ſchon belehrt haben, wie
oft man vom Schein hintergangen werden kann! Entſcheide nicht,
ſprich nicht ab, und nimm ſelbſt das allgemeine Geſchrei der Leute
gegen die Handels- und Denkweiſe dieſer oder jener Perſon nicht
für einen Beweis der Wahrheit. Denn es gibt viele Dinge, welche
die Faſſungskraft, Erfahrung und Einſicht des großen Haufens
— 192 —
weit überſteigen; auch maßt ſich der rechthaberiſche Eigendünkel
des gemeinen, voreilig richtenden Troſſes gern das Richteramt
an. — Oder wann haſt du jemals gehört, daß die gewöhnlichen
Menſchen lieber das Gute anerkennen und nach Verdienſt mit eben
dem Eifer preiſen, als ſie ſchnell fertig ſind, Böſes zu argwöhnen
und nachzureden und weiter zu bringen? Kannſt du dir einbilden,
daß die Leute das Gute, was an dir iſt, ſchon eben ſo allgemein
und emſig gerühmt haben, als ſie geſchäftig geweſen ſind, deine
Fehler oder Irrthümer, oder auch den bloßen Schein derſelben,
zu muſtern und durchzuziehen, zu beſpötteln, und wieder zu er⸗
zählen? 5 N
Wenn der große Haufe über ausgezeichnete Perſonen after⸗
redet; ihnen bei dem, was ſie Löbliches bewirken wollen, niedrige
Nebenabſichten zutraut; fie für Heuchler oder Ehrgeizige, Schwär—
mer oder Neuerungsſüchtige, Herrſchluſtige, Geldbegierige u. ſ. w.
hält: ſo wird man zehnmal für einmal am ſicherſten gehen, wenn
man von den Verläſterten ohne anders das Gegentheil glaubt.
Willſt du nicht Gefahr laufen, Jemanden leicht zu verkennen:
fo traue ihm bei ſeinen Unternehmungen immer lieber die ehr-
lichen Abſichten und beſſern Beweggründe, als die
ſchlechtern zu. Denn im Durchſchnitt haben die Menſchen bei
dem, was fie öffentlich thun, gewiß keine unedeln und böfen
Gründe. Ob aber ihre Anſichten und gewählten Mittel richtig
oder irrig ſeien, das kann nicht durch bloßes Vernünfteln und
Vermuthen, ſondern am ſicherſten durch den Erfolg entſchieden
werden. Schlechterdings und durchaus böſe iſt kein Menſch auf
Erden; warum ſoll ich ihm alſo keine gute Abſicht zutrauen? —
Bin ich denn nicht ſelber edler Zwecke und Wünſche bei meinen
Handlungen fähig; liegt darin nicht weit ſüßerer Genuß, als in
der Wahl niedriger und unreiner Abſichten? Welch ein Recht
könnte ich alſo haben, von Andern nicht das zu glauben, deſſen
ſie am natürlichſten fähig ſind?
Wo du löbliche Zwecke bei Unternehmungen wahrnimmſt,
da eile, ſie mit der des Chriſten würdigen Liebe des Guten zu be—
fördern, und laure nicht auf verſteckte, verächtliche Nebenabſichten
— 193 —
deſſen, der das Unternehmen angehoben hat. In dieſen kannſt
du irren; in jener Liebe des Guten und Löblichen niemals.
Verdamme auch dann nicht, wenn der Schein gegen
die Güte einer Perſon oder ihres Thuns redet. Der
Schein würde vielleicht plötzlich verſchwinden, wenn du beſſer
unterrichtet wäreft; wenn du in den Berhältniffen desjenigen
ſtaͤndeſt, der zu ſolchem Betragen genöthigt iſt. Halte dein Urtheil
zurück, und ſtelle die Entſcheidung ruhig den kommenden Tagen
anheim, jo lange deine Verhaͤltniſſe, deine Rechte übrigens un⸗
gekränkt bleiben. Es iſt nur ein einziger Geſetzgeber über die
Herzen der Sterblichen, der kann ſelig machen und verdammen.
Wer biſt du, der du einen Andern verurtheileſt?
Herzenskundiger! Allwiſſender! Dir allein gehört das Gericht
über des Menſchen innern Werth oder Unwerth. Ich erſchrecke
vor meiner Leichtfertigkeit und Anmaßung! Nie entſchlüpfe meiner
Zunge wieder ein ſchnöͤdes Urtheil über den Nächſten. Ich will
nicht verdammen, den Du vielleicht liebſt. Ich will fortan ſcho⸗
nend in meinem Urtheil ſein; lieber tauſendmal irren, weil ich
von meinen Lebensgenoſſen zu gut denke, als das Unglück haben,
einen Einzigen zu verkennen, weil ich von Allen gleich das Uebelſte
denke. Erbarmer, ſei Du ſchonungsvoll gegen meine Schuld!
Amen. ö
III. 9
22.
Die Leidenſchaften.
Röm. 8, 6—9.
Der Sinn für's Böſe wohnt in mir!
Auch wenn ich ſchon, mein Gott, von Dir
Geheiligt bin, verſucht er mich
Zur Sündenluſt. Er ſtärket ſich
Durch Leidenſchaft und Sinnlichkeit,
Zu thun, was Dein Geſetz verbeut.
O wie ſo nah iſt unſer Fall,
Wenn wir, verſuchet überall,
Von außen durch das eigne Herz
Durch Liſt, Gewinn, und Furcht und Schmerz,
Nun kämpfen ſollen! O wie leicht
Verliert man alle Kraft, und weicht!
Wer kann mir beiſtehn? — Du allein
Sollſt meine Hülf' und Stärke ſein.
Laß meine Schwachheit immer mir
Vor Augen ſein, daß ich von Dir
Nie weiche, daß ich ſtandhaft ſei,
Dir bis zum letzten Seufzer treu.
Iſt der Menſch wirklich von Natur böfe und verderbt? —
Es gibt Viele, welche dieſe Frage bejahen, wenn ſie an die
beſtändige Neigung der Sterblichen zu allem Verbotenen, und
ſelbſt an das Widerſtreben der kleinſten Kinder gegen die Gebote
der guten Aeltern denken. Es gibt Viele, welche die Frage ver—
neinen, wenn ſie an die Unſchuld der Kinder denken, von denen
Jeſus doch ſelbſt ſagt, daß, wer nicht wird wie ſie, niemals ins
Himmelreich eingehen werde; oder wenn ſie an Gottes Heiligkeit
und Güte denken, mit welcher es nicht übereinſtimmt, daß ſie den
Menſchen zur Sünde erſchaffen habe und zum fortwährenden
Blende. i
Die Frage über das natürliche Verderben der Menſchen hat
vielerlei Streitigkeit und Sektirerei in der Chriſtenheit verurſacht;
jo wie die Menſchen überhaupt ſich von jeher am haufigſten über
das ſtritten, was am wenigſten zu ergründen war, oder woraus
am wenigſten Heil entſprang. Theils die Lehrgebäude heidniſcher
Weltweisheit im früheſten Alterthum, theils einzelne Stellen der
— 195 —
heiligen Schrift, welche von Bibelleſern und Bibelauslegern nicht
recht verſtanden werden konnten, weil fie nicht mit der Ordnung
und Bezeichnung gewiſſer Vorſtellungen damaliger Zeiten recht
bekannt waren, gaben zu jenen Unterſuchungen vorzüglichen
Anlaß. Allein die Erfahrung hat erwieſen, daß dieſe Spitzfindig⸗
keiten zuletzt wenig Heil brachten; daß die Menſchen durch das
Hin⸗ und Herwälzen ſolcher Streitfragen um nichts beſſer wur⸗
den, daß hingegen Chriſtum lieb haben, das heißt, das Halten
und Erfüllen ſeiner Gebote, beſſer ſei, denn alles Wiſſen.
Auch weiß ich ja, Jeſus, der göttliche Stifter unſers heiligen
Glaubens, hat niemals auf ſolche Dinge des Zweifelns und For—
ſchens einen hohen Werth geſetzt. Nur ſeine Apoſtel, und beſon—
ders der gelehrte Paulus, waren zuweilen genöthigt, umſtändlicher
über ſolche Streitfragen zu reden, und ſogar im Geiſte der heid—
niſchen und jüdiſchen Gelehrten und Schriftgelehrten zu ſprechen,
um von ihnen verſtanden zu werden, um fie auf die ihnen eigen-
thümliche Art zum Glauben an die Lehre Jeſu zu bewegen. Ich
bin Allen allerlei worden, ſchrieb daher der Apoſtel Paulus,
auf daß ich Viele gewänne, Viele zu Jeſu brächte!
Was ich an mir ſeit meinen Jugendtagen, und was ich au
andern Kindern beobachtet habe, iſt: daß kein Menſch, er gehöre
zu welcher Religion, zu welchem Lande, zu welchem Volke er
wolle, fo ganz verderbt ſei, daß er nicht feine Fahigkeiten und
Neigungen zum Guten hätte. Eben fo bezeugt es mir die alltäg-
liche Erfahrung: daß kein Menſch, ſelbſt in den Tagen der un-
ſchuldigen Kindheit, jo ganz gut ſei, daß er nicht auch Fähig⸗
keiten und Neigungen zum Böſen hätte.
Schon dieſe Erfahrung, welche Jedermann an ſich und An⸗
dern zu machen Gelegenheit hat, beweiſet: daß diejenigen eben ſo
ſehr irren, welche behaupten, der Menſch wäre von Natur gut,
als diejenigen irren, welche darzuthun vermeinen, der Menſch
wäre von Natur verderbt und böfe, und der ewigen Strafe würdig.
Behauptungen dieſer Art ſind jedesmal Beweiſe entweder eines
ſtolzen Eigenſinnes, welcher ſeine vorgefaßten Meinungen bis
aufs Aeußerſte vertheidigen möchte, oder einer ſehr dürftigen
Menſchenkenntniß und Erfahrung.
— 196 —
Ja, der Menſch, wie er von Gott erſchaffen ward, iſt eben
ſo fähig zum Böſen, als zum Guten. Ihm winkt die Sünde,
ihm winkt die Tugend. — Gott gab ihm des Willens Freiheit
und den innern Richter, das er prüfe und das Gute wähle. Ohne
Kraft zum Fehlen iſt auch keine Kraft zum Rechtthun; ohne An⸗
laß zur Tugend iſt auch kein Anlaß zur Sünde. Der Dieb im
Kerker, ohne Gelegenheit und Möglichkeit, feine Lieblingsſünde
zu üben, iſt darum nicht heilig, weil er nicht mehr ſtiehlt.
Dies lehrt ſchon in der Urgeſchichte des menſchlichen Ge⸗
ſchlechts die Erzählung vom Schickſale der erſten Sterblichen.
Gott hatte fie rein und ſündenlos erſchaffen, aber mit Fähigkeiten
zum Guten und Böſen. Gott ſelbſt gab zur Erweckung Beider
Auläſſe. Ohne irgend ein Verbot im Paradieſe war keine Ueber⸗
tretung des Verbotes gedenkbar. Die Unterſagung vom Genuſſe
der Frucht am Baume der Erkenntniß prüfte den Willen der
Neuerſchaffenen. Hier entwickelte ſich der Reiz ſinnlicher Gelüſte,
und dort ſtand der ernſte göttliche Befehl, jedes Gelüſt zum Ver⸗
botenen zu bekämpfen. Aber überwältigt von der Lockung zum
Böſen, fiel der Menſch: und ſo kam die Sünde und mit ihr das
aus derſelben hervorgehende Verderben in die Welt.
Die Fähigkeiten zur Tugend, wie zum Laſter, entſpringen
aber aus der doppelten Natur, welche Gott dem Menſchen gab,
der fleiſchlichen und der geiſtigen. Hätten wir keinen irdiſchen
Körper für unſere Seele zur Wohnung erhalten: ſo würde unſer
Geiſt gleichſam nur Engel fein, unfähig zur Sünde, aber auch
unfaͤhig zur Tugend. Denn Tugend entſteht erſt durch den Kampf
und Sieg über das Böſe. Hätten wir keine vernünftige Seele
empfangen, ſo waͤren wir nur Thiere des Feldes, ohne Fähigkeit
höherer Tugend, aber auch ohne Fahigkeit zur Sünde. Denn
Sünde entſteht erſt durch das Widerſtreben gegen Gewiſſen und
Ueberzeugung des Beſſern.
Was an uns fleiſchlich iſt, oder irdiſch, das zieht uns unauf⸗
hörlich zum Genuß der irdiſchen Luſt, die nur durch den Leib
empfunden wird. Was an uns Geift iſt, das ſtrebt zum Heiligen
und Göttlichen hinauf, und ſehnt ſich nach dem Ewigen, weil es
ihm verwandt iſt.
Darum ſagt Paulus: Fleiſchlich gefinnt fein, iſt der Tod;
und geiſtlich geſinnt ſein, iſt Leben und Friede. Denn fleiſchlich
geſinnt ſein, iſt eine Feindſchaft wider Gott, ſintemal es dem
Geſetz Gottes nicht unterthan iſt; denn es vermag es auch nicht.
Die aber fleiſchlich ſind (das heißt, die in ihrer Denkart und
Lebensbeſchaͤftigung ſich mehr dem Thiere nähern, als dem Engel),
die mögen Gott nicht gefallen. (Röm. 8, 6 — 8.)
Die Quelle aller guten Neigungen iſt alſo in unſerm Geiſte;
die Quelle aller böfen Neigungen iſt in unſerm Fleiſch, das iſt,
in unſerer Sinnlichkeit.
Die Sinnlichkeit aber, als das wahrhafte Thieriſche an und in
uns, ſoll dem Geiſte unterthan ſein; ſo wie der Himmel die Erde,
und wie der Gedanke den Leib und ſeine Bewegungen regiert.
Iſt aber der Geiſt ein Unterthan des Leibes und der Begierden
thieriſcher Art, je hat er feinen göttlichen Urſprung verläugnet,
fo hat er den erhabenern Beſtimmungen iu einer unſterblichen
Fortdauer entſagt: er iſt Sünder.
Was iſt Sinnlichkeit? Es iſt die Neigung zu Allem, was
uns angenehme Empfindungen durch die Sinne erzeugt. Das
Wohlgefallen an äußern Ehrenbezeugungen, an Reichthum und
Lebensbequemlichkeiten, an Geſchlechtsluſt und Wohlleben, an
Speiſen und Getränken, welche den Gaumen kitzeln, an Thätig-
keit und Ruhe, an Glanz und Schönheit, iſt Wirkung äußerer
Eindrücke auf meine Sinne, iſt folglich Sinnlichkeit.
Was aber ſinnlich iſt, das iſt darum nicht zugleich ſünd⸗
lich, wie es oft aus Unwiſſenheit gedeutet werden mag. Denn
der göttliche Vater verlieh mir die Sinne, daß ich durch dieſelben
die Aumuth feiner Schöpfung empfinden, und durch weiſen Ge-
nuß feiner irdiſchen Gaben meine Glückſeligkeit auf Erden vor-
mehren ſoll. Sündlich wird ein ſolcher Genuß erſt, wenn ich
darüber Höhere Pflichten vernachläſſige.
Der tugendhafte Weiſe achtet keine Art des ſinnlichen Ver⸗
gnügens unter feiner Würde; denn er weiß, daß daſſelbe aller-
dings ſehr gut vereinbar iſt mit den Forderungen des heiligſten
Weſens an unſer Herz, und vereinbar mit der gegenwärtigen und
zukünftigen Beſtimmung der Sterblichen. Aber er weiß auch
— 198 —
immer die ſinnlichen Neigungen zu befchränfen zur Mäßigkeit;
weiß ſelbſt durch die Kraft ſeines Geiſtes die ſinnlichen Genüſſe
und Empfindungen zu verfeinern, zu veredeln, daß er ſich in den⸗
ſelben weit vom Thier entfernt. Selbſt der erhabenſte der Weiſen,
Jeſus, verſchmähte keineswegs den Werth ſinnlichen Vergnü⸗
gens. Er nahm Theil an den Freuden der Sterblichen, und ſeine
Jünger riefen, wie er, ihren Freunden zu: Freuet euch mit den
Fröhlichen!
Sobald aber die aus der Sinnlichkeit hervorgehenden Be⸗
gierden und Wünſche mächtiger werden, als unſere Kraft zum
Guten; ſobald ſie die Gewalt des Geiſtes in uns beſchränken, daß
er ihr Sklave wird: eben ſo bald iſt in uns das rechte, zur Glück⸗
ſeligkeit erforderliche Verhaͤltniß aufgehoben; das Weſen des Men⸗
ſchen wird dadurch zerſtört; ſein Höchſtes wird in ihm zum Nie⸗
drigſten, und das Niedrigſte, das Vergängliche wird fein höchſtes
Gut. So verkehrt er die heilige Ordnung der Natur, aber er
verletzt ſie nie ungeſtraft. Er iſt Sünder.
Auch der Tugendhafte hat keine Urſache, den Genuß wohl⸗
ſchmeckender Speiſen oder die erheiternde Kraft des Weins zu
verſchmähen. Nicht darin beſteht der Wille Gottes und die Hei—
ligkeit des Menſchen, daß dieſer den Freuden des Lebens, die
der himmliſche Vater verlieh, abſchwöre: ſondern daß er Theil
an denſelben nehme, zur Vermehrung einer Glückſeligkeit, zu
welcher ihn der gütige Schöpfer berufen hat; hingegen immerdar
mit Mäßiggung genieße, daß ſein Körper durch jeglichen Genuß
nur zum Beſten des Geiſtes geftärft, und der Geiſt in feiner Frei—
heit und Herrſchaft über ſinnliche Triebe nie beſchränkt werde.
Wenn aber jenes Vergnügen am Reiz lieblicher Speiſen und
Octcänke zur heftigen, anhaltenden, alle beſſere Empfindung unter-
drückenden Begierde ausartet; wenn der Hang zur Schlemmerei
und Böllerei die Gebote der Maͤßigkeit, ver Sparſamkeit verſpot⸗
tet, und ſo herrſchend wird, daß auch die heiligſten Pflichten für
Geſundheit, Berufsgeſchaͤfte, Sorge um die Seinigen, Sorge
um die Nothleidenden darüber zu Grunde gehen, dann iſt die
Sinnlichkeit Meiſterin; Pflicht, Gewiſſen, Vernunft und Tu-
gend leiden. (Gal. 5, 16. 17.)
— 19 —
Leidenſchaft wird daher jede ſinnliche Begierde genannt,
durch deren ungeſtüme Herrſchaft alle beſſern Ueberzeugungen
vernichtet und kraftlos werden. Sie iſt eine Unterjocherin der
Vernunft, eine Zerſtörerin des göttlichen Heiligthums in unſerer
Bruſt; die Quelle aller Verbrechen, die je auf Erden verübt
wurden. Sie beraubt den Menſchen ſeiner Beſonnenheit, ſeiner
edlern Kräfte, und erwürgt mit ſeiner Tugend oft das Leben.
Sehet den entnervten Wollüſtling, wie er dahin ſchwankt,
bleich und verblüht, mit vergiftetem Blut in den Adern, mit dem
feigen Schrecken in der Bruſt. Er kennt die Urſachen ſeines un⸗
verhinderlichen Unterganges; er zaͤhlt die Tage von heute bis zu
feiner äußerſten Entkräftung und Auflöſung. Oft umwehen ihn
ſchon die Schauer des Todes. Seine Lebensluſt ſträubt ſich gegen
das nahende Grab. Er kennt, er verflucht feine Moͤrderin, die
Sünde geiler Luft. Seine Vernunft ruft: rette dich! Sein Ge-
wiſſen warnt. Umſonſt. Allmächtig iſt die viehiſche Begierde in
ihm geworden; feine wüthende, unerfättliche Leidenſchaft ver⸗
ſpottet ihm Ehre, Schande, guten Namen, Fluch der Aeltern,
Abſcheu der Edeln. Er ſieht nichts, als die ekelhaften Ziele ſeiner
wollüſtigen Gier. Er taumelt kraftlos von Schmach zu Schmach,
von Vergehen zu Vergehen. Ihn warnen die Thraͤnen feiner
Lieben, ihn warnt der heilige Ruf der Religion — er möchte
beſſer ſein, möchte nach dem Himmel ſtreben. Umſonſt, ſeine
Leidenſchaft zerrt ihn hinab zum Abgrunde; verlöfcht feines Le-
bens matte Flamme und liefert die fleckenvolle Seele an die rich-
tende Ewigkeit aus.
Seht den Trunkenbold! deſſen zerrüttete Geſundheit ihn mit
plötzlichem Tode bedroht! Ach, er iſt elend; denn wie ein Sklave
geht er an der Feſſel feiner Leidenſchaft, und kann ſich nicht los⸗
reißen, und ſie ſchleppt ihn, zur Schmach der Welt, zum ſchmer⸗
zenvollen Krankenlager, zum frühen Grabe, zum furchtbaren
Gericht! Tauſendmal bereut er ſeine Schande, tauſendmal beweint
er ſeine Schwachheit. Aber immer ſchlägt die Verſuchungsſtunde
wieder, und er kann ſeiner Leidenſchaft nicht widerſtreben. Sein
Hausweſen geräth in Verfall. Mit der Schande naht die Ar-
muth. Weib und Kinder, Blutsverwandte und Freunde, die es
ig
redlich meinen, ſtrecken flehend ihre Arme zu ihm empor: Be⸗
kaͤmpfe dich, entſage deinem Laſter! fliehe die Trunkenheit! —
Umſonſt! Er kann nicht mehr leben, ohne den größten Theil ſei⸗
nes Lebens in die Vernunftloſigkeit eines Thieres zu verſenken.
Er iſt verloren; er weiß es, er fühlt es mit Schmerzen. Aber die
Sünde umklammert ihn zu feſt. Sie ſtürzt ſich mit ihm in den
hölliſchen Abgrund.
Dies iſt das Schickſal jedes Unglücklichen, der ſeine ſinnlichen
Neigungen zur Leidenſchaft hat erwachſen laſſen, die ihn zuletzt
unbezwingbar beherrſcht. Dies das Schickſal des Ehrſüchtigen,
der eine Welt verwüſtet, Glück und Ruhe ſeiner Tage einem Hirn⸗
geſpinnſt opfert, welches immer fern von ihm bleibt und mit
Thränen und Flüchen ihm lohnt. Das iſt das Schickſal des Spie⸗
lers, des neidiſchen Schadenfrohen, des Verſchwenders, des Gei⸗
zigen, des Diebes und des Jaͤhzornigen. Alle ſind gleich elend,
alle gleich beklagenswürdig.
Wer hat nicht ſchon die furchtbare Macht der Leidenſchaften
empfunden? Wer zittert nicht vor ihrer Gewalt, die unbemerkt
unter angenehmen Empfindungen aufkeimt, erwächſt und zuletzt
allverwüſtend unſere beſſern Gefühle erſtickt, und die letzte unſerer
guten Eigenſchaften tödtet, wenn wir ihr nicht mit männlicher
Kraft zur rechten Zeit begegnen, und Religion und Vernunft in
urſprünglicher Hoheit zu bewahren wiſſen.
Woher aber entſtehen die Leidenſchaften im Menſchen? Zeiget
mir den Keim dieſes Unkrauts, und ich kann es mit geringer
Mühe vernichten; iſt es einmal erwachſen, dann vernichtet es mit
ſeinem giftigen Schatten die Kraft meines Lebens.
Leidenſchaften entſtehen zum Theil ſchon durch eigenthümliche
Beſchaffenheit unſers Körpers, durch krankhafte Zuſtände deſſel⸗
ben, ohne daß wir eigentliche Krankheiten an ihm wahrnehmen;
durch allzugroße Reizbarkeit unſerer Nerven und dergleichen mehr.
Wir wiſſen, daß die innere Beſchaffenheit des menſchlichen
Leibes großen Einfluß auf unſere Art zu empfinden und zu
denken hat. Daß wir zu einer Zeit etwas angenehm finden, was
uns in andern Zeiten zuwider iſt; daß wir zu einer Zeit Alles
heiterer anſehen, zu anderer Zeit Alles in duͤſtexer Geſtalt er-
— 201 —
blicken: iſt nicht jo oft Folge unſerer Grundſaͤtze, als Folge un⸗
ſers körperlichen Wohl⸗ oder Uebelbefindens. Daher hat jeder
nach ſeinem Temperament, das heißt, nach der eigenthümlichen
Reizbarkeit feiner Nerven, auch beſondere Fehler, die man im ge—
meinen Leben mit dem Namen der Temperamentsfehler zu bezeich-
nen, oft zu entſchuldigen ſucht. Dadurch iſt der Eine mehr zum
freundlichen Wohlwollen und Mitleiden, der Andere mehr zum
Zorn, der Eine mehr zur Lebhaftigkeit in allen feinen Unter—
nehmungen, der Andere mehr zur Bedächtlichkeit geneigt.
Dieſe beſondern, durch den Körperzuſtand bewirkten Stim—
mungen der Seele erzeugen daher nicht nur eine große Verſchie—
denheit der Meinungen und Urtheile im gewöhnlichen Leben, ſon—
dern auch ſehr verſchiedene Neigungen und Denkarten. Dergleichen
aus der Beſchaffenheit des Leibes erzeugte Neigungen werden
gewöhnlich bald Lieblingsneigungen der Menſchen. Man gibt ſich
kaum die Mühe, ſie zu bekämpfen, weil ſie lange ganz unſchädlich
und unſchuldig erſcheinen. Aber mit den wachſenden Jahren er—
wachſen auch dieſe Neigungen allmälig zu größerer Stärke. Wer
ſonſt nur eine leichte Neigung zur Fröhlichkeit und zu den An—
nehmlichkeiten des geſelligen Lebens hatte, empfindet endlich ent-
ſchiedenen Hang zu Zerſtreuungen und Luſtbarkeiten. Allein auch
dieſer Hang hat noch keine furchtbare Seite; ſelten, aber doch zu—
weilen ſchon, verleitet er zu kleinen Pflichtvergeſſenheiten, zur Ver⸗
ſchwendung einer edeln Zeit, zur Vernachläßigung edler Berufs-
geſchäfte. Anfangs warnt wohl der innere Richter, oder ſchreckt
ein Unfall. Doch verzeiht man ſich gar leicht unter allerlei Vor—
wänden den Fehler. Man findet wohl gar Lobredner unſerer
Freigebigkeit, wo wir nur Verſchwender, unſerer fröhlichen Laune,
wo wir nur Zerſtreuungsluſtige waren; nennt Liebe zur Geſellig⸗
keit, wo wir Pflichten gegen Beruf, Ehre und Religion verletzten.
Dieſer Beifall, ohne daß wir den Werth deſſelben prüfen, be-
ſtärkt uns im Hange zum Wohlleben und Glänzen. Die ſtete
Befriedigung deſſelben macht ihn uns zur andern Natur. Bald
iſt es für uns das Wichtigſte in der Welt. Wir ſind nicht mehr
glücklich, wenn wir nicht mehr in fortdauernden Luſtbarkeiten
wohnen können. Unſere kleine Eitelkeit wird zur Gefallſucht,
— 202 —
unſere geſellſchaftlichen Freuden werden zur Zerſtreuungsſucht;
die Leidenſchaft ſteht in ihrer vollen Größe da. Wir ſind ihrer nicht
mehr Herr. Vermögen, Anſehen, guter Name werden ihr Opfer.
So ſind unſere ſogenannten Temperamentsfehler gewöhnlich
die Quelle unſerer wüthendſten Leidenſchaften; und wodurch das
Kind zu Unarten und Uebereilungen verführt wird, das macht
ſpäterhin den Mann und das Weib zum Verbrecher, zur Ver⸗
brecherin.
Doch nicht die körperliche Stimmung allein erzeugt in uns
Leidenſchaften — auch die Gewohnheit. Es gibt Menſchen,
die zuletzt Vermögen, Ehre, Ruhe und Leben fahren ließen, um
einen Genuß zu haben, der ihnen in frühern Jahren ſehr gleich⸗
gültig, wohl gar widerlich ſein konnte. Aber was ſie Anfangs
nur mit einer Art Zwang thaten, geſchah ſpäter aus Gewohnheit,
und ſogar mit einigem Vergnügen, zuletzt aus Bedürfniß, dem
ſie nicht mehr widerſtehen konnten. Wie mancher Räuber endete
ſchauderhaft ſein gräuelvolles Leben auf dem Blutgerüſte, weil
Diebſtahl und Rauben ihm zur Leidenſchaft geworden, daß ſie
nicht mehr auszurotten war, während er bekennt, daß die verruchte
Hand feiner Aeltern und Laſtergefaͤhrten ihn zum Entwenden bei
erſter Gelegenheit wider ſeinen Willen gezwungen hatte!
Die Macht der Gewohnheit iſt unbeſchreiblich groß. Sie ver-
wandelt gleichſam die Natur unſers Körpers, und durch ihn die
Natur unſerer Seele. Sie macht beide zu willenloſen Werkzeugen,
die ſich nach den einmal angenommenen Neigungen bewegen.
Ich zeigte dir den Keim des giftigen Unkrauts, der Leiden⸗
ſchaft — zertritt ihn, ehe er gewaltig über dich hinwaͤchſt, und
dich mit feinem ungeſunden Schatten betäubt und tödtet! — Am
eifrigſten vor allen bekämpfe die kleinen Fehler, die eine
Folge deiner körperlichen Stimmung, deines Tempera—
ments zu ſein ſcheinen; — mache dir die Befriedigung
keines Hanges, keiner Neigung, ſo angenehm auch die
Empfindungen fein mögen, die fie gewährt, in dir zum
Bedürfniß, zur Gewohnheit! — Siehe, in dieſen wenigen
Worten liegt der Weg zur Vollkommenheit, zur Herrſchaft über
dich ſelbſt, zur Chriſtusähnlichkeit angedeutet.
u
Allwiſſender, o Herzenskundiger, habe ich, der nach dem
ewigen Heile ringt, dieſen Weg ergriffen? Ich will dieſe ernſten
Worte leſen und wieder leſen: keinen Lieblingsfehler, kein Ge-
wohnheitsbedürfniß! — Ich will meine Empfindungen und
Thaten und Reden jeden Tag richten! — Wehe, ich fürchte, ich
bin nicht rein! Ein unſchuldiges Vergnügen ſcheint vor mir unter
Roſen zu tändeln, aber die Leidenſchaft und das Verbrechen
lauern verborgen dahinter, um mich zu fangen und zu verderben.
Stärke mich, mein Gott, durch die Macht Deines heiligen
Geiſtes, daß mein Gemüth niemals die Wohnung einer betäuben-
den Leidenſchaft werde!
23.
Die Wohlthaten der Einſamkeit.
Matth. 14, 23.
Wie freut' ich mich in ſtillen Stunden!
Da hab' ich mich, da Gott gefunden,
Und was mir im Geräufch der Welt verſchwand.
Da heilete der Glaube meine Wunden:
Da konnt' ich von der Leidenſchaft gefunden,
Da kehrt' ich heim zu meines Vaters Hand.
Seid mir gegrüßt, ihr heil'gen Einſamkeiten:
Ihr könnet mir der Seele Ruh' bereiten,
Die ich im Sturm der Welt verlor.
Entſchleiert mir des Lebens Eitelkeiten,
Und leitet mich zu jenen Seligkeiten,
Die nur Religion gewährt, empor.
„Man lebt nur einmal auf Erden; darum will ich des Lebens
recht genießen. Warum ſollte ich mir eine Freude verſagen, von
der ich nicht weiß, ob ich fie morgen noch haben kann? Die Ju⸗
gend iſt jo flüchtig, die Sorgen und Gebrechen des Alters kommen
von ſelbſt, darum will ich in der Jugend recht froh werden!“
So entſchuldigen alle Stände, alle Alter, alle Geſchlechter
ihren faſt unerſättlichen Durſt nach Vergnügungen. Man ſcheint
faſt keine andere Seligkeit auf Erden zu kennen, als die man in
Zerſtreuungen findet, oder im glücklichen Ringen und Arbeiten
2 1
nach Gewinn und Anſehen. Man ſucht in ſein Leben, in feinen
Genuß die größte Mannigfaltigkeit zu bringen. Man will keine
Stunde ohne Unterhaltung. Man ſtürzt ſich fröhlich in den
Wirbel von Geſchäften, Sorgen, Mühen und Erheiterungen,
und glaubt ſich dann am wohlſten zu befinden, wenn man die
angenehme Klage führt: Ich kann kaum zu mir ſelber kommen!
Dieſe Sucht nach Thätigkeit, nach Vielleben, iſt ein be⸗
ſonderer Zug in der Gemüthsart vieler Sterblichen, und hat auf
die Schickſale der Menſchen und Völker, und auf den Zuſtand
der bürgerlichen Ordnungen und auf den Gang der öffentlichen
Angelegenheiten einen großen Einfluß. — Dies unaufhörliche
Mitwirken im Getümmel der Welt, in den Abwechſelungen des
Lebens, gibt unſerer Denkart jene Abgeſchliffenheit und Rundung,
aber auch jene Unzuverläſſigkeit und Schwäche, welche gegen-
wärtig ſo allgemein geworden iſt. Es fehlt nicht an Perſonen mit
heftigen, Alles zerſtörenden Leidenſchaften; aber Menſchen, die
in einem ruhigen Gemüthe einen großen, eiſernen Willen, einen
für das Beſte der Welt Alles aufopfernden Muth neben reifer
Ueberlegung bewahren, — Menſchen, wie ſie uns in den Tagen
des Alterthums jo oft erſcheinen; Menſchen, die durch ihre Ent-
ſchloſſenheit und Seelengröße unſere ganze Ehrfurcht erwecken, —
ſolche ſind heutiges Tages eine außerordentliche Seltenheit ge-
worden.
Die Haupturſache davon iſt unſtreitig die herrſchende Zer-
ſtreuungsſucht, durch welche der Menſch, weil er ſelten ganz zur
Beſinnung und Ueberlegung kommt, mehr ein Geſchöpf der Um⸗
ſtände, als eine Frucht ſeiner eigenen Ueberzeugung und ſeines
beſonnenen Willens wird.
Der Weiſe ſoll es nicht ſein — der Chriſt nicht! — Dieſer
muß zuweilen, er muß oft vom Rauſche geneſen, mit welchem
ihn die Gefchäfte und Zerſtreuungen betäuben. Er muß, wenn
er das Höchfte. menſchlicher Glückſeligkeit ſchmecken will, ſich
niemals ſich ſelbſt rauben laſſen. Er muß niemals aufhören,
ſich ſelber anzugehören. Er ſoll ſeine innere Selbſtſtändig⸗
keit beſchützen.
Und dies zu können, gibt es nur ein einziges, aber mächtig
— 205 —
wirkendes Mittel — dies iſt die Einſamkeit! — Er muß ſich
zuweilen, er muß ſich oft dem Strome der Sorgen und der Zer⸗
ſtreuung entreißen, und mit ſich allein ſein können. Nur in der
Einſamkeit, wo gleichſam die ganze Welt von ihm abfällt, ge⸗
hört er ſich ſelbſt an, lebt er in ſich und für ſich. Nur in der
Einſamkeit ſteht er, wie vom großen Schauplatz abgetreten, als
Zuſchauer des Getümmels, in welchem er mitwirkt; nur von da
aus betrachtet er ruhiger jenes Getümmel und dann ſich ſelbſt;
beurtheilt ſeine Rolle in demſelben, und antwortet unbefangener
auf die natürliche Frage: Was kommt dabei heraus?
Die Welt hat keinen großen Mann, kein erhabenes, edles
Weib hervorgebracht, welche nicht durch die Einſamkeit gleichſam
erzogen, und zu ihrem hohen und ehrwürdigen Beruf eingeweiht
und vorbereitet worden ſind. Es iſt kein Chriſt in ſeiner Religion
ſtark und in feinem. chriftlichen Lebenswandel ausgezeichnet vor⸗
trefflich geworden, der nicht in der Abgeſchiedenheit oft Be⸗
trachtungen ſeiner ſelbſt halten konnte. — Selbſt Jeſus Chriſtus,
der Götttiche, wie oft entriß er ſich plötzlich dem Gewühl der
Menſchen, um die Einſamkeit zu ſuchen, und da ſich ſelbſt an-
zugehören!.
Der Hang zur Einſamkeit iſt im Menſchen natürlich; ſelbſt
Kinder zeigen ihn ſchon in den Jahren, wo man an mancherlei
Zerſtreuungen das lebhafteſte Vergnügen zu finden gewohnt iſt.
Dieſer Hang iſt nichts Anderes, als eine Sehnſucht der Seele,
ſich einmal ſelbſt wiederzufinden; die Freude, mit ſich ſelbſt und
keinem fremdem Weſen in Geſellſchaft zu ſein. Es iſt eine Sehn⸗
ſucht nach Ruhe, nach Herſtellung des wohlthätigen Gefühls von
Frieden, der im Gedränge des Lebens leicht verſchwindet; es iſt
eine Sehnſucht nach einer Erholung von äußern Erſchütterungen;
ein Streben, unſer ganzes Weſen, das durch die Berührung mit
der Welt überreizt wird, ausruhen zu laſſen. Einſamkeit iſt für
das müde, vielbewegte Herz eine ſtärkende Erquickung, wie es
der Schlaf für den ermatteten Körper iſt.
Wenn du dich einmal dem gewöhnlichen Treiben und Draͤngen
des alltäglichen Lebens entziehſt, wenn irgend ein Zufall dich auf
mehrere Stunden gleichſam von der Welt abſchneidet, wie ganz
— 206 —
anders wird es dir in der feierlichen Stunde des Allein
ſeins! Wie werden deine Gedanken größer und tiefwirkender!
Wie in ganz anderm Lichte erblickſt du da die Welt und dich ſelbſt,
weil alle deine Leidenſchaften ruhen, und den Blick in die Zukunft
nicht verdunkeln! Wie oft haft du da nicht gefühlt das Verächt⸗
liche und Kleinliche in dem Zwiſt und Hader der Menſchen unter
einander; wie oft, wenn du da dein eigenes Betragen beurtheilteſt,
haſt du dir wegen deines Mangels an Beſonnenheit, Edelmuth
und chriſtlicher Seelengröße Vorwürfe gemacht! Wie edle Ent⸗
ſchlüſſe haſt du nicht oft aus den ſtillen Ueberlegungen in der
Einſamkeit gewonnen! Ach, daß du ſie wieder im Sturme des
Lebens, zu dem du zurückkehren mußteſt, dir entreißen ließeſt,
war nur Schuld, weil du dich ſcheuteſt, wieder bald zur ruhigen
Beſonnenheit und zur Einſamkeit zurückzukehren. N
Wenn dich, getrennt von Menſchen, irgend einmal die dunkle
Einöde der Nacht überraſchte und zu ernſten Betrachtungen deines
Lebens einlud; — oder wenn du, entfernt von dem alltäglichen
Gewühl des Stadt- und Dorflebens, auf abgeſchiedenen Spazier⸗
gängen einſam wandelteſt, und die einförmige Schönheit der
Natur und die Stille, welche in ihr wohnt, in deine Bruſt ſich
ſenkte; — oder wenn du in der ruhigen Einöde eines Gebirges
emporſtiegeſt über das Getümmel der Sterblichen, über ihre
Nahrungsſorgen und Begierden, und dein Herz ſich gleichſam
dem Himmel näher fühlte, als der Erde; — oder wenn du in
der grünen Dämmerung eines Waldes ruhteſt, wo rings umher
Alles ſchwieg, und Alles dich zur Betrachtung deiner ſelbſt zu
führen ſchien, und nichts dich ſtören wollte: wie ward dir da?
Erinnerſt du dich noch des erſten angenehmen Schauders, der
dich in der Abgeſchiedenheit durchzitterte? — des wollüſtigen
Friedens, in welchem deine Seele wohnte? — der Wünſche,
ewig ſolcher ruhigen, menſchenfreundlichen, wohlwollenden
Stimmung genießen zu können? War dir nicht in ſolchen heiligen
Augenblicken, da mit den Menſchen auch alle bittern Erinnerun⸗
gen, alle Leidenſchaft von dir entfernt war, du ſeieſt plotzlich ein
beſſeres Weſen geworden? — Siehe, das war der Zauber der
Einſamkeit!
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r
j
= Be
Warum erneuerteſt du dieſe Gefühle nicht öfter in dir?
Warum vergaßeſt du die Einſamkeit aufzuſuchen, die dich ſo
glücklich, die dich edler und kraͤftiger machen konnte? — Auch
Jeſus Chriſtus, von des Lebens Noth und Mühe bedrängt,
ſuchte im Schooſe ruhiger Abgeſchiedenheit neue Kräfte, neuen
Muth. N
Es iſt damit nicht geſagt, daß des Menſchen Hauptziel ſein
ſolle, ſich von der Welt abzuſondern, und ſeine Tage ſo einſam
als möglich zuzubringen. Nein, Gott ſchuf uns für dieſe Welt,
darum ſollen wir mit ihr, in ihr leben. Gott gab uns den Trieb
und die Pflicht zur Geſelligkeit, darum ſollen wir die Geſellſchaft
nicht meiden. Nur im Gewühl des Lebens kann ſich unſere
Tugend in ihrer ganzen Kraft entwickeln. Der Einſame im
Kerker, dem alle Gelegenheiten zum Sündigen fehlen, iſt darum
noch kein Heiliger. Jeſus ſelbſt wohnte unter den Menſchen,
arbeitete unter ihnen, ſandte ſeine Schüler unter ſie — er wollte
nicht, daß fie abgelegene Einöbden ſuchen, ſondern daß fie unter
den Sterblichen leben und Gutes wirken ſollten.
Eine beſtändige Abgeſchiedenheit von der menſchlichen Ge—
ſellſchaft macht den Menſchen zu einem unnützen Gliede der Ge—
ſellſchaft, — macht ihn einſeitig im Urtheil über die Handlungen
der Sterblichen; — macht ihn aus Mangel gemeinnütziger Be⸗
ſchäftigung oft zum traͤumeriſchen Schwärmer; wenigſtens ent⸗
zieht ſie ihm hundert vortreffliche Gelegenheiten, den Willen
Gottes auf Erden zu vollſtrecken. Er kann ſich freilich rein hal⸗
ten von den Irrthümern der Welt; aber er ſinkt dafür in die
Irrthümer der Einſamkeit. Wie überall, alſo auch hier iſt Ueber⸗
treibung ein Fehltritt.
Wir ſollen die Einſamkeit ſuchen, ohne der Welt
ganz zu entſagen. Wir ſollen die Einſamkeit ſuchen, damit
wir für unſer Herz neue Kräfte ſchöpfen, um im bunten Ge⸗
wühl und Lärmen des alltäglichen Lebens mit edler Selbſtſtaͤndig⸗
keit auszudauern. — Wir ſollen in gefchäftlofen Stunden d
Einſamkeit ſuchen, um uns wieder zu unſerm beſſern Selbſt
zurückzufinden, das ſonſt unter Zerſtreuungen, Mühen und
Arbeiten verloren geht, und uns fremd wird.
— 208 —
Die Einſamkeit iſt gleichſam ein Bad der Seele, in welchem
ſie untertaucht und allen Unrath von ſich abwäſcht, der ihr aus
dem gemeinen Wirkungsleben anklebt. Sie vergißt, abgeſondert
von demſelben, was ſie bedrängt, belaſtet. Sie iſt freier. Ihre
Empfindſamkeit wird durch nichts gereizt; alle ihre Gefühle wer⸗
den daher ſanfter. Sie kommt zu ſich ſelbſt, wie in der Ruhe
nach einem Sturm, oder wie in der Geneſung nach einem Rauſche.
Wer die Einſamkeit ſucht, um dieſe wohlthätigen Folgen zu
genießen, muß daher Alles von ſeinen Augen entfernen, was
ihn an das Gewöhnliche wieder erinnert. Er muß ſich nicht bloß
in ſeine Kammer verſchließen, ſondern ganz aus dem Kreis ſeines
Alltagslebens hinaustreten. Er muß nicht ſein Haus, nicht ſeine
Stadt, nicht ſein Dorf ſehen; — erſt in der vollen Einſamkeit,
wo ihn nichts mehr aus der gewöhnlichen Welt erreicht und
berührt, erſt da iſt er frei, erſt da gehört er nur der Gottheit und
ſich an, erſt da empfindet er die heilſamen Wunder der ſtillen
Abgeſchiedenheit.
Daher entſpringt das Vergnügen eines einſamen Spazier⸗
ganges, weil, wo wir nichts vom Gewöhnlichen erblicken, ſon⸗
dern überall nur die Ruhe der ſchönen Natur und ihre ewige
Ordnung wahrnehmen, unſer Geiſt gleichſam mit ihr zuſammen⸗
ſchmilzt. Daher ſind die meiſten Menſchen ſelbſt ſchon auf Reiſen
andere Menſchen, ſanfter, freundlicher, duldſamer, edelmüthiger,
heiterer, als im Haufe. — Suchſt du für dein wundes Herz den
Balſam der Einſamkeit, ſuche ihn auf einſamen Spaziergängen,
im Schooſe der ewig ſchönen Natur. Jeſus ſtieg auf einen Berg,
um allein zu ſein, oder ging in die Gebüſche abgelegener, von
Menſchen ſelten beſuchter Gärten. Da überließ er ſich den hohen
Betrachtungen, da der begeiſternden Andacht des Gebets.
Einſamkeit gewährt uns nicht nur Erquickung nach dem Ge—
ſchaͤftsgetümmel; ſie heilt uns nicht nur manche Seelenwunde,
die uns die Welt ſchlug, ſondern fie gibt uns ein unſchaͤtzbares
Mut, für das Leben — nämlich: Selbſtkenntniß und richtige
Kenntniß der Welt.“
So lange wir im Kampfe mit den alltäglichen Mühſeligkeiten
ſtehen, oder im Taumel der Zerſtreuungen ſchweben, ſehen wir
„
nur jene Mühſeligkeiten, nur jene Zerſtreuungen, nicht uns
ſelbſt. Es iſt unmöglich, wir kommen nicht zum vollkommen
ruhigen Nachdenken. Wir ſchwanken immer im Gedränge! Leid
und Wolluſt, Furcht und Hoffnung, Haß und Freundſchaft,
Sorge und Glück hält uns in immerwährender Bewegung, das
Herz in unaufhörlicher Gährung. Leidenſchaften beſtechen unſer
Gefühl und unſer Urtheil. Wir werden, ſo lange wir unter den
Menſchen ſind, zuletzt, ohne daß wir es bemerken, ohne daß wir
es glauben, ſo ſchwach, ſo kleinlich, ſo fehlervoll, wie die Men⸗
ſchen, welche wir verachten.
Aber wenn die heitere Ruhe der Einſamkeit in unſer Gemüth
dringt, wenn uns im Schooſe der Abgeſchiedenheit nichts zur
Freude, nichts zum Zorn reizt — dann erſt erhebt ſich der Geiſt
zu ſeiner Beſonnenheit; er wird von den Ketten der Welt frei,
und das Treiben der Menſchen erſcheint ihm anders, als da er
mitten unter ihnen ſtand. So ſieht der Feldherr, wenn er im
Gewühl der Schlacht mitſtreitet, von ſeinem eigenen Heere nichts,
oder wenigſtens nur einen kleinen Theil. Aber er zieht ſich in
einige Entfernung und Stille zurück; hier erſt überſieht er das
Ganze des Kampfes; hier bemerkt er erſt die Fehler der feindlichen
Macht, und die Schwächen ſeines eigenen Heeres; hier erſt kann
er in erforderlicher Ruhe die beſten Verfügungen anordnen.
Suche von Zeit zu Zeit die Einſamkeit, und du wirſt
jedesmal beſſer, ruhiger, kräftiger, entſchloſſener aus
ihr zu den Menſchen zurückkehrenz du wirſt deine Bekann⸗
ten, deine Mitbürger, deine Umſtände, dein Schickſal gleichſam
aus einem andern Geſichtspunkte ſehen lernen, und du wirſt dein
eigenes Betragen in der Welt richtiger beurtheilen.
Einſamkeit erhebt die Kraft unſers Gemüthes. Es
iſt unmöglich, daß der Menſch, wenn er oft in ſtiller Ueberlegung
ſich ſelbſt beobachtet, und die Quellen und Folgen feiner Hand⸗
lungen ruhig prüft — es iſt unmöglich, daß er nicht beſſere Ent⸗
ſchlüſſe faſſen, Geſinnungen ändern, Meinungen berichtigen ſollte.
Jede aufmerkſame Selbſtbeobachtung, die wir mit unbefangenem
Sinn anſtellen können, iſt ein Schritt zu unſerer Veredelung.
Wir verlaſſen ſie nicht ohne einen beſſern, ſtaͤrkern Willen. Wir
— 210 —
treten nicht in das Weltgetümmel zurück ohne größere Aufmerk-
ſamkeit auf uns ſelbſt, ohne angeſtrengtere Vorſicht. Aber jede
Uebung einer Kraft erhöht die Kraft.
Indem wir aus der Einſamkeit den Wechſel der Dinge,
der Unglücksfälle und Glücksfälle, wie aus der Ferne bes
trachten, wird der Geiſt gefaßter. Er überläßt ſich minder grenzen⸗
loſem Schmerz und ausgelaſſener Freude über das, was ihm als
unabänderliches Naturgeſetz und Gang der Weltordnung erſcheint.
Ihn reizt hier weniger das Gaukelſpiel der Leidenſchaften, da er
die Vergänglichkeit deſſen, was Ehre, was Ruhm heißt, wahr⸗
nimmt. Viele Widerſprüche löſen ſich vor ſeiner ruhigen Ueber⸗
legung auf, und aus der Vernichtung der Tauſchungen erhebt
ſich ein größeres, freieres Gemüth, das ſich inniger anſchließt an
das Ewiggute, Ewigwahre, Ewigſchöne — an die dauerhaften
Freuden der Religion.
Einſamkeit macht, durch die Empfindungen und Betrach-
tungen, welche fie einflößt, den Menſchen chriſtlicher, den
Chriſten göttlicher. Für Augenblicke gleichſam in allen Ver⸗
bindungen mit der Welt unterbrochen, ſucht der Einſame nichts
mehr als ſich ſelbſt, als die Schöpfungen Gottes, als die unend—
liche Gottheit! — Dies ſind die feierlichſten Augenblicke — es
ſind die Himmelsſtunden auf Erden! — Ganz neue Gefühle
erwachen. Der Menſch, herausgeriſſen aus dem Lebensgewühl,
iſt Niemanden nahe, als Gott. Er ſteht vor Gott, deſſen
Schöpfung ihn umringt. Ein geheimer Zwang bemaͤchtigt ſich
der Seele; ſie muß ſich zum Höchſten des Weltalls erheben. Sie
muß ſeiner gedenken, durch den ſie da iſt, durch den ſie ſein
wird. Und dieſer Gedanke wird zum Gebet! Und das Gebet in
der Einſamkeit, das Gebet in der freien Natur, in den Einöden
des Gebirges, in der Dunkelheit des Waldes, in der ruhigen An⸗
muth des Thales, in der freundlichen Stille eines Gartens: wie
ganz anders iſt dieſes Gebet von dem gewöhnlichen! — So beten
Engel. Hier iſt freies Gefühl, hier iſt Inbrunſt, hier Demuth
und die Majeftät Gottes größer.
O auch ich, auch ich habe dieſe Himmelsſtunden ſchon ge—
lebt; warum ſollte nicht oft meine Sehnſucht wieder nach ihnen
— 211 —
erwachen? — Ja, mein Jeſus, ich will Dir nachfolgen in das
Schweigen der Einſamkeit, wo Du Deine Werke betrachteteſt und
die Menfchheit, und dann Dich betend auf den Flügeln der An⸗
dacht zu Gott zurückſchwangeſt. Dort will ich mich heiligen, dort
will ich mich vollenden. — Oft will ich das Geräufch der Welt
fliehen, um in der Einoͤde mich einer fremden ſchönen Welt an-
zuvermählen, wo Seelenfrieden und ſtiller Heiterſinn wohnen.
Dort wird die einförmige Ruhe, das Schweigen der Natur meine
Leidenſchaften beſänftigen, meine Begierden mildern. — In der
Welt und ihrem Getümmel ſehe ich nur das kleine, verdorbene
Trachten der Menſchen, ihr Jauchzen um nichts, ihr Jammern
um das Unmögliche; ich ſehe nur die Eitelkeit der Dinge. In
der Einſamkeit aber erblicke ich mich ſelbſt, und Dich, o Gott,
o Vater! Dich, wie mich, vergaß ich oft unter den nichtigen
Sorgen und Bemühungen, unter den thörichten Wünſchen und
Freuden des gewöhnlichen Lebens. Nur wenn ich allein ſtehe,
finde ich Dich und mich wieder.
24.
Die Kunſt, glücklich zu werden.
1. Tim. 6, 6.
Du gibſt, daß ich nicht Mangel leide,
Was nöthig iſt, auch mehr als Brod;
Gibſt zu Bedürfniß auch noch Freude
Für einen jeden Sinn, o Gott;
Wie iſt zum Wechſel im Genuß
So reich, ſo groß Dein Ueberfluß!
Drum will ich mäßig im Genuſſe
Der Gaben Deiner Güte ſein,
Will gern von meinem Ueberfluſſe
Auch noch Bedürftige erfreu'n.
Bei ſo viel Segen, ſo viel Huld,
Bin ich nicht froh, iſt's meine Schuld.
Dieſe Erde iſt ein blumenreicher Schauplatz mannigfaltiger
Freuden; die Hölle wohnt nur in der Bruſt derer, die fie hin⸗
einlegen wollen. Durch die Unerſäͤttlichkeit ihrer Wünſche zer-
— 212 —
ſtören fie ihre Geiſtesruhe, durch Unmaßigkeit im Genuſſe ihres
Leibes Geſundheit. Um der Ungeduld willen, mit welcher ſie
auf die Zukunft, auf Glücksgüter hoffen, die ihnen noch fehlen,
verlieren ſie die Freude des gegenwärtigen Augenblicks, und den
Genuß der Güter, die ihnen gehören.
Aus der ungeſtümen Sehnſucht nach dem Beſſern ſteigen
die meiſten Leidenſchaften hervor, die uns quälen: die Sorge,
welche den Geiſt von der Luſt der Gegenwart entfernt; der Geiz,
welcher ſich aus Angſt für die Zukunft des vorhandenen Glücks
beraubt; die Verſchwendung, welche nach immer beſſern Genüſſen
haſcht, und nie Befriedigung findet; die Ehrſucht, welche nicht
ruhen läßt, und mit gerechter Achtung des Verdienſtes nicht ge⸗
ſaͤttigt werden kann; der Neid, welcher Jeden als Räuber eines
Glückes haßt, das er nicht beſitzt; die Verleumdung, des Neides
dienſtfertige Schweſter, und ſo das ganze Gefolge von Laſtern
aller Art. Denn wer auch nur eine Sünde liebt, hat, ohne es
zu wollen und zu wiſſen, allen die Hand dargeboten.
Daher der Klagen und der Thränen und Seufzer und Feind⸗
ſchaften ſo viele! Daher der Jammer über dieſe Welt, daß ſie
eine Leidensſchule, ein Ort des Jammers ſei!
Der Gerechte, der Weiſe, der Chriſt, ſelig in Gott, genüg-
ſam in dem, was ihm vom himmliſchen Segen zu Theil ward,
iſt voll ungeſtörten Glückes und Friedens. Er nennt dieſe Welt
kein Jammerthal, weil er den allgütigen Schöpfer nicht anklagen,
nicht läſtern will.
Um durchaus glücklich zu ſein, bedarf man wenig. Jeſus
Chriſtus, unſere Seligkeit wollend, wies uns den Weg zum
Glück, ſelbſt ſchon auf Erden genießbar. Warum wollen wir
ihn nicht verſtehen? Warum weichen wir von ſeiner Hand ab?
Warum ſtreben wir mit unnatürlichen, vermeſſenen Begierden
und Lüſten den ewigen Ordnungen der Natur entgegen?
Wer durch Schwelgerei, Trunkenheit, Wolluſt und andere
Ausſchweifungen ſeine Geſundheit zerrüttet: warum klagt er über
die Welt, ſtatt feine eigene Thorheit anzuklagen, welche ihn ſtraft?
Wer ſich in feinen eigenen Empfindungen verzärtelte; ſich ſelbſt
gegen alle Eindrücke von außen zu reizbar machte; ſich keine
— 18 —
Mühe gab, ſich ſelbſt gegen alle Anfechtungen des Lebens maͤnn⸗
lich abzuhärten: warum ſchilt er das ſchwere Verhaͤngniß, die
Gefühlloſigkeit der Menſchen? Warum ſchickt er ſich nicht, wie
die heilige Schrift ſagt, in die Zeit und in die Welt? Warum
verlangt er in ſeinem Wahnſinn, daß das Weltall ſich nach ſeinen
Launen ändere, ſtatt ſich nach dieſem zu richten, und die Men⸗
ſchen zu behandeln, nicht wie er fie ſich wünſcht, fordern wie fie
wirklich nun einmal ſind?
Wohnt unter dem Himmel viel Uebels: wer hat es geſchaffen?
Hat der allweiſe Schöpfer gefehlt, oder fehlt der kurzſichtige
Menſch? Wenn das eigenſinnige Kind weint, weil es nicht im⸗
mer erhalten kann, was es begehrt, oder gleichgültig verachtet,
was ihm zu Theil wird: iſt es der vorſichtigen Aeltern Schuld,
oder die Thorheit des Kindes?
Nein, was Gott gethan, iſt wohlgethan! Gott gibt, lerne
du nur mit Weisheit annehmen. Gott verweigert, lerne du
nur mit Weisheit entbehren. Gott verheißt, lerne du nur mit
Weisheit dich der Verheißung werth machen. Gott ſteckt das
Ziel aus, lerne du nur mit Weisheit deine Kraft anſtrengen, es
zu erreichen.
Du warſt bisher nie ganz glücklich? Wohlan, muſtere deinen
Lebenslauf, deine Schickſale; woran lag es? Du hatteſt es nicht
immer ſo, wie du wollteſt; aber warſt du auch immer ſo, wie du
ſollteſt? Du wurdeſt von liebloſen Menſchen hart behandelt; aber
wenn du deine Pflichten alle vollbracht, warſt du nicht ſelbſt
unter jener liebloſen Behandlung froh? Es fehlte dir mancher
Genuß, manche Freude, die Andere Deinesgleichen hatten? aber
hatteſt du auch jo manchen Verdruß, jo manche Verlegenheit und
Noth, die fie erduldeten? Dein Vermögen vergrößerte ſich nicht
ſo ſchnell, als du wünſchteſt; du litteſt wohl manchen Unfall;
aber du hatteſt doch bisher genug, um leben zu können, und wohl
noch mehr, um dir ein Vergnügen zu bereiten: warum ſetzteſt du
dein ganzes Glück in den Gewinn einer Sache, die nie von dir
abhing, die dem Wechſel mannigfaltiger Umſtände unterworfen
iſt? Du warſt von vermeinten Freunden und Freundinnen falſch
und treulos behandelt; du irrteſt dich in ihrer Denkart; es iſt dir
— 214 —
ſchmerzlich: aber der Irrthum war auf deiner Seite; warum be⸗
klagſt du thörichter Weiſe deine Täuſchung, und genießeſt nicht
vielmehr die hohe Freude des edeln Selbſtgefühls: du habeſt
keinen derer betrogen, die dich Freund hießen?
Gott wollte: glücklich ſoll der Menſch fein; auch auf
Erden ſoll er es nach Maßgabe ſeiner Kräfte ſein! Gott walter
es, denn der Allgütige will nur das Gütigſte.
Glücklich ſoll jeder Sterbliche ſein, doch nur — wenn er
es ſein will. Den freien Willen gab uns der göttliche Vater,
weil wir ſelbſtſtändige Weſen, geſchaffen nach ſeinem Bilde, ſein
ſollten, keine todten Werkzeuge, keine willenloſen Geſtalten, un⸗
fähig zum Guten und Böſen.
Glücklich zu ſein, haͤngt alſo von jedes Menſchen Willen ab.
Das Glück, welches nicht von mir ſelbſt und durch eigene
Kraft erworben werden kann, iſt kein wahres Glück, weil, was
mir Andere geben, auch Andere eben ſo leicht wieder nehmen
können. Gott würde uns nicht zur Glückſeligkeit geſchaffen haben,
wenn dieſelbe nicht in der Macht jedes einzelnen Menſchen lage,
ſondern von fremder Gunſt und unzuberechnenden Umſtänden
abhinge.
Und welches iſt nun die Grundlage alles Glücks? Welches
iſt das unfehlbare Mittel, welches jeder Sterbliche in ſeiner Ge⸗
walt haben kann, froh und heiter zu werden? O, wie oft ward
es ſchon zu uns geſprochen, wie ſelten haben wir den rechten
Sinn davon begriffen! — Dieſes Mittel iſt: zufrieden ſein,
zufrieden machen. Erwirb dir die feſte Gemüthsſtimmung:
mit unbefangener Seele den gegenwärtigen Augenblick zu
genießen, ſo wie die Luſt, welche er dir bringt; erwirb dir die
erhabene Stärke des Herzens, das muthig zu entbehren, was
dir vom Schickſal noch verweigert iſt. 101
Uebe dich, zufrieden zu fein mit Gott! — Du erſchrickſt?
Du glaubſt nie gegen das höchſte Weſen eine Unzufriedenheit
gehegt zu haben? Du glaubſt, nichts ſei leichter, als mit dem
gütigſten, weiſeſten Schöpfer zufrieden zu ſein? — Aber woher
denn oft dein Unmuth über mancherlei Schickſale, die dich ohne
dein Zuthun betrafen? Du ſprichſt: ich war nur mit dieſen
— 215 —
Schickſalen unzufrieden. Aber kamen ſie nicht von Gott? Waren
ſie nicht das Werk ſeines Willens? Du klagteſt die Thaten Got⸗
tes an; wider Gott, o Blödſinniger, ſchrie deine Unzufriedenheit!
Woher dein Unmuth, wenn deine Lieblinge dir hinwegſtarben;
wenn Freunde durch ein fremdes Verhängniß von dir geriſſen
wurden; oder wenn du über die Lage murrteſt, in die du verſetzt
wareſt; oder wenn dein Wohlſtand fich verlor; oder wenn An-
dern Reichthum zufiel, ohne ihr Verdienſt, oder Anſehen und
Ehre, ohne Würdigkeit ihnen zu Theil wurde, wahrend du im
Schweiße deines Angeſichts thätig und redlich arbeiteteſt, und
dennoch nicht weiter kamſt? — Dieſes Mißvergnügen, welches
du empfandeſt, dieſe Unzufriedenheit — wen klagteſt du damit
an? Den Gang der Welt, die Ungerechtigkeit des Zufalls und
des Glücks, wie du es nannteſt. Aber weſſen Hand zeichnet der
Welt ihren Gang, dem Zufall ſeinen Lauf, dem Glück ſeinen
Weg vor? Iſt es nicht die Hand Gottes? Oder iſt noch ein Höherer,
als der Allerhöchſte?
Sei zufrieden mit Gott, das heißt, zufrieden mit den Glücks⸗
umſtänden, mit den Verhältniſſen, mit dem Looſe, welches er
dir in dieſer Welt ertheilet hat. Warum er dir dieſes Loos und
kein anderes bereitet und gegeben hat, iſt ihm, dem weiſeſten und
dem gütigſten aller Weſen, allein bekannt. Aber es iſt für deine
Seele, für ihre Kraft, für ihre Art zu wirken und zu ſein, für
ihre Beſtimmung ohne Zweifel das Beſte geweſen.
Sei zufrieden mit Gott! Deine Unzufriedenheit ändert den
Lauf der Dinge nicht; fie iſt Läſterung der höchften Weisheit;
ſie iſt Verbrechen. Gab der Schöpfer Andern andere Mittel zur
Selbſtbeſeligung; gab er ihnen andere Vorzüge, mehr äußere
Schönheit, größere Reichthümer, vortheilhaftere Gelegenheit,
Anſehen zu erwerben, mächtigere Verbindungen — zu allem
Guten legte er das heilſame Gegengewicht. Du irrſt, wenn du
unter Purpur und Seide die dauerhafte Freude, in den goldenen
Paläſten die ſüße Ruhe des Gemüths, des Lebens höchiten Ge⸗
nuß ſuchſt. Es iſt kein Licht; es wird von einem Schatten be⸗
gleitet. Du würdeſt, könnteſt du tauſchen, es verfchmähen, das
*
— 216 —
werth haͤltſt; du würdeſt es vorziehen, der zu bleiben, welcher
du biſt.
Sei zufrieden mit deinem Gott — und biſt du es, ſo iſt die
Hälfte deines Glücks ſchon gemacht! Du wirſt dankbar froh das
ſchätzen und mit Innigkeit genießen, was dir zu Theil ward.
Du wirſt im Vertrauen auf die Weisheit des göttlichen Weltre⸗
gierers heiter entbehren lernen, was du noch nicht empfangen haſt.
Du wirſt Andere nicht beneiden. Du wirſt ihren Stolz belächeln,
mit dem ſie ſich aus Geiſtesſchwäche brüſten, weil ſie Vorzüge
zu haben glauben, die dir mangeln. Du wirſt eine Reihe kühner
und ungeſtümer Wünſche aufgeben, die dir die Ruhe rauben,
und den Schritt der Zukunft um nichts beſchleunigen. Nur wer
die meiſten Wünſche in ſeiner Bruſt nährt, der iſt der Aermſte;
der Genügſame wünſcht wenig, eben darum iſt er reich, darum
glücklich. Wahrlich, es iſt wohl der höchſte Gewinn, wer in Gott
ſelig iſt und läſſet ihm genügen. (1. Tim. 6, 6.)
Sei zufrieden mit dir ſelbſt! Darunter aber iſt nicht jene
Selbſtzufriedenheit der Menſchen zu verſtehen, die nur Eitelkeit
und eingebildetes Weſen iſt, daß Alles vortrefflich und gut ge⸗
macht ſei, was fie thun. Sei zufrieden mit dir ſelbſt, heißt: ſtelle
die innere Uebereinſtimmung mit dir ſelbſt her, daß nie zwiſchen
deinen Handlungen und Worten ein Widerſpruch ſtattfinde mit
deinem Pflichtgefühl. Handle ſo, daß du vor dir ſelbſt Achtung
haben könnteſt; daß dich dein Bewußtſein jederzeit vor Gott, vor
dir, vor allen Menſchen rechtfertiget. Man iſt nur ganz mit ſich
zufrieden, wenn man ſich keines Vorwurfs, keiner Schuld be⸗
wußt iſt, ein reines Herz und eine Erinnerung von rechtſchaffenen
Thaten hat.
Wer ſo mit ſich zufrieden ſein kann, der hat die Schöpfung
ſeines Glückes vollendet. Tiefe Ruhe, unzerſtörbare Heiterkeit,
eiſerner Muth im Trübſal ſind das Eigenthum des Tugendhaften.
Die ſtille Seligkeit, welche dich erquickte, wenn du ein gutes
Werk vollbracht hatteſt, von welchem vielleicht außer dir Nies
mand als Gott wußte, gedenke ihrer, wie ſie deine ganze Seele
füllte! Hätteft du damals dieſe reine Wolluſt des Gemüths, dieſe
Weihe zum Himmel gegen andere Luſtharkeiten, gegen alle Wire
—
— 217 —
den und Schätze der Menſchen vertauſchen mögen? Siehe, Für⸗
ſten ſtürzen von ihren Thronen, Kriege zerrütten den Wohlſtand
von tauſend Familien, Verleumdung und Haß bringen um Ruhm
und Ehrenſtellen — aber wer taftet den Himmel an, den die
Tugend dir in dein Herz ſenkt?
Sei zufrieden mit dir ſelbſt! Handle ſo, daß du nie
Urſache haſt, dich ſelbſt zu verachten, und du wirſt, wenn dir
auch manche andere Glücksgüter fehlen, unter den Sterblichen
einer der Glücklichſten ſein. Du wirſt nicht den Reichen beneiden,
der mitten in ſeinen koſtbaren Zerſtreuungen elend iſt, weil er
über ſein Inneres nicht froh ſein kann; du wirſt den Gewaltigen
nicht beneiden, welcher auf dem Throne ſchaudernd dem Tode
entgegenblickt; du wirft die Schönheit nicht beneiden, welche nach
wenigen Jahren verblüht iſt. Deine Seligkeit verblüht nicht; dein
Reichthum folgt dir in die Ewigkeit hinüber; dein Schatz iſt, wie
die heilige Schrift ſpricht, im Himmel. Denn was du dir er—
warbſt, find Vorzüge und Hoheiten, nicht die du irdiſch dem ver—
weslichen Leibe erwarbſt, ſondern dem unſterblichen Weſen, das
dieſen Leib, als todtes Werkzeug, beſeelt.
Sei zufrieden mit den Menſchen! Fordere fie nicht voll—
kommener, als ſie ſind. Verachte ihre Thorheiten, ihre Laſter,
ihre Schwächen; trage, wo du kannſt, dazu bei, ſie zu verbeſ—
ſern, — aber dieſe Menſchen, haſſe ſie nicht ſelbſt, wegen ihrer
Unvollkommenheiten, ſondern ertrage ſie. Gott duldet ſie auch!
Sei zufrieden mit den Menſchen, nimm und behandle ſie mit
Schonung und Klugheit, wie ſie nun einmal ſind. Deine Un—
zufriedenheit, dein Murren, dein Zürnen, dein Tadeln ändert
ſie ſchwerlich, wenn deine Güte und Klugheit ſie nicht beſſert,
ſondern macht die Stolzen nur ſtolzer, die Halsſtarrigen nur
halsſtarriger, die Betrüger und Heuchler nur liſtiger und heim—
tückiſcher. Kein Menſch iſt von Grund aus verdorben und ohne
alle guten Sitten; aber kein Menſch iſt auch vollkommen und
ohne Fehler. Siehe bei jedem Menſchen nur auf das, was wirf-
lich ſchätzbar an ihm iſt, ſo wirſt du ihn lieben lernen, ſeine
Fehler werden dir weniger anſtößig; er wird, wenn er fühlt, daß
du ihn achteſt, und warum du es thuſt, die Liebe mit Liebe ver⸗
III. 10
— 218 —
gelten, und in feine guten Eigenſchaften noch höhern Werth ſetzen
und ſie nicht verſäumen. >
Sei zufrieden mit den Menschen, mit welchen du ein⸗
mal in Verbindung lebſt, und fordere nicht, daß ſie alle deines
Sinnes werden, alle nach deinen Begriffen handeln, alle ge
ſtimmt ſeien, wie du geſtimmt biſt. Wie würden ſolche An⸗
maßungen, ſolcher Eigenſinn neben der Achtung beſtehen, welche
du für dich ſelbſt haben ſollſt? Fühlſt du, daß dich gewiſſe Ver⸗
bindungen drücken: verſuche es anhaltend, durch jedes gerechte
Opfer, durch jede Mühe und Beſſerung von deiner Seite ihnen
mehr Annehmlichkeit zu verſchaffen. Wenn edler, uneigennütziger
Sinn Hand in Hand mit Klugheit wandelt: ſelten kann dieſen
widerſtanden werden. Und iſt auch das Aeußerſte vergebens: dann
lerne Verbindungen dieſer Art entbehren. Je unabhängiger, ges
nügſamer und anſpruchloſer, je glücklicher iſt der Menſch.
Zufrieden ſein mit Gott, mit dir, mit Andern; aber auch —
zufrieden machen! — Wie wärſt du glücklich in dir ſelbſt,
wenn du eine Seele wüßteſt, die durch deine Schuld nicht ganz
glücklich wäre? Es ſteht zwar nicht in unſerer Macht, Jeden zu
beglücken; wohl aber ſteht es in unſerer Macht, zu verhüten, daß
kein guter Menſch durch uns Ruhe, Freude und Frieden verliere.
Und dies iſt ſchon viel gethan! Und was wir dem Geringſten
unſerer Brüder thun, das haben wir uns ſelbſt gethan. Wer
fremden Kummer ohne Rührung ſieht, den er doch mildern könnte,
bereitet ſich ſelbſt Kummer, und bringt fein eigenes Herz um eine
Wolluſt.
Zufrieden machen! — Das Glück, welches wir Andern
bereiten; die Freude, welche wir unſern Bekannten gewähren,
find nur Ausſaaten unſers eigenen Glückes, die früher oder fpäter
wiederum uns ſelbſt mit goldener Aernte belohnen. Das Gute,
welches wir ſtiften, es ſei auch noch fo klein, ſtroͤmt immer wieder
auf uns zurück.
Zufrieden machen! Es iſt nicht möglich, daß ein Sterb—
licher vollkommen glücklich ſei, einſam, ohne den Anblick allge—
meiner Zufriedenheit. Wer möchte ſich an allgemeiner Trauer er—
göͤtzen, wer fröhlich fein, wo unzufriedene Geſichter uns umringen.
— 219 —
Zufrieden fein, zufrieden machen! Dies fei fortan mein Wahl⸗
ſpruch. Denn auch ich bin ja von Dir, o Gott der Liebe, zum
Glück berufen, und in meiner Bruſt pocht Sehnſucht nach dem
Glück, Verlangen nach Freude. Ich ſuchte dieſe bisher nicht im—
mer auf dem einzig richtigen Wege. Mich verführte oft das Bei—
ſpiel der Menge. Ich ſuchte mein inniges Wohlſein in Er⸗
reichung von Wünſchen, deren Erfüllung nie ganz von mir
abhing; bald in Zerſtreuungen, bald in Erwerbung eines freund-
lichen Herzens, bald im Gewinn von Geld und Gut, bald im
Gewinn von Ruhm und Anſehen. Ueberall, ach nur zu oft, fand
ich mich getäuſcht.
Wohlan, ich will entbehren, mäßig fein im Genuſſe deſſen,
was Deine wohlthätige Hand mir Gutes zuſtreuet, mich begnügen,
wenn des Lebens erſte Nothwendigkeiten befriedigt find, gewalt⸗
ſam meine traͤumeriſchen Wünſche unterdrücken, zufrieden fein,
zufrieden machen. Wenn Du dann, o Vergelter, o Vater, meine
Arbeiten ſegneſt, wenn Du mir dann auch Erdengüter zufallen
lläſſeſt, an die ich nicht dachte — dankbar will ich fie von Deiner
Vaterhand empfangen. Du gibſt ſie mir, mein Glück zu ver⸗
mehren, indem Du mich in den Stand ſetzeſt, mehr Zufriedenheit
um mich her zu verbreiten, als ich es jetzt noch vermag. Wenn
wir Nahrung und Kleider haben, ſo laſſet uns genügen, ſprach
Jeſus Chriſtus. Und ich habe noch etwas mehr, als nur dies.
Wie ſollte ich klagen? Warum unzufrieden ſein? — Wenn ich
bisher nicht ganz ſo glücklich war, als ich es ſein konnte: nicht
Deine Schuld war er, o mein unendlich gütiger Vater im Him⸗
mel, ſondern die Schuld meines verkehrten Sinnes, meiner um⸗
herſchweifenden Wünſche, meines Leichtſinns, meiner Leiden⸗
ſchaften. Ich will beſſer werden, jo wird's beſſer fein!
— 220 —
25.
Das Mißfallen am Gegen wärtigen.
Spr. Sal. 20, 14.
Sollt' ich das von Gott nur loben,
Wo auch ich ſchon Weisheit ſeh?
Iſt's nicht ein Geſchenk von oben,
Wenn ich ſeinen Weg verſteh'?
1 Jeder frevelt, welcher klagt,
Daß ihm Gott mehr Licht verſagt.
Hier in meinem Pilgerſtande
Sei mein Theil Zufriedenheit;
Dort in meinem Vaterlande
Wohnt die wahre Seligkeit;
Leere Einbildung zerſtört
Hier oft meines Lebens Werth.
Wandelſt du auf rauhen Wegen,
Meine Seele, klage nicht;
Nur dein Tugendmuth gibt Segen,
Nur dein Gleichmuth wird zum Licht,
Und ich faſſe Gottes Sinn, *
Wenn ich ganz vollendet bin!
Bo ſe, böfe, ſpricht man, wenn man's hat; aber wenn's
weg iſt, ſo rühmet man es dann! (Spr. Sal. 20, 14.) Wer
lieſet dieſe Worte der heiligen Schrift, ohne von der Wahrheit
derſelben tief getroffen zu werden? Jeder hat davon die Er⸗
fahrung an ſich ſelbſt gemacht; und Jeder findet darin zugleich
auch einen Vorwurf gegen die Unbeſtändigkeit ſeiner Urtheile,
gegen die Falſchheit ſeiner Anſichten, die er von mancherlei Dingen
und Begebenheiten ſeines Lebens hatte.
Man möchte es bei verſchiedenen Menſchen faſt für eine wirk—
liche Seelenkrankheit halten, daß fie unablaͤſſig über ihre gegen-
wärtigen Berhältniffe und Umftände klagen. Sie haben beſtaͤndig
Leiden, ungeachtet ſie ſich ſehr wohl zu befinden ſcheinen. Aber
wie heute, ſo hörte man ſie auch ſchon vor Jahr und Tag klagen.
Dies unzufriedene Murren und Seufzen iſt ihnen zur Gewohn—
heit, durch die Gewohnheit zum Bedürfniſſe, durch das Bedürfniß
zu einer gewiſſen Art von Vergnügen geworden. Ihnen wäre
nicht wohl, wenn fie nicht irgendwo etwas zu beſeufzen und an “
— 221 —
ihrer Lage zu tadeln fänden. Ja, es iſt nichts Ungewöhnliches,
daß man eben dieſe Leute jetzt eben jene Tage mit großem Ber-
gnügen noch preiſen hört, als vorzüglich glückliche, in welchen
wir ſie am unzufriedenſten geſehen hatten. Sie gleichen denjenigen
bedauernswürdigen Perſonen, die bei vollen Leibeskräften immer⸗
dar krank in ihren Einbildungen ſind.
Ueberhaupt aber bemerkt man, daß die wenigſten Menſchen
mit ihrem Geiſte in der Gegenwart wohnen, ſondern entweder
ſich mit den Erinnerungen aus der Vergangenheit laben, oder
mit ihren Hoffnungen beſtändig in der Zukunft leben, für welche
ſie nicht müde werden, Pläne zu machen.
Am meiſten hört man von Erwachſenen das Glück ihrer Ver—
gangenheit, die Tage ihrer Kindheit mit wehmüthiger Freude
rühmen. Sie thun dies nicht ſelten in ſolchem Uebermaße, daß
ihnen darüber ihr gegenwärtiger Zuſtand unangenehm wird. Im⸗
mer vergleichen ſie allzugern, was jetzt geſchieht, mit dem, was
ſonſt geſchah, die Freuden von heute mit den Freuden ihrer
frühern Jahre; und das Geweſene wird dabei auf Koſten des
noch Vorhandenen erhoben. — Oft aber iſt ihre eigenfinnige
Vorliebe für die verlornen Freuden doch nur zuletzt eine von all-
zulebhafter Einbildung bewirkte Selbſttäuſchung. Die Einbil-
dungskraft der Menſchen hat aber bei dem, was nahe iſt, wenig
Beichäftigung. Sie ſchwärmt deſto ungebundener in Gegenden
und Zeiten, je entfernter dieſe ſind.
| Mit welcher Sehnſucht, mit welchem Entzücken hört man
nicht zuweilen das Paradies des kindlichen Alters und der ganzen
Jugendzeit rühmen! Selbſt die kindlichen Irrungen und Thor⸗
heiten werden mit Vergnügen noch erwähnt; jedes Spielplatzes,
jedes kleinen Zufalls wird mit Luft gedacht, gleichſam als wäre
die ganze Wonne des menſchlichen Lebens in den engen Raum
jener Entwickelungszeit zufanimengevrängt geweſen.
Und doch iſt Alles, oder das Meiſte davon, nur Betrug un-
ſerer Einbildungskraft, die in der Ferne Alles mit zauberhaftem
Glanz verſchönert. Sehet doch die Kinder um euch her an: ſind
ſie denn in ihrem Paradieſe wirklich fo hochbeklügt und beneidens⸗
würdig? Auch ſie haben ihren Kummer, ihren Schmerz, ihre
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Thränen, ſo vielfach, als Erwachſene. Ihr Leichtſinn, der ſie
manches Unangenehme ſchnell vergeſſen lehrt, führt ſie auch eben
ſo ſchnell wieder zu neuem Leid. Sie zittern bald vor der Strenge
ſie erwartender Strafen, bald vor Uebeln, bei welchen ſie als
Erwachſene nur lächeln würden. Sie lieben ihre Kinderjahre
nicht; ihr höchſter, theuerſter Wunſch iſt, bald erwachſen und
dann unabhängiger zu ſein. Sind ſie zu Jünglingen und Jung⸗
frauen angereift, ſo wird ihr Wunſch nach Unabhängigkeit und
einem eigenen Herde nur lauter. Ihre Leidenſchaften und Ge⸗
müthsbewegungen ſind nur ſtürmiſcher. In keinem Alter, als
im Jugendalter, iſt es dem Menſchen leichter, das Leben gering
zu achten, oder ſterben zu können. So ſtreben ſie, unzufrieden
mit der gegenwärtigen Abhängigkeit von Aeltern und Verwand⸗
ten, unzufrieden mit mancher bittern Täuſchung ihres unerfahr⸗
nen Herzens, oft wirklich elend durch den Ueberreiz ihrer allzu-
lebhaften Empfindungen, nur nach dem Glück und der Ruhe des
maͤnnlichen Alters, deſſen Annehmlichkeiten ihnen wohlthätig
entgegen glänzen, deſſen Sorgen ſie aber nicht ſehen.
Wie wenig das Kindheits- und Jugendleben das beneidens⸗
würdigſte Lebensalter ſei, erhellt wohl daraus, daß ſelbſt die⸗
jenigen, welche es mit ſchwärmeriſcher Beredſamkeit rühmen,
dennoch verſchmähen würden, ganz und in allen Stücken es noch
einmal zu durchleben, wie es war, wenn man ihnen freiſtellte,
es zu konnen.
Viele preiſen die ehemaligen Freunde und Freundinnen, welche
fie nicht mehr haben; aber fie denken nicht mehr daran, wie manch⸗
mal ihnen dieſelben gleichgültig, oft ſogar läſtig geweſen ſind.
Sie werden auch ihre jetzigen Freunde mit Thränen rühmen,
wenn fie von denſelben erſt getrennt ſind.
Viele preiſen die heitere Ruhe, den ſtillen Frieden mancher
Jahre, die vergangen ſind; aber ſie denken nicht mehr daran, wie
oft ihnen dieſe Ruhe doch Langeweile machte, und wie ſehr ſie
ſich damals mißvergnügt oft mehr Thätigkeit oder einen anſehn⸗
lichern Wirkungskreis wünſchten, und wie lebhaft ſie arbeiteten,
um Veränderung zu bewirken.
Viele gedenken noch mit ſeligen Empfindungen der Tage,
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wo ſie in Luſtbarkeiten aller Art ſchwammen; denken aber nicht
mehr daran, wie ſie endlich dennoch oft von denſelben ermüdet
wurden; oder wie ſich höchit unangenehme Ereigniſſe in den
Jubel jener Zeiten einmiſchten, die Alles nur zu ſehr verbitterten;
oder wie fie ſich endlich, hätte das Schickſal nicht früh geändert,
nach einem Wechſel der Dinge geſehnt haben würden, des ſüßen
Einerleis ſatt.
Immerdar trachtet der Sterbliche nach dem Beſſern, und
wenn er dies nicht wüßte, nach etwas Anderm und Neuem,
wäre es auch ſchlimmer. Dies unruhige Streben liegt in der
menſchlichen Natur, es liegt darin von Gott ſelbſt eingepflanzt.
Dies iſt der geheime Sporn, welcher den Menſchen aus der
Trägheit hervorjagt, durch Licht und Nacht, unter mancherlei
Irrungen endlich höhere Wahrheit, höhere Weisheit, Vollkom—
menheit des Geiſtes zu finden.
Daher kommt es, daß, obwohl Viele an den ſchönen Bildern
vergangener Tage hängen, doch noch weit Mehrere den gegen—
wärtigen Augenblick verachten, um desjenigen willen, den ſie
noch erwarten. Der größte Theil der Sterblichen lebt in der
That nie für heute, ſondern für morgen; und iſt morgen erlebt,
fo gehört fein Gedanke ſchon wieder dem folgenden Tage.
Die Gegenwart mißfaͤllt, man ſchwelgt in Hoffnungen, baut
Luftſchlöſſer für die Zukunft, und täuſcht ſich von einem Jahre
zum andern. Man findet das Wirkliche nie fo ſchoͤn, als das
Mögliche, was ſchoͤner fein könnte. Man zertritt, was man hat,
um auf den Ruinen des wirklichen Glückes zu einem Genuſſe
emporzuſteigen, den man nicht kennt, und verachtet das gewiſſe
Gut für das ungewiſſeſte.
Menſchen, welche es endlich in ſich zur Gewohnheit gemacht
haben, immer mit ihrem Geiſte in der Zukunft oder in der Ver⸗
gangenheit zu leben, ſind in der That im Begriff, unglücklich zu
werden. Das Mißfallen an der Gegenwart nimmt überhand;
die Unzufriedenheit ſchlägt in ihrem Herzen unaustilgbare Wur—
zeln. Sie können nie glücklich werden, weil ſie verlernt haben,
eine Gegenwart zu genießen. Sie gleichen dem Wanderer, welcher
vor Durſt verſchmachtet, indem er am Ufer eines hellen Baches
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entlang lauft, und immer eine bequemere Stelle zum Trinken
ſucht, oder die vorübergegangenen bereut, nie aber die —
legenſte gut genug findet.
Wie ſchon geſagt, trägt zu dieſem ſo gemeinen Uebel die be⸗
trügeriſche Einbildungskraft das meiſte bei. Sie ſpielt am lieb⸗
ſten mit dem, was abweſend iſt; denn bei dem, was unſere Sinne
wirklich fühlen, hört alle Einbildung mehr oder weniger auf.
Aus dieſer Urſache kann uns ſelbſt die Erinnerung an überſtan⸗
dene Gefahren aus den Tagen unſerer Vergangenheit noch ein
großes Vergnügen haben, obgleich wir ſie im Ernſte für uns
nicht zurückwünſchen würden.
Sogar die natürliche Schwachheit unſers Gedächtniſſes wirkt
mit dazu, uns die verfloſſenen Zeiten lieblicher darzuſtellen, als
wir ſie wirklich hatten. Denn nur die lebhafteſten Eindrücke,
welche wir empfanden, nur die ſchönſten, lichtvollſten Augen⸗
blicke prägten ſich aus dem verſchwundenen Leben unſerm Ge—
dächtniſſe ein, aber viele Tauſend weniger wichtige Gefühle, Ge-
danken und Vorfälle dazwiſchen ſind vergeſſen und verloren.
Wir hangen alſo mit unſerer Erinnerung nur noch an einzelnen,
theuern Stellen der Vorzeit — alles Uebrige iſt Nacht, und dieſe
erhebt mit ihrem Schatten deſto mehr den Glanz des in dem
Gedächtniſſe gebliebenen Guten.
Zudem ſehen wir in der Gegenwart uns oft in Ereigniſſe
und Schickſale verwickelt, deren Ausgang wir nicht kennen, und
die daher unſer Gemüth mit heimlicher, immer reger Furcht und
Sorge erfüllen. Schon dadurch ſcheint uns die gegenwärtige
Stelle des Lebenslaufes minder ſchön, als das Vergangene.
Aber war dies nicht in der verfloſſenen Zeit ebenfalls ſehr haufig
unſere Lage? Und doch preiſen wir ſie als vorzüglicher. Sehr
natürlich! Was damals uns dunkel ſchien, iſt jetzt hell; der Aus—
gang der Dinge, vor welchem wir damals heimlich bebten, iſt
jetzt aufgeflärt. Wir ſehen jetzt erſt ein, wie gut es war, daß
manche unſerer Wünſche, die damals in uns glühten, unbe—
friedigt blieben: was wir zu jener Zeit gar nicht glaubten. —
Jetzt leiden wir von der gleichen Noth. Es mipfällt uns die
gegenwärtige Lage, weil wir darin noch ſo manchen friſchen
— 225 —
Schmerz leiden, noch ſo manche Furcht über das Gelingen oder
Mißlingen unſerer Wünſche haben. Aber Geduld! es wird wie—
der für uns ein Tag kommen, wo wir die heutigen Räthſel alle
wiederum herrlich durch die Hand der göttlichen Vorſehung gelöfet
ſehen werden.
Rühme darum Niemand mehr mit Uebertreibung die Tage
verfloſſener Jahre; und verachte darüber den Genuß der Gegen⸗
wart. Es werden Zeiten kommen, wo wir uns auch des heutigen
Tages als eines ſchöͤnen rühmen. So preiſen wir und lieben wir
erſt innig einen Todten, den wir während ſeines Lebens nicht
ſelten gleichgültig behandelten.
Eben die Einbildungen, welche unſere Vergangenheit ver—
ſchönern, ſchmücken täuſchend auch unſere Zukunft mit den ge⸗
faͤlligſten Farben. Die Hoffnung zeigt uns im Hintergrund der
bevorſtehenden Tage immer prangende Roſen; aber deren Dornen
erkennen wir noch nicht in ſolcher Ferne.
Sollten wir, durch zahlloſe Erfahrungen belehrt, nicht end⸗
lich weiſer werden, und uns überzeugen konnen, daß die zu—
künftigen Jahre ſelten fo reizend find, als wir fie uns traͤumten?
Sollten wir nicht endlich wiſſen, daß Gottes Vaterhuld und
Weisheit jedem Tag, jedem Alter, jedem Stande, jedem Ge—
ſchlechte ſeine beſondern Freuden und Leiden zugemeſſen habe?
Sollten wir nicht endlich wiſſen, daß es die beſte Lebensweisheit
ſei, des Tages mit Dank und Freude herzlich zu genießen, den
der ewige Vater uns gab, unbekümmert und ohne peinigende
Sehnſucht wegen des folgenden, von dem wir keine Burgſchaft
haben, was er neben dem Guten auch Böfes bringen werde? —
Wie thöricht iſt dies Mißfallen an dem, was wir wirklich haben,
leben und find! Wie thöricht unſer Vergöttern deſſen, was ver⸗
loren iſt, oder deſſen, was kommen ſoll!
Das Mißfallen und die Klage über das Gegenwaͤrtige iſt aber
nicht immer eine bloße Folge unſerer allzugefchäftigen Ein⸗
bildungskraft, ſondern wohl auch eine Wirkung von verſchiedenen
in uns wohnenden Fehlern anderer Art! — Warum ſind wir
| heute nicht ſo glücklich, als wir es den äußern Umſtänden nach
ſein könnten? — Vielleicht weil wir weniger chriſtlich weiſe,
— 226 —
weniger tugendhaft in unſerm Wandel, weniger ergeben und
zuverſichtvoll auf die Führungen Gottes ſind.
Glaubſt du, in den kommenden Tagen, wenn etwa dieſer
oder jener deiner Wünſche erfüllt, oder dieſes oder jenes Ziel
deines Strebens erreicht iſt, werdeſt du froher athmen und des
Lebens dich recht erfreuen können? Kurzſichtiger, du ſiehſt dich
in der ſchön geträumten Zukunft zwar von manchen Beſchwerden
frei, die dich heute drücken; denkſt aber nicht daran, daß deine
Fehler dir auch dort neue Beſchwerden und verdrießliche Ereig⸗
niſſe herbeiführen! — Du biſt es, der ſein Elend, wie an der
Kette befeſtigt, uberall mit hinnimmt. Du biſt es, der den Himmel
zerſtört, der dich gern überall empfangen möchte.
Warum beweineſt du das verlorne Glück, welches deine
Thränen nicht wieder zurückkaufen? Warum vergiſſeſt du die
heutige Gabe über die, die dir entriſſen ward? Warum die noch
lebenden Freunde über die verſtorbenen? Du ſprichſt: kann ich
Herr meines Schmerzes ſein? Ich ſage, du kannſt es ſein, du
ſollſt es ſein, und deine unchriſtliche Schwachheit abthun. Du
ſollſt es, denn deine Geſundheit, das Glück der Deinigen fordern
es, Religion und Gott gebieten es.
Warum verſchmäheſt du die Gegenwart um die Hoffnungen,
die dir eine ungewiſſe Zukunft vorſpiegeln! — Du willſt glück⸗
licher werden? Wohlan, warum willſt du das erſt in Tagen
ſein, von denen du nicht ſicher biſt, ob du ſie erleben wirſt, und
warum willſt du es nicht eben ſo gut ſchon heute werden, wo
du deines Daſeins gewiß biſt?
Was hindert dich an deiner Zufriedenheit, an deiner Ruhe? —
O prüfe Alles genau, deine äußerlichen Umftände, deine Ver⸗
hältniſſe mit Freunden und Bekannten, deine gegenwärtigen Ge—
ſchäfte und Pflichten; prüfe aber auch dein Inneres, deine Auf—
führung, die Art und Weiſe, wie du dich gegen deine Hausge—
noſſen, gegen Verwandte, gegen Widerſacher, gegen dich ſelbſt
beträgſt — — prüfe Alles genau, und du wirft Dich, vielleicht
gegen deinen Willen, lebhaft überzeugen, daß das Ungemach
deines Zuſtandes zum Theil in deinen Einbildungen, zum Theil
in der Unmäßigkeit und Ungeduld deiner geheimen Wünſche,
1
zum Theil in der Fehlerhaftigkeit deines Lebenswandels gegründet
iſt. Du wirſt dich, vielleicht wider deinen Willen, überzeugen
können, dur fönnteft weit angenehmer, heiterer leben, weit glück
licher ſein, wenn du anders ſein könnteſt, als du biſt.
Und warum, wenn um dieſen Preis ein Erdenleben voll
ſtiller Seligkeit, eine Gegenwart voll ſchönen Genuſſes zu er—
kaufen iſt, willſt du nicht anders werden? Dein Hausweſen, iſt
es zerrüttet durch eigene oder fremde Schuld, warum verſchaffſt
du dir von dem wahren Zuſtande deines Vermögens nicht eine
klare Anſicht? Warum haſt du nicht Muth, dich durch Ein—
ſchränkung aller Art und verdoppelten Fleiß zu retten? — Und
wenn es dennoch auf dieſe Art unmöglich ſein ſollte, wenn dich
die Sorge um manche Schuldenlaſt zu Boden drückt: wohlan,
rechne, Haushalter, mit deinen Gläubigern! Habe den Muth,
arm zu ſein, aber ehrlich. Gib deinen falſchen Wohlſtand auf,
aber rette dein reines, ſchuldenfreies Gewiſſen vor Gott und den
Menſchen. Gott wird nicht dich, nicht die Deinigen verlaſſen.
Du haſt Gegner, deren Schadenfreude dein Glück überall zu
ſtören ſucht? — Was hat fie denn zu deinen Feinden gemacht?
Dein ſpröder Stolz, dein unkluger Eigenſinn, dein unnachgiebiges
Weſen, deine Unfreundlichkeit, dein vielleicht im Uebermuth gegen
ſie geäußerter Spott, deine gehäſſigen Bemerkungen über ſie, oder
die Zweideutigkeit deines Benehmens in manchen Fällen, wo—
durch du ihr Vertrauen einbüßteſt. So gehe denn hin, beſiege
deine Feinde durch ein vorſichtigeres, edelmuͤthigeres Betragen,
durch heuchelloſe Dienſte der Freundſchaft, und ſie werden auf—
hören, dich zu fliehen oder zu kränken. Gehe hin, beſiege deinen
eigenen Trotz und Stolz, und du wirſt den Trotz und Stolz
deiner Widerſacher bezähmen.
Oder biſt du in deinen häuslichen Verhältniſſen nicht glück⸗
lich; harte Verwandte, laſterhafte Freunde, ungerathene Kinder,
zwietrachtvolle Ehe verbittern deine Tage? — Wohlan, wenn du
hier nichts ändern kannſt, ſo erhebe dich mit Chriſtenmuth in
deiner Stärke, faſſe deinen Entſchluß für die ganze Zukunft, ſei
du ſelbſt ſtreng, edel, klug, gerecht, und laß dich das nicht mehr
in deiner Gemüthsruhe ſtören, was du zu ändern unfähig ge⸗
— 228 —
worden biſt. Aber durch dein feſtes, edles, gleichmüthiges und
beſonnenes Betragen flöße denen, die dich jetzt quälen, wenigſtens
Achtung und Ehrfurcht für dich ein. Sie werden endlich ſcheu
werden, dich zu betrüben, und dieſe Scheu iſt der erſte Schritt
zu ihrer eigenen Beſſerung.
So iſt kein Uebel der Gegenwart, welches der chriſtliche
Weiſe mit erhabenem Vertrauen auf die Macht der Tugend und
auf die Vaterhand Gottes nicht endlich überwinden, oder wohl
gar in ein Gutes verwandeln könnte. Wer da verzweifelt an
Rettung, der hat noch nicht die Tugend in ihrer Kraft erkannt,
noch, nicht die Religion in ihrer beſeligenden Macht, noch nicht
die Vorſehung in ihrer bewundernswürdigen Weisheit. Und
wer ſie nicht erkennen, nicht den Muth haben will, ſich alſo zu
erheben, der verdient unterzugehen. Er macht ſich keiner Rettung
werth. ö ö
Es iſt keine Lage im menſchlichen Leben ſo ganz traurig und
hoffnungslos, daß nicht auch neben dem Uebel, fo wir darin er⸗
blicken, ein Gutes hingeſtreut wäre durch Gottes väterliche Für—
ſorge. Lernen wir nur immer dieſes Gute ſuchen und auffinden!
Gewöhnen wir uns nur, und ſollte es anfangs auch mühſam
ſein, allen Dingen, die uns umgeben, die beſſere Seite abzuge—
winnen; ſo wird uns der Anblick derſelben beſtändig froh machen.
Suche alle Vortheile und Annehmlichkeiten deines gegenwärtigen
Zuſtandes auf, habe nur ſie vorzüglich im Auge, und du wirſt
deine Lage liebgewinnen lernen und preiſen. Suche an deinen
Freunden, ja noch mehr, ſuche an denen, die dir ſogar zuwider
ſind, die guten, lobenswürdigen Eigenſchaften auf, die ſie zieren —
und jeder Menſch, ſelbſt der verdorbenſte, hat dergleichen! —
und du wirſt aufhören, manche Perſonen zu haſſen, und viele
Feindſchaften werden enden, die jetzt dein Leben trübe machen
konnen. 5
Entferne unter allen deinen Leidenſchaften und eigenthüm—
lichen Neigungen zuerſt die gehaſſigen, bittern, unfriedlichen.
Verwandle aus Grundſätzen deine mürriſche Lanne in freundliches
Schweigen, dein jähzorniges Auffahren in ſtillen, feſten Gleich-
muth, deine Klageſucht in unſchuldiges Scherzen; gewöhr“ dich,
— 229 —
zu lächeln bei dem, was dich ſonſt zum Unmuth ſtimmte: und
du wirſt auf die Vergangenheit mit ruhigem Wohlgefallen, auf
die Zukunft mit einem Blick ohne Furcht und ohne Sehnſucht
ſehen. Du wirſt die Gegenwart lieben und genießen: mit
einem Worte, du wirſt erſt dann wahrhaft leben, und dich
deines Daſeins und des erhabenen Gebers aller guten und voll⸗
kommenen Gaben erfreuen können.
A* 26.
Stilles Glück.
A p. Geſch. 1, 14.
Laß in meines Herzens Gründen
— Mich die heil'ge Stille finden,
10 Die der Quell der Wonne iſt,
Und worin beim Weltgewühle
Aller Leidenſchaften Spiele
Gern der reine Geiſt vergißt.
Wer iſt's, der nicht das ſtille Häusliche Glück des Leben das
beneidenswürdigſte Gut nennt? — Dafür legten Feldherren
freudig ihr Schwert und ihre Lorbeerkränze nieder; dafür ſtiegen
Fürſten von ihren Thronen, und wer im Gewühl der öffentlichen
Geſchäfte ehrenvoll glänzte, ſuchte die Einſamkeit auf.
Und Jedem, der nur Sinn dafür hat, liegt das Glück offen
und bereit. Dies zit erobern bedarf es keiner Heere, keiner Tonnen
Goldes, keines Ruhmes, keiner Würde, keiner hohen Gelehrſam⸗
keit. Ein einfaches, anſpruchloſes Gemüth, weiſe genug, den
Schein vom Weſen, das Falſche vom Aechten zu unterſcheiden,
findet es in ſich, findet es in ſeinem hausgenöſſiſchen Kreiſe.
O ihr Sterblichen, wie wenig habet ihr zu euerm Glück von⸗
nöthen, und wie ſelten beſitzet ihr's! Es koſtet euch nur die Mühe,
eine Hand darnach auszuſtrecken, und — ihr rennet vergebens
darnach die lange Lebensbahn hinab, wie Blinde, und ſuchet in
der Ferne, was euch ſo nahe geboten worden iſt.
Stilles Glück beſteht im zufriedenen Genuſſe deſſen, was
uns das Schickſal gab, und in der Heiterkeit eines guten Herzens.
— 230 —
Stilles Glück hat ſeine Quellen nirgends, als in unſerer eigenen
Bruſt: es iſt daher unabhängig vom Wohl- oder Uebelwollen
anderer Menſchen, in fo fern wir nur ſelbſt uns nicht durch
mancherlei Begierden von ihnen abhängiger machen, als wir ſein
ſollen. Stilles Glück bereitet ſich in einem genügſamen, geſun⸗
den, fröhlichen Herzen, durch einen einfachen, geſunden, richtig
blickenden Verſtand.
Geräuſchvolles Glück iſt kein wahres Glück — denn
wir finden es nicht in uns, nicht in dem Geſchmack und in der
heitern Anordnung deſſen, was uns zunächſt umgibt, ſondern in
dem Aufſehen, welches es bei den Leuten erregt. Wir geben es
uns nicht ſelbſt, wir empfangen es erſt durch die Meinung oder
durch den Beiſtand von Andern. Wir tragen es nicht unerſchütter⸗
lich mit uns in unſern Grundſätzen, ſondern wir können es jeden
Tag verlieren durch Umſtände und Veränderlichkeit des Menſchen⸗
ſinnes, von welchen wir uns abhängig machten.
Es kann geraͤuſchvolles Glück uns einen Tag lang berauſchen,
entzücken, nicht anhaltend beſeligen. Luſtbarkeiten aller Art
können, jo lange fie dauern, vergnügen; aber Ckel folgt dem
übermäßigen Genuſſe, und Leere zieht hintennach, wenn fie vor⸗
über find. Ruhm und Ehre können eine Zeit lang unſerer Eitel-
keit ſchmeicheln. Aber balb wird man ihrer gewohnt werden;
dann ergötzen ſie nicht mehr. Die Zeit ſtreift alle Roſen davon,
und läßt nur die Dornen zurück. Wir empfinden nur die
Läſterungen des Neides, des Grolles, der Nebenbuhlerei, und
der Verdruß währt länger, als die erſte Luſt.
Geraͤuſchvolles Glück hat jederzeit ſeine Nachwehen.
Denn im Getümmel äußerer Freuden vergißt man nur zu oft
ſich ſelbſt, vergißt die Vorſätze der Klugheit; öffnet mancher Un⸗
beſonnenheit das Herz, und überläßt ſich mancher Begierde, die
man nachher bereut. Der uns dargebotene Becher der Luſt be—
rührt ſüß die Lippen, aber die Hefen ſind bitter. Ach, wer hat
dies im Leben noch nicht erfahren? Und wie kommt es, daß der
Menſch, nachdem er fo oft und grauſam getäufcht worden, ſchwach
genug iſt, den Taumel zu wiederholen, der ihm nur Schmerzen
hinterlaſſen hatte?
. u Be
Geräuſchvolles Glück macht uns mit unfern beiten
Freunden fremd, und gewöhnt uns, die Menſchen überhaupt
nur als Werkzeug und Mittel unſerer Vergnügungen anzuſehen.
Man hat in ihnen keine Freunde, nur Geſellſchafter; keine Ver⸗
trauten, nur Mitgenoſſen. Nehmt vielen Reichen ihr Vermögen,
vielen Großen ihre Würden, vielen Schlemmern ihre Tafel, und
ſehet, wo bleibt der Schwarm ihrer Bewunderer, der jetzt noch
ihre Thürſchwellen belagert? Man liebt nicht, was ſie ſind, ſon⸗
dern das, was ſie haben; nicht ihr Herz, nicht ihren Verſtand,
ſondern ihr Geld, ihr Amt. Und wie mag ein Sterblicher ſich
des ächten Glückes rühmen, den Keiner um ſeines Selbſtes willen
ehrt, den Keiner mit Innigkeit liebt?
Geräuſchvolles Glück macht uns mit uns ſelbſt
fremd. Wir leben mehr außer uns, als in uns und mit uns.
Wir ſind ſo arm, daß wir ſelbſt uns nicht mehr genug ſind,
ſondern froh ſind, wenn wir Andere finden, mit denen wir um⸗
gehen können. Wir leben nicht in uns, ſondern in dem Tand,
in den Spielen, in den Meinungen, die uns von außen um⸗
gaukeln. Ein Wechſel des Schickſals, ein Umſchwung unſerer
Verhältniſſe, ein Verluſt unſerer Ehrenſtellen, ein Verſchwinden
unſers Wohlſtandes — und unſer ganzes von Außendingen ab⸗
hängiges Glück iſt dahin, nein, wir ſelbſt ſind vernichtet, wir
gelten Andern nichts mehr, und uns ſelbſt nichts. Daher erklärt
ſich die wahnſinnige Verzweiflung vieler Selbſtmörder, die, weil
ſie ihren alten Einfluß und Glanz, oder ihr Vermögen verloren
hatten, ſich ſelbſt für unwerth hielten, läuger zu leben.
Geräuſchvolles äußeres Glück mag ein behaglicher Sinnen⸗
kitzel, ein Taumel, eine Luſtbarkeit, Zerſtreuung ſein — aber
wahrlich, es iſt kein Glück.
Wahres Glück blüht nur in der Stille häuslichen Lebens,
wo wir vielleicht minder ſogenannte Genüſſe haben, aber deſto
innigere und dauerhaftere; wo uns weniger Schmeichler umrin⸗
gen, aber dafür Freunde, die an Wohl und Weh Theil nehmen,
wie es uns begegnet; wo man ſich nicht vor uns heuchleriſch
beugt, und unſerm Gelde, unſerm Stande falſche Verehrungen
zollt, ſtatt deſſen mit Zärtlichkeit an unſerm Herzen hängt und
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ihm treue Liebe gibt; wo wir nie einſam ſind, weil wir uns ſelbſt
genug ſein können; nie verlaſſen werden, weil unſer Gemüth ſich
ſelbſt nicht treulos wird.
Es iſt das ſtille Glück des häuslichen Lebens darum das be⸗
neidenswürdigſte, weil es dasjenige iſt, was wir ununterbrochen
am längſten genießen können. Geräuſchvolles Vergnügen, welches
vom guten Willen der Umſtände herſtammt, verſchwindet mit ihnen,
und iſt nur ein fremder Gaſt, der uns mit Höflichkeiten über—
ſchüttet, aber kein bleibender Hausfreund, der da ſpricht: Wo
fehlts? Kann ich helfen?
Stilles Glück iſt das theuerſte, weil es nicht erkauft, ſondern
nur durch eigene Kraft und Seelengüte in der Eingezogenheit be—
reitet wird. Da ruht es verborgen, wie die Perle in der Muſchel
des Meeresgrundes; es bleibt von Läſterungen unangefochten,
und wird vom Neid nicht verfolgt, weil es feinen Blicken unbe⸗
kannt blüht. 3
Stilles Glück iſt das edelſte, denn du verlierſt dich nicht ſelbſt,
wie in geräuſchvollen Freuden, ſondern du gewinnſt dich; du ges
hörſt dir ſelbſt an; du wirft in dir ftärfer, kräftiger, unabhaͤn⸗
giger, weiſer; es erhebt dich über die Thorheiten des gewöhnlichen
Lebens, deren Stacheln dich nie verletzen können, und gewährt
dir harmloſe Stunden, ſchuldloſe Ergötzungen, ohne Reue und
wehen.
Willſt du dieſes — wie leicht iſt es zu empfangen! Dein
Wollen reicht hin, es in Beſitz zu nehmen. Beſchränke dich
genügſam auf den Genuß deſſen, was du durch eigene
Kraft dir gewinnen kannſt, ohne es der Gunſt Anderer
danken zu müſſen.
Das iſt das weſentlichſte Mittel, ſo reich zu werden, daß du
einer ganzen Welt entbehren kannſt. Was dir dann noch von
Zeit zu Zeit von außen zufällt — nimm die Freuden mit, aber
rechne ſie nicht zu den wahren Geſpielen deines Herzens. Nur
was du dir gibft, dies iſt die wahre Freude; alles Andere iſt
flüchtiges, oft theuer verzinſetes Darlehn. Sei genügſam mit
dem, was du haft, aber nie mit dem, was du biſt. Sei genüg—
ſam mit deinem Vermögen, mit deinem Stande, deinem Anſehen;
— 1
aber begnüge dich nie damit, nur ſo gut, ſo beſcheiden, ſo redlich,
ſo arbeitſam, ſo wohlwollend zu ſein, als du jetzt biſt. Je edler
du in und außer dem Hauſe handelſt, je zufriedener wird dein
Herz mit ſich ſelbſt ſein; je zufriedener ſiehſt du auf die Welt
hin; je heiterer blickſt du in den Himmel, je unerſchrockener und
beherzter in die Zukunft — je freudiger ſprichſt du auch in einer
ſtillen, heiligen Stunde mit deinem Gott.
Und dieſen milden Sinn des Friedens, der Genügſamkeit und
einfacher Freuden — verbreite ihn über deine Hausgenoſſen ins-
geſammt! — Wäre auch einmal deine Laune trübe, lächle ihnen
zu. Kein finſterer, mürriſcher Blick, kein hartes, rauhes Wort,
keine kränkende, bittere Anſpielung! Gehe ihnen mit deinem
Beiſpiel voran; ſie können nicht anders, ſie werden dich ſchaͤtzen
müſſen. Der Himmel iſt da, den du wollteſt; und da waltet gern
der Segen des Herru.
Ziehe die ſtille Eingezogenheit des häuslichen Le—
bens dem Getümmel fremdartiger Luſtbarkeiten und
Zerſtreuungen vor. Erſt dann biſt du wahrhaft in deiner Woh—
nung einheimiſch, und nicht ein beſuchender Fremdling darin.
Je weniger du dich eng mit vielerlei Menſchen und Verhältniſſen
einläſſeſt und verknüpfeſt, je weniger Sorgen, Beleidigungen,
Kränkungen, falſche Beurtheilungen und andere Gehäſſigkeiten
haſt du zu befürchten; je beſſer kannſt du Alles, worauf du dich
beſchränkſt, überſehen und verrichten; je herzlicher wirſt du deinen
Freunden angehören; je ungetheilter werden auch fie dir ihre Liebe
bringen. — Darin fehlen die meiſten Menſchen, daß ſie ſelten ſo
glücklich ſind, als ſie es zu ſein verdienen, indem ſie mehr über—
nehmen, als ſie Kraft haben zu leiſten; mehr anfangen, als ſie
vollenden konnen. Sie leben für allzuviel Dinge zu gleicher Zeit,
und leben daher keinem ganz und mit voller Seele. Daher ent-
ſpringt dann Unzufriedenheit mit ſich ſelbſt, und gerechter Tadel
oft von Andern.
Mache deine Verhältniſſe, in welchen du mit An—
dern lebſt, fo einfach als möglich. Je beſſer du dieſelben
überblickſt, je mehr wirſt du ihnen leiſten. Gib allen Menſchen,
wie Du es vermagſt, deine Hilfe; nicht allen deinen Umgang,
— 231 —
noch weniger dein Vertrauen. Je eingezogener und unbekannter
du lebſt, je weniger haſt du von den Quälereien und ſchaden⸗
frohen Launen der Unedeln zu beſorgen.
Fürchte nicht, daß dich die Einförmigkeit des ſtillen häus⸗
lichen Lebens endlich ermüde; — geſchieht es aber, ſo haſt du die
Kunſt zu leben noch nicht gelernt! obgleich vielleicht ſchon die
Hälfte deiner Tage verfloſſen. Suche an Allem, was dich zu⸗
naͤchſt berührt, die anmuthige Seite auf: ſuche Anmuth über
Alles zu verbreiten, was in deinem häuslichen Kreiſe
daſteht und geſchieht, und erinnere dich, wie vielen Verdrieß⸗
lichkeiten du in deiner Eingezogenheit entronnen biſt, während
andere Menſchen ihr Daſein nur damit hinbringen, ſich gegen⸗
ſeitig zu ärgern und zu peinigen. |
Wie wenig bedarf es, dem Genügſamen, fein Hab und Gut
ſchön und behaglich zu finden; wie wenig, um durch Kleinig⸗
keiten ſeine Freuden vermehrt zu ſehen! Die rührendſten, tief—
ſten aller Freuden ſind aber immer die Früchte unſerer
nützlichen Thätigkeit. In dem, was du gethan und gearbeitet
haſt, ſpiegelt ſich die Kraft deiner Seele ab. Je mehr du die
Früchte deines Fleißes ſiehſt, je mehr Achtung gewinnſt du für
dich ſelbſt. Wo wohnſt du ſchöner, als in deinen Schöpfungen?
Gott ſelbſt iſt ſelig in ſeinen Werken. Die einzelne Blume, welche
du im Geſchirr am winterlichen Fenſter erziehſt, während draußen
Stürme, Schneeflocken und Regenſchauer vorübertreiben, erfreut
dich inniger, als eine ganze Wieſe voller Blumen, die ohne dein
Zuthun prangt und nicht dein Eigenthum heißt.
Spare dir immer eine kleine Freude, eine Hoffnung
für den folgenden Tag auf, die deine Gedanken angenehm
bejchäftigt: fo wirft du jeden neuen Morgen fröhlich und erwar-
tungsvoll begrüßen. Du wirſt nie einſam ſein; du wirſt nie die
geräuſchvollen und dornenreichen Luſtbarkeiten der übrigen Welt
vermiſſen; du wirſt den Tag ſegnen, da du dich entſchloſſen, ge—
nügſam zu fein mit Wenigem, thätig zu fein in Vielem; Freund
und Vertrauter zu ſein Wenigen, aber Bruder und Beiſtand zu
ſein Vielen. Du wirſt die geheime Kraft zu leben ergründet
— 235 —
haben, und in dem ſtillen Glück dein Höchftes finden. Du wirft
unabhängig von der Welt dir ſelbſt gehören und Gott.
Was wäre Glück, ohne Gott? Wer könnte in ſich ſelig fein,
ohne frohen Hinblick auf den erhabenen Lenker unſerer Schick—
ſale, auf den Beherrſcher der Ewigkeit? — das Bewußtſein, durch
redliche Erfüllung aller Pflichten Gottes Beifall zu haben; in
Gott einen ewigen Freund und Beſchirmer zu haben, iſt es, was
das ſtille Glück des häuslichen Lebens krönt. Denn auch in
uuſerer Anſpruchloſigkeit, in unſerer Eingezogenheit können uns
Unfälle treffen, die unſer Wohlſein erſchüttern. Es iſt ja irdiſch,
das heißt, vergänglich! — Auch im kleinſten der häuslichen
Kreiſe find ſchmerzhafte Veränderungen möglich. Aber ein Geiſt,
der mit Gott innig vertraut und verwandt iſt, ſichert damit auch
gegen die furchtbarſten Stürme den Frieden des Gemüths. Er
kann Vieles verlieren — aber ſeinen Gott, ſeinen Vater nicht.
Und wer ihn hat, der hat nichts verloren.
Ohhne Dich, mein Vater im Himmel, Vater der Meinigen,
| Vater der Welt, iſt alles Erdenglück gefährliche Selbſttäuſchung
und Traum. Nur in Dir, mit Dir, durch Dich iſt eine wahr-
hafte Seligkeit möglich. Darum halte ich feſt an Dir. Und wenn
mich Alles verläßt, Du willſt mich nicht verlaſſen.
. Darum will ich auch alle Lebensfreuden als nichts Anderes,
denn als Geſchenk von Dir genießen; meine Geliebten nur als
Begleiter meines Lebens betrachten, die du mir auf längere oder
kürzere Zeit gabſt. Vielleicht rufſt Du ſie aus meinen Armen
früh zurück; zwar die Thräne meiner Liebe und Sehnſucht wird
ihnen folgen — aber ſie eilten nur zu Dir, Vater unſer Aller!
Einſt empfange ich ſie wieder. Du trennſt die Seelen nicht, die
Du verbandeſt. Was bei Dir im Ewigen wohnt, iſt mir nie
entriſſen.
4
27.
Die Gaben des Glücks.
1. Petri 4, 10.
Nicht um Reichthum „nicht um Ehre,
Bitt ich, Gott, mein Vater, Dich.
Wenn ich Weltbeſitzer wäre,
Ohne Gott, wie arm wär ich!
Weisheit nur, Dich zu erkennen,
Gib mir, und ein frommes Herz,
Das Dich kindlich Vater nennen
Darf in Freuden und in Schmerz:
Kraft und Muth in bangen Stunden,
Demuth in des Glückes Schoos,
Mitgefühl bei Freundeswunden —
Wer dies hat, iſt reich und groß!
Warum theilte die göttliche Vorſehung auch ihre irdiſchen Ge
ſchenke fo ungleich aus? Warum mußten die größten Glücksgüt
oft in der Hand des Unwürdigſten liegen? Warum fehlte es
oft der tugendhafteſten Familie an ihren nothwendigſten Mitteln
Warum muß der Weiſe und Einſichtsvolle vielmal in Dürftigke
ſchmachten, im Dunkeln leben? Warum kann der unwiſſend
Thor, der unnütze Müßiggänger in Herrlichkeit und Glanz woh
nen, und die höchſten Ehrenämter bekleiden? — Warum hat de
Himmel ſo oft den guten Willen des Menſchenfreundes ohr
Kraft gelaſſen? Warum warf er die ſchönſten Gaben und Güte
ſo oft in die Hand des ungerechten Böſewichts? Welch ein Him
mel würde die Erde fein können, wenn die Tugend, die Frömmig
keit, die Weisheit auch ſchon hienieden mit der möglichiten en
ſeligkeit vereint wäre!
Solche Fragen thut der Sterbliche oft, wenn er das Saft
auf dem Throne, die Tugend im Staube der Niedrigkeit erblick
Solche Fragen wiederholt noch öfter der Menſch, wenn er in eine
Anwandlung von Unzufriedenheit ſein Schickſal, ſein Vermögen
ſeinen Stand mit der Lage anderer Perſonen vergleicht, von dene
er überzeugt iſt, daß fie ihn weder an Güte des Herzens, noch a
Eigenſchaften des Geiſtes übertreffen. Er klagt mit dieſen Fra
gen, oft ohne es zu wollen, die Weisheit der Vorſehung an, ode
*
=: 2
|
beſeufzt wenigſtens, daß fie ihn nicht fo ſehr, denn viele Andere,
begünſtigt habe.
Aber iſt denn die Vorſehung in Vertheilung ihrer Glücks⸗
gaben wirklich ſo ganz ungerecht geweſen? Wer iſt denn auf Erden
ſo ſehr ihr Liebling, ihr vor allen Andern Begünſtigter, den du
vorzugsweiſe beneiden könnteſt?
Sammle dein Gemüth; prüfe einmal die Werke der Vor⸗
ſehung mit Aufmerkſamkeit und Ernſt, in ſo weit das Auge des
kurzſichtigen Menſchen fähig iſt, die Weltregierung zu über—
ſchauen. — Eine jede ernſte Betrachtung derſelben wird dich von
deiner Ungerechtigkeit überführen; wird dich überzeugen, daß nicht
deine beſſere Vernunft, ſondern deine Habſucht, dein Ehrgeiz,
dein Hang zum Wohlleben aus dir ſprachen; wird dich mit den
Anordnungen der göttlichen Weisheit ausfühnen.
Dau beſchwerſt dich unzufrieden über die ungleiche Vertheilung
der irdiſchen Glücksgüter? Das heißt, du beflagft dich am Ende
nur, daß dir nicht ſo viel Vermögen, Wohlſtand und Anſehen
zu Theil geworden ſei, als Andern, die davon mehr als du be-
ſitzen. Es iſt nicht dein Erbarmen mit Andern, die viel ärmer
ind als du: es iſt dein Neid gegen Vermögendere, welcher dir die
große, ſchöne und zur Veredlung des Menſchengeſchlechts höchſt
wohlthätige Mannigfaltigkeit der Stände und Schickſale; du ſelbſt
w ürdeſt nicht in einem Lande oder in einer Welt leben mögen,
wo dir an Talent, Vermögen und Anſehen Alle gleich wären;
wo Keiner des Andern nöthig hätte; wo Keiner fein Talent, Ver⸗
mögen und Anſehen erweitern könnte; wo Alles im ewigen Einerlei
uhen müßte, nicht vorwärts rückte; wo ſich Niemand um dich
bekümmern möchte, weil Alle ſo unabhängig von dir ſind, als
du von ihnen biſt. |
Wenn du dann alſo nur der Vorſehung deinetwillen Bor-
vürfe über die ungleiche Vertheilung der Erdengüter machſt:
warum willſt du derer vergeſſen, die noch nicht ſo viel davon
haben, als du ſchon beſitzeſt? die vielleicht des Glücks ſo würdig
und noch würdiger find, als du? Soll die Weltordnung ſich denn
ilſo verkehren, deiner kleinlichen Eitelkeit recht wohl zu thun?
Klage auspreßt. Du ſelbſt würdeſt ſie nicht zerſtören wollen, die
— 298 —
Deine Forderungen waren die Forderungen eines frechen Ueber⸗
muthes, eines Wahnſinnes aus Selbſtſucht; Menſchen würden,
wenn du ſie laut äußerteſt, fie und dich verachten; glaubſt du,
der Allweiſeſte ſoll ſeine Allmacht zur Dienerin deiner Thorheiten
machen? |
Du ſprichſt: Aber warum mußten auch die irdiſchen Glücks⸗
güter oft in der Hand des Unwürdigſten liegen? — Wen nennſt
du den Unwürdigſten? Denjenigen, welcher von den ihm verlie⸗
henen Gaben keinen nützlichen Gebrauch zu machen verſteht. Biſt
du aber zuletzt der unparteiiſche und wohlwiſſende Richter deſſen,
den du den Unwürdigſten nennſt? Biſt du der Eingeweihte in die
Geheimniſſe der großen Weltordnung, daß du den Vortheil und
Schaden dieſer Einrichtungen genau zu beſtimmen vermagſt? Wer
iſt dir Bürge dafür, daß Millionen andere Menſchen mit den
ihnen verliehenen Glücksgütern edler handeln, als Derjenige, den
du verdammſt? Du bemerkſt nur dieſen Einzigen, weil ſein An⸗
ſehen, ſeine Macht, ſein Reichthum dich blenden; aber du kennſt
das Thun und Laſſen jener Millionen nicht, weil ihr Wirkungs⸗
kreis viel kleiner iſt. Biſt du dir ſelbſt Bürge, daß du unter an⸗
dern Verhältniſſen eben fo denken, fo handeln würdeſt, wie jetzt
in deiner beſchränkten Lage? Wie oft haft du nicht, je nachdem
ſich nur im Kleinen deine Umſtaͤnde änderten, deine Sprache und
dein Betragen, oft ſogar deine Abſichten und Grundſaͤtze verän⸗
dert? Wie oft erging es dir nicht wie dem Jünger Jeſu, der erſt
in der Begeiſterung der Freundſchaft ſchwur, für den göttlichen
Lehrer hundertmal das Leben zu laſſen, und ihn nachher in der
Stunde der Angſt dreimal verläugnete, ehe der Hahn zweimal
kraͤhte. — Richte nicht, fo wirft du nicht wieder gerichtet! Bere
damme nicht den Mann, der unter andern Verhältniſſen, mit an-
derer Erziehung, mit andern Anſichten und Leidenſchaften anders
handelt, als du. Hätte, ſtatt deiner Mutter, dich eine Fuͤrſtin ges
ſaͤugt; hätte dich, ſtatt des ſchlichten Gewandes, ein Purpur be⸗
kleidet; wäre dein Stuhl ein Thron, dein Freund ein ſchmeichelnder,
aus Heuchelei und Eigennutz dich vergötternder Höfling geweſen:
kannſt du wiſſen, was du dann wäreft? |
Und wie? bift du auch in deinen eingeſchraͤnkten Glücksum⸗
* oe mm nn
<a
— 239 —
ſtänden der Würdigſte, fie zu genießen? Kannſt du ſagen, von
ihnen jederzeit den weiſeſten Gebrauch gemacht zu haben? O wie
viel Andere, die nicht das beſitzen, deſſen du dich rühmen kannſt,
würden damit edler, wohlthätiger, gemeinnütziger für die Welt
geweſen ſein! Warum verdammſt du nun Andere, und dich nicht
zuvor?
Du ſprichſt: Warum ließ die Vorſehung ſo oft den guten
Willen des Menſchenfreundes ohne Kraft, und ſtattete das Laſter
mit Mitteln aus? — Biſt du gewiß, daß die Familie, welche
heute in ihrer vermeinten Armuth tugendhaft und folglich inner-
lich beglückt iſt, Tugend und Seelenglück kennen würde, wenn
ſie mit Reichthümern, mit den Verführungen des Wohllebens
umgeben geweſen wire? Blödſinniger Sterblicher, du beklagſt
oft das Schickſal, aus welchem, dir unbewußt, Glück und Heil
quellen, und möchteſt dafür Glanz und Jammer wünſchen. Und
ward das Laſter auf Erden wirklich mit großen Mitteln ausge»
ſtattet: ſo war die Wirkung nothwendig, daß die Tugend in ſich
ſelbſt deſto größere Kraft entwickle, dem Laſter zu widerſtehen.
Tauſend herrliche Talente würden unbekannt und nutzlos ſchlum-
mern, wenn die Noth ſie nicht erweckt hätte. Tauſend wohlthaͤ⸗
tige Erfindungen und Entdeckungen wären noch verborgen, wenn
Armuth und Bedürfniß fie nicht aus der Dunkelheit hervorge-
riſſen Hätte!
Siehe um dich, welches ſind die Gaben des Glücks? Und
wurden ſie in der That mit ſo großer Ungleichheit vertheilt, als
du in deiner Unzufriedenheit meinſt?
In der Welt iſt kein Ungemach, welches nicht durch irgend
einen Vortheil wieder vergütet worden waͤre; kein Mangel, den
nicht irgend ein Gutes begleiten ſollte. Kein Land iſt dem an—
dern an Naturgaben gleich, aber jedes hat ſeine eigenthümlichen
Reize und ſeine beſondern Annehmlichkeiten. Da uns nun Ge-
wohnheit ſehr leicht mit manchen Uebeln ausſöhnt, findet jeder
Einwohner fein Vaterland vorzüglicher als alle andere Länder.
So iſt es auch mit dem einzelnen Menſchen.
Jene Familie iſt reich an mancherlei Gütern, aber fie iſt un⸗
glücklich durch die Schickſale ihrer Mitglieder! fie beneidet dit
— 240 —
Liebe, die Eintracht, die ewige Heiterkeit in einer viel ärmern Fa⸗
milie. — Beklagenswerth iſt Jener, der einen beſchränkten Ver⸗
ſtand hat, und immerdar unter der Leitung Anderer abhängig
leben muß. Aber er hat Vermögen, und iſt vor Hunger und
Elend geborgen. — Dieſer dort könnte im vollen Ueberfluſſe leben,
aber von ſeinem Reichthum genießt er wenig, denn er ringt un⸗
aufhörlich mit Kränklichkeit des Leibes. — Dort ein Anderer iſt
ohne Reichthum, er lebt dürftig; aber er hat genug, weil er ar⸗
beitſam iſt, und dieſe Arbeitſamkeit ſchützt ſeine Geſundheit. —
Wieder ein Anderer iſt ohne Anſehen, ohne Ehrenſtellen, ohne
Einkünfte, aber in ihm wohnt ein heller Geiſt; feine Kenntniſſe
erheben ihn über tauſend Andere; er würde nicht ſeine Einſicht
gegen ihr todtes Gold vertauſchen.
So hat die weiſe Vorſehung die irdiſchen Glücksgüter zuletzt
nicht ſo ungleich vertheilt, als es beim erſten Anblick oft den
Schein haben mag. — Es iſt auf Erden Niemand der Reichſte,
Niemand der Aermſte; Jeder hat noch Etwas, das er als Vorzug
an einem Andern beneiden möchte und ſich wünſcht; Jeder hat
Vorzüge, die vielen Andern fehlen. Nicht Einer beſitzt Alles;
Alle haben Einiges. Jeder iſt von Gott auf beſondere Weiſe
beſchenkt worden; Jeder iſt als Haushalter von einer beſondern
Gabe Gottes anzuſehen, die ihm verliehen wurde. Darum die—
net einander Jeglicher mit der Gabe, die er empfangen hat.
(1. Pet. 4, 10.) |
Darum klage nicht mehr über die von dir ungleich gehaltene
Vertheilung der Glücksgüter. Sieh nicht auf diejenigen, welche
dem Anſchein nach mehr empfangen haben, als du, ſondern auf
die, welche nicht ſo viel Gutes genießen, als du. Erinnere dich,
daß auch der, den du beneideſt, Eigenſchaften und Vorzüge an
dir finden kann, die er nicht beſitzt und ſich vergebens wünſcht.
Du beneideſt ſeinen Reichthum, er deine Geſundheit, du wün—
ſcheſt dir ſeine Einſichten, er ſich deine Heiterkeit, deine Harmloſig—
keit; du wünſcheſt dir ſeine Ehre, ſeinen Ruhm, er ſich deine
ſorgloſe Lage in glücklicher Unbekanntheit, wo ihn keine Feinde
und Neider verfolgen. Keinem fehlt Alles, aber Allen
fehlt Einiges.
— 241 —
Je laͤnger wir die Vertheilung der Gaben des Glücks unter
den Menſchen betrachten, je mehr werden wir darin mit der hohen
Weisheit und Liebe Gottes vertraut; je zufriedener werden wir
zuletzt mit demjenigen ſein, was er uns davon als unſern Theil
zufallen ließ. — Denn es iſt Keiner auf Erden, der Urſache hätte,
ſein Schickſal zu verwünſchen, es wäre denn, daß er es ſich ſelbſt
durch eigene Schuld ſchrecklich und unerträglich gemacht hatte. —
Und wer iſt zuletzt der Aermſte in der Welt? — Es iſt der Unzu⸗
friedenſte! — Wer iſt der Unabhingigfte und Reichſte? — Es
iſt der Genügſamſte! —
Um genügſam zu ſein mit den Gaben des Glücks, die dir
Gottes Vaterhuld zuwandte, mußt du niemals die große und
ewige Wahrheit vergeſſen: Das Glück der Menſchen iſt un-
abhängig von Gütern der Erde. Nicht welcher das Beſte
hat, ſondern welcher der Beſte iſt, der iſt ein Glücklicher.
Hinge die menſchliche Glückſeligkeit von Glanz, Reichthum,
Ehrenſtellen und großen Talenten ab: ſo würde der arme Tag⸗
| löhner jedesmal unglücklich, und der in Purpur gehüllte Fürſt
der Glücklichſte ſein. Ach, wie oft findet das Gegentheil ſtatt! —
Wie viele große und berühmte Menſchen ſind das Opfer der
Sorge und des Kummers geworden, während der Niedrige und
Unbekannte die Frucht ſeiner ſauern Arbeit mit Freudigkeit genoß!
Du ſuchſt das Glück — du glaubſt es, von deinen Begier⸗
den geblendet, in glänzenden Mitteln zu finden. Aber nicht die
Mittel ſind das Glück; ſie können ſelbſt nicht zu deinem Glück
beitragen, weil Tauſende dennoch unglücklich ſind, welche jene
Güter beſitzen, nach denen du ſeufzeſt. Suche nicht dein Heil in
außerm Gute: ſuche es in der Güte deines Herzens, in der Weis-
heit, die dich über das, was nur Staub war und iſt und bleiben
wird, erhebt. Nicht wer das Beſte hat, ſondern wer der Beſte
iſt, der iſt ein Glücklicher.
Um genügſam zu ſein und glücklich mit dem Looſe, welches
die Vorſehung dir gab, mache dich mit den Vortheilen und
Vorzügen deiner Lage recht bekannt; lerne den Werth dei⸗
ner Verhältniſſe, in welchen du ſtehſt, ſchätzen, und zertritt nicht
das Gute mit Füßen, fo dir zu Theil ward, um mit Unerfätt-
III. 11
— 2
lichkeit immerdar nach dem zu haſchen, was du nicht haſt. Deine
Ungenügſamkeit, die dich ſelbſt zum Tadel der Vorſehung, alſo
zum Wahnſinn verleitet, iſt eine Folge deiner Sinnlichkeit, welche
mächtiger als Vernunft und Religion in dir ſein will; iſt ein
Beweis von der Kränklichkeit deines Gemüths, von der Schwäche
deines Geiſtes. Heile dich, o Kranker, und du wirft dein Schickſal,
dein Verhältniß ſegnen, wenn du es mit der Lage von Millionen
deiner jetzt lebenden Nebenmenſchen vergleichſt. — Es iſt wahr,
du haſt auch in deiner gegenwärtigen Lage manche Unannehm⸗
lichkeit. Aber prüfe dich wohl, ob du nicht auch durch deine
Schuld beigetragen haſt, daß dieſe Uebel dich drücken; prüfe dich
wohl, ob du auch ſchon alle in dir liegenden Mittel mit Ernſt
verſucht haſt, dich von dem zu befreien, was dir Kummer verur⸗
ſacht. Iſt aber das Mangelhafte, das Unangenehme eine Folge
deiner eigenen Schwäche, ein Beweis deiner eigenen Schuld:
warum forderſt du von der Gottheit ein Wunder zum Beſten
deiner Trägheit, oder deiner Vergehen? — Werde beſſer, ſo wird
es beſſer ſein.
Um genügſam mit den Gaben des Glücks zu ſein, die dir Got⸗
tes Güte verlieh, veredle Alles, was du haſt, und du biſt
reich! Veredle dein Herz durch Tugenden, die dir noch fehlen;
veredle deinen Verſtand durch Kenntniſſe und Erfahrungen. Ver⸗
edle deine Beſitzungen durch Fleiß, Thätigkeit, Ordnungsliebe,
Sparſamkeit; ſetze an die Stelle des Goldes und der Pracht hohe
Reinlichkeit und geſchmackvolle Einfalt; an die Stelle des Blen⸗
denden das Nützliche. Veredle deine Hausgenoſſen durch das
Beiſpiel der Liebe, Achtung und Milde, welches du ihnen gibſt
und von ihnen fordern kannſt; entferne allmälig den Ton der
Rohheit aus den Geſprächen, den Geiſt der Liebloſigkeit aus allen
Handlungen. Veredle deine Verhältniffe zu deinen Mitbürgern
und Vorgeſetzten; meide unſittliche Geſellſchaften, erwirb dir
durch Anmuth und Dienſtfertgikeit des Betragens die Freundlich”
feit und Zuneigung der Bewohner deines Ortes; ſei der Erſte,
der Hilfe anbietet, der Letzte, der Hilfe begehrt; werde in deiner
gegenwärtigen Lage der Beſte, fo wirft du das Beſte haben:
1
Seelenruhe, Zufriedenheit mit Gott und deinem Schickſal, der
Menſchen Gunſt, der Vorſehung Segen!
Glücksgaben find aber jederzeit Gottesgaben, und
Gott gibt dir ſo viel an äußern Gütern, als dir zu deinem und
Anderer Beſten wohlthätig ſein können. O du, des Staubes
Wurm, meiſtere die Allweisheit nicht in den Maßregeln, die ſie
zum Heil ihrer Welt ergriff; zweifle nicht an der Unendlichkeit
ihrer Liebe; wanke nicht in deiner Zuverſicht an ihre Fürſorge,
die deiner ſchon gedacht hat, ehe du warſt.
Sei mit dem, was dir die Gottheit aus der Fülle ihres Se-
gens zukommen ließ, ein weiſer Haushalter, und über das We—
nige getreu, welches ſie dir anvertraute. Es wird der Tag der
Rechenſchaft, es wird der Tag deines Lohnes kommen. Es wird
unvermuthet dein freudiges Schickſal dir erſcheinen und ſagen:
Der Herr ſpricht zu dir, du frommer und treuer Knecht, du biſt
über Wenigem getreu geweſen, ich will dich über Viel ſetzen. Gehe
ein zu deines Herrn Freuden! (Matth. 25, 23.)
Sei mit den Gaben des Glücks ein treuer Haushalter, be-
wahre ſie vor Mißbrauch. Zerrütte deine Geſundheit nicht durch
Wolluſt, Weichlichkeit und Uebermuth; zerrütte dein Vermögen
nicht durch Verſchwendung, Unordnung und traͤges Leben; ver⸗
ſchwende deine Verſtandeskräfte nicht zu unnützen, thörichten
Dingen, aus denen kein Heil entſpringt; gebrauche dein Amt,
dein An ſehen, deinen Einfluß nicht bloß, um vor der Welt in
Stolz und Eitelkeit zu glänzen: ſondern was du des Guten em⸗
pfangen haſt, ein Jedes ſei ein Pfund, mit dem du zum Wohl der
Welt, zur Freude deiner Familie, deiner Mitbürger wuchern ſollſt.
UUrquell aller guten und vollkommenen Gaben, gnadenvoller,
an Güte und Barmherzigkeit unendlicher Gott, weiſer Ordner
der Welt, Vater der Welten, Vater aller Völker, o mein Vater!
Keines Deiner Gefchöpfe haft Du vergeſſen; Jeglichem gabſt Du
das Vermögen, ſich ſelbſt und Andere zu beglücken. Wunderbar
mannigfaltig ſind die Gaben, die Du vertheilteſt; aber eben durch
dieſe Mannigfaltigkeit knüpfteſt Du Völker an Völker, Menſchen
an Menſchen; dadurch haft Du fie alle für einander zum Be⸗
dürfniß gemacht, und die Sterblichen zu gegenſeitiger Freund—
— 244 —
ſchaft und Verpflichtung geleitet. Die Gaben des Einen ſind des
Andern Bedürfniß; und wo Einer Noth leidet, kann der Andere
helfen. Keiner hat Alles, Keiner iſt vollkommen, Keiner ſoll des
Andern entbehren können. Und indem Jeglicher dienet dem An⸗
dern mit der Gabe, die er empfangen hat, iſt die Wohlfahrt Aller
angeordnet.
Genügſam mit dem, was Du auch mir und den Meinigen
gewährt haſt, wollen wir, fern von jedem Mißbrauch Deiner
Gaben, den höchſten Gewinn daraus ziehen: Beförderung allge⸗
meiner Zufriedenheit und Glückſeligkeit. Was hilft uns die höchfte
Fülle von Glücksgütern, wenn wir ſie nicht mit Weisheit zu be⸗
nutzen verſtehen! Auch mit Wenigem können wir reich ſein. Wer
aber Dich im Herzen hat, o Gott, iſt reich, ohne Untergang!
28.
Das ÜUrtheil der Welt.
Epheſ. 4, 22 — 32.
Die Menſchen richten nach dem Schein,
15 Nach eigner Leidenſchaften Reize;
Die heut' ein Hoſtiannah ſchrei'n,
Sie ſchleppen morgen dich zum Kreuze.
In unſerm eignen Buſen wohnt
Ein Richter, welcher, unbeſtochen,
Schon oft den frommen Sinn belohnt,
Oft meiner Luſt den Stab gebrochen.
Und wird auch kein Gewiſſen laut,
Ein Andrer lebt, ein Andrer richtet,
Der durch der Herzen Tiefen ſchaut,
Und die geheimen Thaten ſichtet.
Du biſt's, o ew'ger Richter, Gott!
Könnt' ich vor Dir unſträflich leben,
Dann dürft' ich vor der Menſchen Spott,
Wohl mir! dann ſelbſt vor Dir nicht beben!
r —
Mancher, der aus Erfahrung weiß, wie wankelmüthig und
unzuverläſſig das Urtheil des großen Haufens iſt, trägt kein Be—
*
1
denken, fich ſtolz über daſſelbe hinwegzuſetzen, und zu thun, was
d
*
7
4
|
a
— 245 —
ihm beliebt, ohne ſich um Anderer Meinung von ihm zu bekuͤm⸗
mern. Noch mehrere aber, und gewiß die Meiſten, ſetzen wieder
in das Urtheil der Welt einen allzugroßen Werth, find allzuem-
pfindlich gegen die gute oder üble Meinung, die man von ihnen
hegt, und thun am Ende mehr, um Andern zu gefallen, als ihnen
ſelbſt heilſam iſt.
Dies iſt nun eine Hauptquelle von mancherlei Unzufrieden-
heit unter den Menſchen. Die Ruhe vieler Einzelnen und das
Glück vieler guten Familien iſt dadurch geſtört. Noch täglich ent-
ſpringen aus unſerer allzugroßen Empfindlichkeit gegen die Ur-
theile über uns Spannungen, Streitigkeiten und gramvolle Augen-
blicke.
Wir würden manche bittere Stunden des Lebens weniger
gehabt haben, und noch jetzt weniger leiden, wenn wir uns von
dem Urtheile der Welt einen richtigen Begriff gemacht hätten.
Allein leider geſchieht zu allgemein das Gegentheil! Und jo
viel unangenehme Tage wir uns auch durch unſere Empfindlich—
keit zugezogen haben, bringen wir doch ſelbſt den Kindern in
früher Jugend ſchon eine allzuhohe Vorſtellung vom Werthe der
öffentlichen Meinung bei. Was thun wir? Ach, wir bereiten
auch unſern Kindern unvorſichtig genug eine böfe Zukunft, und
leiten ſie, gewiß gegen unſern Willen, auf falſche Wege. Täglich
hören wir hie und da zu Kindern ſagen: „Was werden die Leute
davon denken?“ Selten oder nie flüftert eine gute Mutter ihrem
Kinde zu: „Was wird der allwiſſende Gott von dir urtheilen?“
Dieſe Redensart: Was werden die Leute ſagen! hat ſich von
Kindheit an unſeres Gemüthes bemächtigt. Daher kommt es,
daß es uns noch mehr darum zu thun iſt, gut zu ſcheinen,
als gut zu ſein; daß wir neugieriger auf den Ausſpruch der
Welt, als auf die Stimme unſers Gewiſſens horchen; daß wir
uns ſchon beruhigen, wenn die Menſchen vortheilhaft von uns
denken, unbekümmert, ob wir auch mit dem himmliſchen Richter
eben ſo gut ſtehen. | |
Elender Nothbehelf ſchwacher Seelen! — Einſt an unjerm
Sarge verſtummen die Urtheile der Sterblichen, aber das Urtheil
des Weltrichters verſtummt nicht. Das gute Zeugniß der ſich
|
|
— 246 —
leicht blendenden Menſchen hilft uns nichts vor dem, der die
Herzen prüft, und deſſen furchtbare Allwiſſenheit von keiner Täu⸗
ſchung hintergangen werden kann. Das Urtheil der Welt gründet
ſich bloß auf den Anblick der äußern Dinge; denn wie mag
das Auge der Menſchen in die Geheimniſſe der Herzen ſchauen?
Es richtet nur den Schein, und zieht Folgerungen aus dem⸗
ſelben. Wie oft kann es da betrogen werden! Die Menſchen
machen immer nur ihre eigenen Einſichten, ihre eigenen
Neigungen zum Maßſtab, womit fie die Handlungen Anderer
meſſen. Wie unzuverläſſig ift dieſer Maßſtab!
Wenn man alſo weiß, aus welchen unlautern Quellen das
Urtheil der Welt fließt: kann man demſelben einen ſo hohen
Werth beilegen? Wie oft iſt nicht ſchon der tugendhafteſte Menſch
von ſeinen Mitbürgern ſchmerzlich verkannt worden? Wie oft
haben nicht die Zeitgenoſſen einen Mann verläſtert und verachtet,
dem die dankbaren Nachkommen Ehrenſäulen auf dem Grabe
errichteten? Wie oft iſt nicht ein Anderer noch bis zum Sterbe⸗
bette hochgeprieſen worden, von dem erſt nach dem Tode die
Schandthaten eines vollendeten Böſewichts offenbar wurden?
Palmen ſtreute das Volk einſt dem göttlichen Erlöſer, und mit
feierlichen Geſängen begrüßte es ſeinen Einzug in Jeruſalem; und
eben dieſes Volk ſchrie dann wieder das gräßliche: „Kreuzige!
Kreuzige ihn!“ auf ihn herab. — Wie manche Unſchuld hat
nicht ſelbſt durch die Kurzſichtigkeit der Richter auf Erden im Ge⸗
fängniſſe verſchmachten, und ſtatt der Ehrenkrone das Blutgerüſt
ſehen müſſen?
Aber da es ebenfalls ſehr gefährlich iſt, uns mit ſtolzer Ver⸗
achtung in allen Fallen über die Meinungen Anderer von uns
hinwegzuſetzen; da es uns nie gleichgültig ſein darf, bei unſern
Mitbürgern in gutem oder böſem Rufe zu ſtehen, indem wir oft
nur dann erſt Gutes thun und nützlich wirken können, wenn man
uns das Gute zutraut — ſo wird dem Chriſtrn die Frage wichtig:
Wie ſoll ich mich bei dem Urtheile der Welt verhalten,
es gehe nun über Andere oder mich?
Zuerſt will ich bedenken, was ich als Chriſt zu thun
habe, wenn die Welt über meine Freunde, Verwandten
PR:
und Bekannten ihr Urtheil fällt. Denn derſelben Wohl
und Wehe iſt mir nicht gleichgültig; ich lebe mit ihnen in Ver⸗
bindung, und leide mit ihnen, wenn ſie leiden müſſen.
Wenn über einen deiner Bekannten eine gewiſſe Meinung
herrſchend wird, die feinem guten Namen Gefahr bringen kann,
fo forſche erſt nach, wer der Urheber der übeln Gerüchte ſei. Haft
du einmal die Quelle entdeckt, ſo wirſt du leicht wiſſen, ob ſie
lauter oder unrein ſei; aber meiſtens iſt dies ſchwer zu errathen.
Meiſtens ſind ungünſtige Urtheile nur elende Nachſprechereien
müßiger und geiſtloſer Menſchen, welche ſchadenfroh, oder um
ſich wichtig zu machen, dasjenige wieder ſagen, was ſie irgendwo
gehört oder übel verſtanden haben. Meiſtens iſt es der verſteckte
Haß, oder der geheime Neid, oder die verächtliche Spottſucht
ſchlecht erzogener Leute, oder die Schadenfreude, welche von Die—
ſem oder Jenem etwas Böſes gemuthmaßt hat, und die pöbel-
hafte Leichtgläubigkeit gibt mit geſchwätziger Zunge die unanſtaͤn⸗
dige Vermuthung als eine Wahrheit wieder aus.
Darum hüte dich, blindlings in das Urtheil der
Welt einzuſtimmen, um dich ihrer Schuld nicht theilhaftig
zu machen. Richte nicht, Gott wird dich wieder richten, und mit
dem Maße, mit welchem du miſſeſt, wird dir wieder gemeſſen
werden. (Matth. 7, 2.) Höre das Urtheil der kurzſichtigen Men⸗
ſchen, aber glaube ihm nicht ſogleich, und noch weniger hilf das-
ſelbe ausbreiten, wenn du nicht ein verächtliches Werkzeug der
Verleumdung zu ſein Luſt haſt. Schweige nicht, wo man ſich
mit lachender Miene oder voll ſcheinheiligen Bedauerns nachthei-
lige Meinungen über den Nächten erlaubt. Nein, ſchweige nicht,
ſondern rede das Gute, das Lobenswürdige, was du irgend von
ihm weißt. Sei du, ſo viel du es ſein kannſt, ſein Fürſprecher,
der ihn entſchuldigt, wenn er ihn nicht ganz rechtfertigen kann.
Siehe, deine Sanftmuth, deine Güte wird den Verleumder ſelbſt
für dich einnehmen, indem er fühlt, du werdeſt bei anderer Ge-
legenheit auch ihm das Wort reden. Du wirſt die dankbare Liebe
deſſen erregen, der durch dich mitten unter Läfterungen jcho-
nungsvoll behandelt und geehrt ward. |
Ach, wie unzuverläſſig iſt das liebloſe Urtheil der Menſchen,
— 248 —
und wie bitter iſt die Thräne des Grams, welche aus dem Auge
verleumdeter Unſchuld fällt! Daß du doch in deinem Leichtſinn
nie an ſolchen Geſprächen den ſchlechten Theil genommen hätteſt;
daß keine jener Thränen auf deiner Seele brennen möge!
Aber auch denjenigen prüfe, den das Urtheil der
Welt ſo hart richtet. Erforſche, wodurch er in ſeinem Betra⸗
gen zu der ungünſtigen Meinung Anlaß von ſich gegeben habe.
Iſt er dein Freund, dein Bekannter, gehe zu ihm, mache ihn ſelbſt
mit zarter Schonung aufmerkſam auf die Welt und auf ſich.
Und findeſt du ihn unſchuldig, ſo habe Muth genug, der Be⸗
ſchirmer ſeiner Unſchuld zu werden. Tritt hervor und vernichte
die Verleumdung, doch ſchone liebreich des Verleumders, wenn
es die Umſtände geſtatten. Ziehe die Wahrheit an das heitere
Tageslicht, und berichtige du das Urtheil der Welt.
Findeſt du eine verleumdete Unſchuld, eine verkannte Tugend,
ſei, wo du es kannſt, der Retter ihrer Ehre, zerſtreue die falſche
Meinung. Richte dich nicht nach dem Urtheile der Welt, und
bleibe dem Verkannten treu. So that Jeſus Chriſtus. „Er
geht mit Zöllnern und Sündern um!“ ſprach verächtlich die Welt.
Jeſus aber hörte die Stimme ſeines Vaters, nicht die Stimme
der Welt.
Vorſichtig aber vermeide auch den Umgang desjeni—
gen, der unter ſeinen Mitbürgern allgemein in übelm
Rufe ſteht, und welchen du nicht genauer kennſt. Und
hindern dich deine Verhältniſſe, daß du dieſem Umgang nicht aus⸗
weichen kannſt, ſo ſcheue dich vor nähern Verbindungen. Denn
böſe Geſellſchaft verdirbt unbemerkt gute Sitten, und traue dei—
ner Tugend nicht allzugroße Kraft zu, verführeriſchen Beiſpielen
und Worten lange zu widerſtehen. Fliehe die Verſuchung; wer
ſich ſelbſt in Gefahr begibt, kommt leicht darin um. |
Siehſt du, daß deine Bekannten und Freunde Unanftändig-
keiten lieb gewinnen und das Gerede der Welt werden; ſiehſt du,
daß deine Bitten, deine Warnungen fie nicht zurückbringen: dann
habe Muth genug, dich von ihnen loszuſagen. Dies iſt die erſte
Strafe ihrer Thorheit, daß fie ſich von guten Menſchen verlaſſen
— 249 —
ſehen. Sprich, wie David: ich will nicht ſitzen, wo die Spötter
ſitzen und die Ungerechten. (Pſ. 1, 1. 2.)
Nicht nur wirſt du dein eigenes Herz retten, ſondern auch
deinen guten Ruf, der dir ſo heilig ſein muß, als du ohne ihn
deinen Mitbürgern nicht nützlich ſein kannſt. Es iſt dir Pflicht,
ohne die wichtigſten Gründe nie deine Ehre aufzuopfern. Es iſt
dir Pflicht, den Namen, welchen du von deinen Vätern enn
rein und ohne Tadel zu bewahren.
Darum aber kannſt du auch nicht gleichgültig bleiben, wie
du dich zu verhalten haſt bei dem Mrihee der Welt über
dich ſelbſt.
Vor allen Dingen erinnere dich, wenn du ſonſt ein reines
Gewiſſen haft, beftändig daran, wie unbeſtändig die Menſchen in
ihren Meinungen ſind; wie ſie morgen eben das loben können,
was ſie heute verachten; wie ſie nur immer vom Schein geblendet
werden, und ſelten auf das Weſen der Sache ſehen. Mache alſo
das Urtheil der Welt nie zu deinem Abgott, ſondern nimm es
für das, was es iſt, und nicht für mehr, ſo wirſt du dir manchen
geheimen Verdruß erſparen, und nie der Spielball fremder Lau⸗
nen werden.
Biſt du in dir ſelbſt von der Redlichkeit deines Sinnes, von
der Rechtlichkeit und dem guten Zweck deiner Unternehmungen
überzeugt, ſo laß die Menſchen immerhin ſchreien und tadeln.
Gehe muthig deinen Weg fort, begleitet von Gottes Beifall und
einem fröhlichen Gewiſſen. Mag dich auch die ganze Welt ver-
kennen, Gott verkennt dich nicht. Mußt du auch um der gerechten
Sache willen Hohn, Verfolgung, Spott und Verleumdung leiden:
laß dich Alles nicht anfechten; ohne Kampf iſt kein Sieg! Der
Beifall Gottes und deines Gewiſſens hält dich ſchadlos für die
Bosheit deiner Neider, deiner Verfolger.
| Wie viele ſegensvolle Werke, wie viele nützliche Einrichtun⸗
gen, wie viele preiswürdige Stiftungen würden wir noch am
heutigen Tage entbehren, wenn die edeln und ſtandhaften Män⸗
ner, denen wir ſolche zu verdanken haben, ſich hätten durch das
Geſchrei der unwiſſenden Menge leiten laſſen! Spotte des Urtheils
—
der Welt, und blicke voll hohen Muthes auf Gott, wenn du das
Gute thun willſt.
Nur kleinmüthige Seelen laſſen ſich von dem Urtheil der Welt
verführen, nicht ſo viel Gutes zu ſtiften, als ſie ſich oder Andern
ſtiften könnten. Nur ſchwache Menſchen, ohne Vertrauen auf die
göttliche Vorſehung, ohne Vertrauen auf eigene Kraft, wollen
lieber den blinden Sterblichen, als dem allſehenden Auge Gottes,
gefallen.
Und dieſer Unglücklichen ſind Viele, denen das Urtheil der
Sterblichen wichtiger, als das Urtheil Gottes iſt. Hier erröthet
ein Irrender, ſeinen begangenen Fehler einzugeſtehen, eine andere
Lebensart anzufangen, und beharrt aus Stolz auf einem böſen
Wege, der ihn früh oder ſpät zum Abgrunde führt. Er will vor
der Welt nicht lächerlich werden, er will einigen ſeiner Feinde den
Triumph nicht gönnen über ſich, und lieber den Fluch ſeines
Gewiſſens und die Reue der Ewigkeit tragen. Er geht hin und
verübt eine neue Untreue, um den erſten Fehltritt zu verheim⸗
lichen; er geht hin und ſtreckt die Hand zu einem Verbrechen aus,
um die begangene Untreue zu verhüllen, und verwickelt ſich in ein
Netz von Vergehungen, aus dem er nie wieder hervortritt. Er
fürchtete den Spott der Welt, und machte ſich nun zu ihrem
Abſcheu.
Dort treibt ein Anderer, um eine günſtige Meinung für ſich
zu behalten, einen Aufwand, der den Kräften ſeines Vermögens
nicht angemeſſen iſt. Er will mehr ſcheinen als er iſt. Er opfert
dem Urtheile den Welt den Wohlſtand und das Glück feiner Fa⸗
milie auf, opfert ihm ſeine eigene Zufriedenheit und innere Ruhe
auf, bis ſeine Kraft erliegt, und er die Verachtung und das Mit⸗
leiden Aller iſt.
Wie manchen Unglückſeligen, dem von Jugend auf die Mei⸗
nung der Meuſchen allzuwichtig gemacht worden, hat die Furcht
vor derſelben zur Verzweiflung, ja zum blutigen Selbſtmorde
getrieben!
Nein, mein Herz, ſo lange du Gottes Blick nicht zu ſcheuen
haft, zittere nicht vor dem Blick der Menſchen. Auch den Edelſten,
— 31 —
du weißt es ja, hat die Verleumdung getroffen; und vor ge-
ſchwätzigen Läfterzungen iſt keine Unſchuld geborgen.
So ſchwankend und unbeftändig aber immer auch das fein
mag, was die Welt von dir ſpricht, biſt du darum doch nicht
verpflichtet, geduldig Ungerechtigkeiten zu tragen, wenn ſie dir
die Achtung der Menſchen rauben könnten. Du biſt es ihnen, du
biſt es dir, du biſt es den Deinigen ſchuldig, deinen guten Ruf
zu retten, wenn er durch Verdaͤchtigungen von Verbrechen und
Laſtern angegriffen wird. Stillſchweigen würde einem Geſtaͤndniß
gleich gelten, als ob das Gerücht von dir die Wahrheit verkünde.
Der gute Name iſt ein Vermächtniß, welches du von den
Vorfahren erhalten haft, und deinen Enkeln unentweiht hinter-
laſſen ſollſt. Er iſt es, der für dich ſchon um das Vertrauen der
Fremdlinge wirbt, ehe du ſie ſelbſt angeredet haſt. Er ſchreckt die
Laſterhaften aus deinem Kreiſe, und führt dir die Freundſchaft
der Edeln zu. Er gewinnt dir das Zutrauen deiner Mitbürger,
und macht dich, wenn du ſchwach biſt, maͤchtig, wenn du un⸗
glücklich biſt, zum Gegenſtand allgemeiner Theilnahme. Die
Ehre eines unbefleckten Namens iſt ein Kleinod, Föftlicher als jeder
Reichthum. Der iſt ein Bettler mitten unter Schätzen, welchen
die Schande bedeckt. (Spr. Sal. 22, 1.)
Ueberhaupt aber ſorge auch dafür, daß du dich ſelbſt nicht
dem Urtheil der Welt bloßſtelleſt. Wohl dem, der unbemerkt in
ſtiller Dunkelheit leben kann, und deſſen Name nur von wenigen
treuen Freunden genannt wird! Denn nur zu gern ziſcht die gif⸗
tige Zunge des Neides in hundert Winkeln dem entgegen, welchen
eigenes Verdienſt, oder ein glücklicher Zufall emporhebt.
Die meiſten Menſchen denken und ſagen noch lieber Uebles
von uns, als daß ſie uns ſelbſt Böſes anthun. Darum biete
durch dein Betragen auch nicht dem Urtheil deiner Mit⸗
bürger Hohn, und verachte nicht, was ihnen ehrwürdig ſcheint.
Stelle dich ihnen gleich, und ſei kein Sonderling, der ſich muth⸗
willig zum Gerede Aller macht. Du wirſt das Urtheil der Welt
über dich mildern, wenn du gegen unſchaͤdliche Vorurtheile ſcho⸗
nend handelſt. |
Prüfe dich ſelbſt, wenn du fühlſt, daß die Herzen
— 252 —
deiner Mitbürger gegen dich erkalten, ob du einen Fehler
trägſt, der dir in ihrer Achtung ſchadet. Und entdeckſt du
ihn, wohl, dann ſei muthig genug, ihn abzulegen. Jeder Fehler
befleckt dich; und muthwillig die Achtung des Mitbürgers, das
Vertrauen und die Gewogenheit der Beſſern im Volke zurück⸗
ſtoßen, iſt ein Hauptfehler. Du beraubſt dich eines großen Mit⸗
tels, Gutes zu ſtiften und froh unter guten Menſchen zu leben.
Wiſſe, das Urtheil der Welt, wenn es gegründet iſt auf einen
deiner Fehler, ändert ſich nie, und pflanzt noch Schandſäulen
auf deinen Grabhügel. Wiſſe, daß auch Könige ſich vor der Ge⸗
walt der öffentlichen Meinung beugen müſſen, wenn die Wahr⸗
heit aus dem Munde derſelben ſpricht. Wiſſe, daß in dieſem Falle
das Urtheil der Welt die furchtbarſte Richterin der Tirannen, die
ehrwürdigſte Rächerin der Tugend, und die ſchwerſte Geißel über
dem Haupte desjenigen Bürgers iſt, der Ungerechtigkeiten übt,
die keinen andern Richterſtuhl finden.
Beſiege deine Fehler, deine anſtößigen Gewohnheiten, deine
unerlaubten Neigungen; dann erſt haſt du deine Feinde beſiegt,
und die Zungen der Welt werden von dir ſchweigen. .
Und weißt du es nicht, wodurch du die Achtung der beſſern
Menſchen verlorſt, wodurch du die Herzen deiner Bekannten zu⸗
rückſtießeſt: fordere deinen rechtſchaffenſten Freund auf, daß er dir
ſage, was man von dir halte und warum man dich tadle. Und
fürchtet er, dich zu kranken, taͤuſcht fich ſeine Freundſchaft ſelbſt,
ſo höre die Worte deines Feindes; er wird die Wahrheit reden,
wenn gleich mit Vergrößerung deiner Fehler.
Nie fühlt die Unſchuld heller ihren Werth, o mein Gott,
als wenn ſie verkannt iſt, und dem Kummer preisgegeben wird.
Ach, daß ich vor Dir, Allwiſſender, nur rein und ſchuldlos ſein
möchte, wie ſüß ſollte mir dann der Kelch des Leidens ſein!
Es ſind Menſchen, die mir nicht wohlwollen. Auch der Ge—
ringſte unter ihnen kann mir ſchaden, auch den fchwächften Feind
ſoll man nicht verachten. Aber wie, habe ich denn mir auch ſchon
Mühe gegeben, die Achtung meiner Feinde zu verdienen? Habe
ich ſchon Schritte zur Ausſöhnung gethan? Muß ich nicht ſelbſt
ar Be
vor Dir, o Allwiſſender, bekennen, daß mein Herz nicht ganz
frei von Haß und Zorn gegen ſie ſei?
Hinweg mit dieſen laſterhaften Empfindungen aus einem
Herzen, das ich Dir geheiligt habe, Du Alleinheiliger! Erſt will
ich gut und edel ſein, dann durch Großmuth und Güte diejenigen
entwaffnen, die mich haſſen.
Dazu hilf mir, o mein Gott! Dein heiliger Geist durchdringe
mein Inneres, und das Bild des ſchuldlos leidenden Jeſus er⸗
hebe meinen Muth!
Wehe! über mein Sterbebette rauſche nie der Fluch eines
Unverſöhnten; meinem Sarge ſchleiche die Thräne keines Men⸗
ſchen nach, den ich im Leichtſinn oder aus Schadenfreude ver⸗
kleinert und verleumdet hätte. N
Herr, mein Gott, mein Richter einſt! ſchonend will ich die
Schwächen meines Nächſten betrachten, ſanft verbeſſern, nicht
erbittern. — Richte gnädig einſt über mich! Amen.
29.
Vorurtheil für und wider Neues.
1. Theſſ. 5, 21.
Die Welt iſt Gottes Werk und gut,
Und ſeine Huld auf allen Wegen;
Er liebet uns, und was er thut,
Wird ſelbſt im Schmerze unſer Segen,
Der Schmerz erhebt uns und die Noth
Vom Irdiſchen empor zu Gott.
Der Pflanze gab er Wunderkraft,
Dem Erdengrunde zu entblühen:
Dem Thiere ohne Wiſſenſchaft
Geheimen Trieb, Gefahr zu fliehen.
Nackt ſteigt der Menſch aus Gottes Hand;
Ihm gab er höheren Verſtand.
Verſtand, der Alles forſchend prüft,
Die Hilfe ſelber zu erfinden,
Und, wie im Balſam, auch im Gift
Des Schöpfers Weisheit zu ergründen,
Und überall, in Luſt und Weh'n,
Des Vaters Liebe zu verſteh'n.
Als der Meſſias aus ſeiner Verborgenheit nach langen Vor⸗
bereitungen auf ſein großes Unternehmen hervortrat, um die
Menſchen von den Feſſeln des Irrthums und der Sünde loszu⸗
ketten, ward er von den Leuten als eine ganz fremdartige Perſon
angeſtaunt, und mit ſehr verſchiedenen Empfindungen aufge⸗
nommen. Anfangs war es die Neugier überhaupt, welche ihn
immer mit einer zahlreichen Menge Zuhörer umringte. Dann
kamen die, welche als Freunde ihres von den Römern unterjochten
Vaterlandes glaubten, er habe den Entwurf, eine größere Staats⸗
umwaͤlzung vorzubereiten, ſich an die Spitze des verzweifelnden
Volkes zu ſtellen, das Reich Juda und Iſrael wieder frei zu
machen, und den erloſchenen Glanz des alten Jeruſalems zu ver⸗
jüngen. Er ſchien mächtig in That und Wort. Seine wunder-
baren Heilungen der Kranken erregten eben fo großes Anſfehen,
als ſeine heiligen Lehren. Viele Leidende von nahe und fern
kamen herbei, von ihm Rettung zu erbitten. Der große Haufe,
ergötzt durch das überraſchende Schauſpiel, achtete weniger ſeiner
— 1
Predigt, als feiner Thaten, und wollte nur immer neue Wunder
von ihm ſehen. Als er aber den Einen erklärte, daß ſein Reich
nicht von dieſer Welt ſei; den Andern bedeutete, daß ihre Be⸗
gierde, Zeichen und Wunder zu erblicken, ihm mißfalle, weil ſie
dennoch ohne Glauben blieben, veränderte ſich die öffentliche
Stimmung, und das Vorurtheil erhob ſich gegen die Göttlichkeit
ſeiner Sendung und ſeiner Lehre.
Die Ausleger des moſaiſchen Geſetzes, Phariſäer und Schrift⸗
gelehrte, betrachteten ihn ſogleich als ihren perſönlichen Gegner
und als den Feind der Religion, ohne nur Inhalt und Werth
ſeiner Lehre zu kennen. Es war umſonſt, daß Chriſtus ihnen
wiederholt ſagte: Ich bin nicht gekommen, das Geſetz Moſis auf⸗
zulöſen, ſondern es zu erfüllen; ſie blieben ſeine Gegner und
ihren vorgefaßten Meinungen treu. — Andere fingen an, mit
gleichem Vorurtheil ſeine Wunderwerke zu beurtheilen. Voll des
alten jüdiſchen Aberglaubens, waͤhnten ſie, er ſei mit dem Teufel
im Bunde. Es war umſonſt, daß er ihrer Vernunft den Wider⸗
ſpruch deutlich machte, indem er ſagte: Ich treibe die Teufel aus,
wie mag ich mich mit ihnen verbinden? — Noch Andere hatten
ſchon aus dem Grund ein Vorurtheil gegen Jeſum, weil ſie ſeine
geringe Herkunft anſtößig fanden, und ihn vielleicht aus ſeiner
Jugend kannten, da er ihnen nichts Außerordentliches zu ver⸗
heißen fchien“ „Iſt dieſer nicht des Zimmermanns Sohn von
Nazareth?“ fragten ſie.
Die Macht des Vorurtheiles war ſo groß, daß Jeſus Chriſtus,
ungeachtet ſeiner lichtvollen Offenbarungen, ungeachtet ſeines
tugendvollen, wohlthätigen Lebens, ungeachtet aller Wunder,
die er gethan, am Ende ſeiner Laufbahn nur ſehr wenige treue
Anhänger und Bekenner behielt.
Nicht minder ſchädlich wurden nachmals die Vorurtheile der
Juden ſowohl, als der Heiden, einer ſchnellen Verbreitung der
göttlichen Lehre des Herrn.
Wenn das Herrliche durch das Vorurtheil ſo viel zu leiden
hatte: dürfen wir uns wundern, wenn auch das geringere Gute
und Nützliche immer darin ſeinen ſtärkſten Widerſacher findet?
Der Menſch ändert ſeine Natur nicht, und wie er vor Jahrtauſen⸗
— 2563 —
den geweſen, iſt er noch heute; mehr durch den Eigenſinn einer
ſelbſtſüchtigen Neigung, oder durch Anhänglichkeit an feine Ge⸗
wohnheiten, als durch grünpliche Ueberzeugung von gewiſſen
Wahrheiten geleitet.
Was iſt ein Vorurtheil? — Jede Meinung iſt es, die ich
vom Werth oder Unwerth einer Sache faſſe, bevor ich dieſelbe
kenne. Vernünftiger Weiſe ſollte man nicht eher etwas loben,
bis man vom Lobenswürdigen hinlänglich unterrichtet iſt, und
ſollte nichts verwerfen, bis man vollen Grund dazu hat. Aber
das war von jeher der Menſchen Schwachheit, zu preiſen und zu
verdammen, zu lieben und zu verachten, nicht nach dem, was Er⸗
fahrung und Wirklichkeit lehrten, ſondern was eigene Einbildung
vorſpiegelte. Der Eigennutz vertritt nur allzuhäufig die Stelle
des Rechts, und blinde Gewohnheit erſetzt den verſäumten Ge⸗
brauch des Verſtandes.
Wohl tadle ich dieſe Verirrungen; aber bin ich denn ſelbſt
von ihnen frei? Geſchieht es nicht zuweilen, daß ich gegen irgend
eine Sache ſchon deswegen eingenommen bin, weil fie Sache
dieſes oder jenes Menſchen iſt? Begegnet mir es denn nicht, daß
ich zuweilen wider die eine oder die andere mir faſt unbekannte
Perſon geſtimmt bin, ohne daß ich dazu die geringſte Urſache
habe? Bin ich auf dieſe Weiſe nicht ſelber der Sklave einer vor⸗
gefaßten Meinung, und kann ich nicht Gefahr laufen, das Opfer
eines großen Irrthums zu werden? Gott gab mir den Verſtand,
warum verläugne ich ihn?
Denn jedes Vorurtheil iſt Schwäche oder Mangel des Ver⸗
ſtandes, und folglich ſchon dadurch für den Menſchen entehrend.
Das Thier handelt nach Eingebung dunkler Gefühle und Nei—
gungen; ihm gebricht die Kraft, zu forſchen, zu prüfen, zu über-
legen und zu wählen. Das Thier handelt nach angenommenen
oder ihm durch Menſchen beigebrachten Gewohnheiten, es wird
dadurch gewiſſermaßen zu einer Maſchine, die willenlos ihren
bezeichneten Gang verrichtet. Darf der Menſch, durch Verzicht—
leiſtung auf das Licht des Verſtandes, dem Thiere gleich werden,
ohne 2 an ſeinem Schöpfer zu verſündigen?
So entehrend jedes Vorurtheil für die menſchliche Würde
*
— 257 —
it, jo verderblich kann es oft werden, wenn wir uns durch das⸗
ſelbe zu Handlungen verleiten laſſen. Vorurtheil iſt Verſtandes⸗
abweſenheit: ohne Verſtand, nach leeren Einbildungen handeln,
kann es erſprießlich ſein? Viele nützliche Dinge, die uns Vortheil
mancher Art bringen, die uns oder den Unſerigen das Leben retten
würden, verwerfen wir aus Vorurtheil, und wählen das
Schlechtere. Manche rechtſchaffene Perſon, deren Verbindung mit
uns viel Gutes geſtiftet haben würde, ward vermieden und zu-
rückgeſtoßen aus Vorurtheil; dagegen haben wir zu Gunſten
Anderer vorgefaßte Meinungen, und bringen uns durch ſie in
Schaden.
Jeder Menſch wird haufiger durch ſich ſelbſt be⸗
trogen, als durch Andere. Weniger Feindſchaften würden
in der Welt ſein, weniger Freundſchaften gebrochen werden;
weniger Ungerechtigkeiten gegen Unſchuldige begangen werden,
wenn wir uns mehr durch verſtändige Ueberlegungen, als leicht⸗
ſinniger Weiſe durch die erſte beſte, böſe oder gute Einbildung
vom Werth der Perſonen leiten ließen, mit denen wir in Be—
rührung kommen. Das Vorurtheil iſt demnach eine Quelle von
mancherlei Sünden, und Sünde ſelbſt. — Irren zwar iſt menfch-
lich, und Fehlen aus Irrthum verzeihlich vor Gottes Augen.
Auch nach ſorgfältigen Ueberlegungen können wir, von ir
gend einem Schein geblendet, oder indem wir irgend einen kleinen
Umſtand überſahen, in Irrthum gerathen. Aber nicht überlegen,
und dennoch urtheilen und handeln, dies iſt ſträflich. Davor
warnt die heilige Schrift, davor die eigene Vernunft.
Borurtheil offenbart ſich in der abſprechenden
Meinung von Dingen, die wir noch nicht hinlänglich
kennenz folglich am meiſten bei Allem, was neu iſt. Ein großer
Theil von Menſchen, gefeſſelt von feinen einmal angenommenen
Begriffen und Gewohnheiten, und zu bequem, das ihm Unbe⸗
kannte genau zu unterſuchen, iſt ſchon deswegen voller Vorur⸗
theile gegen alles Neue, weil es neu iſt, und gegen alles Fremde,
weil es fremd iſt. Leute dieſer Art pflegen gewöhnlich die Weis⸗
heit der Alten zu preiſen, nicht weil ſie davon, und daß deren
Einrichtungen wirklich beſſer als neuere ſind, überzeugt wären,
— 258 —
ſondern weil ſie ihrer Trägheit im Selbſtdenken eine Lobrede
halten möchten. Sie wünſchen neben dem verhehlten Mangel
eigener Einſicht zugleich den Ruhm der Einſicht zu genießen, und
tadeln und verfolgen den, der das Neue annimmt, weil jeder der⸗
ſelben ihrem Verſtande einen Vorwurf zu machen ſcheint.
Man darf jedoch auch nicht glauben, daß die, welche Neuerun⸗
gen irgend einer Art mit Begierde ergreifen und bekennen, dabei
immer vorurtheillos ſind. Sie werden nicht ſelten eben ſo blind
von vorgefaßten Meinungen geleitet, als die trägen Anhaͤnger
des Herkömmlichen. Es gibt viele Menſchen, die das Neue lieben,
weil es neu iſt, oder die es annehmen, um ſich damit vor dem
großen Haufen auszuzeichnen, oder ſich das Anſehen der Vor-
urtheilloſigkeit und des freien Selbſtdenkens zu geben. Indem
ſie nun dem Neuen ſchon geneigt ſind, ehe ſie ſich noch durch
hinreichende Erfahrungen über den Werth deſſelben belehrt haben,
ſind ſie dem Vorurtheil, deſſen Schein ſie meiden wollen, ſo
blindlings hingegeben, als es viele ihrer Gegner find. So er-
blicken wir in der Welt häufig den Streit erhitzter Parteien über
Gegenſtände, die beiden Parteien in Werth und Folgen noch ſehr
unbekannt ſind. Sie fechten nicht um die Sache, ſondern um
ſelbſtgemachte Einbildungen von derſelben; bieten allen Scharf—
ſinn und Witz zur Vertheidigung ihrer vorgefaßten Meinung
auf, und können ſehr natürlich ihre Widerſacher weder eines
Beſſern belehren, noch eines Beſſern von ihnen belehrt werden.
Obgleich ein Irrthum ſo verderblich als der andere ſein kann,
iſt doch derjenige noch leichter zu entſchuldigen, welcher aus Liebe
zum Bekannten und Gewohnten entſpringt. Wiewohl damit die
Einführung und Verbreitung manches Vortrefflichen ſehr ver—
hindert, und der Genuß manches Nützlichen verfpätet wird, fo iſt
doch verzeihlich, wenn man nicht leicht das Gewiſſe für das Un-
gewiſſe hingibt. Zudem hat nicht Jeder Muth, Vermögen oder
Kenntniſſe genug, die Erfahrungen über das Neue und deſſen
Werth ſelber anzuſtellen. Es iſt alſo ein bedächtiges Erwarten
der Folgen von Verſuchen billig, die von Andern angeftellt wer—
den; es iſt loͤblich, wenn dieſes Treuverbleiben beim Herköͤmm—
u u A a a nn
— 259 —
lichen nicht blindes Vorurtheil gegen alles Neue, ſondern nur ein
Zurückhalten des eigenen Urtheils iſt.
Prüfet Alles, und das Gute behaltet! (1. Theſſ. 5, 21.)
jagt das göttliche Wort, und der Chriſt empfängt damit die ihm
angemeſſenſte Stellung in Beurtheilung fremder Gegenftände:
erſt Prüfung, dann Urtheil und Wahl.
Es gibt Vorurtheile, welche theils durch Alterthum, theils
durch große Verbreitung das Anſehen unbezweifelbarer Wahrheit
empfangen haben. Denn, wer könnte es läugnen: Irrthümer
vererben ſich ſo leicht, als Wahrheiten. Dergleichen herrſchende
Vorurtheile find am gefährlichiten,. weil fie nicht mehr für Vor⸗
urtheile, ſondern für erlernte Wahrheiten geachtet werden, als
Grundſätze gelten, immer zu neuen Trugſchlüſſen leiten, und das
Emporkommen der Wahrheit und alles Beſſern dauerhaft hindern.
Es gibt wenige Wiſſenſchaften, wenige Künſte und Handwerke,
in welchen ſich nicht irgend ein auf Treu und Glauben ange—
nommener Irthum, ein aus bloßer Achtung für das Alterthum
beliebter falſcher Satz, ein wirkliches Vorurtheil eingeſchlichen
hätte. Selbſt an religiöfen Vorurtheilen gebricht es nicht. Um
ſo wichtiger wird die Pflicht, daß wir überall den uns von Gott
verliehenen Verſtand anwenden, ſelber der Wahrheit nachforſchen,
wo wir Erfahrung oder Kenntniß genug beſitzen, und nur in
ſolchen Fällen auf das Urtheil Anderer uns verlaſſen, wo wir
Ueberzeugung haben, daß ſie gründlichere Einſichten haben, als
wir. Prüfet Alles, und das Gute behaltet!
Kaum ſollte man es glauben, daß auch Menſchen dann noch
ihren Vorurtheilen anhängen, wenn ſie von der Irrigkeit derſelben
hinlänglich überführt find. Und dennoch iſt dieſe Art der Wider-
ſinnigkeit keine große Seltenheit. Bald übt Gewohnheit ihre ſchwer
zu berechnende Gewalt gegen ihre geſunde Vernunft aus, bald
ein thörichter Eigenſinn, bald eine andere Leidenſchaft. Aber iſt
nicht jede Leidenſchaft Quelle des Unſinns?
Eine ſolche Selbſtverhaͤrtung gegen das Wahre und Beſſere
iſt eins von den ſchwerſten Verbrechen an der Natur und an
unſerer eigenen Würde; iſt geiſtige Selbſtverſtümmelung und
Sünde wider den heiligen Geiſt, der vergebens auf uns zu unſerm
— 260 —
Heil einwirkt. Das Verbrechen waͤchſt, je klarer die Erkenntniß
des Irrigen, je hartnäckiger deſſen Vertheidigung, je ſchaͤdlicher
für uns und Andere deſſen Erfolg iſt. Gott iſt ein Gott der
Wahrheit, und wir ſollen ihm ähnlich werden. Gott iſt ein Gott
der Wahrheit, wer ihn liebt, der liebt auch die Wahrheit, denn
ſie ſtammt von ihm. So iſt es des Chriſten Pflicht, die Wahr⸗
heit und das Licht zu befördern, auch dann, wenn dieſelben unſern
eigenen leiblichen Vortheilen zum Schaden gereichen ſollten. Jeſus
Chriſtus verkündete die Wahrheit, und duldete darum der Welt
Verfolgungen und den Kreuzestod. Es iſt des Chriſten Pflicht,
herrſchende Vorurtheile zu vernichten, und richtigere Erkenntniſſe
zu verbreiten, ſelbſt auf die Gefahr hin, ſich damit der Menſchen
Haß, ſtatt ihres Dankes, zu verdienen. Denn wahrlich, der iſt
Jeſu Jünger nicht, welcher recht und gut n will um irdiſchen
Gewinnes willen. |
Inzwiſchen ſoll auch hier mit jener Bedächtlichkeit von uns
gehandelt werden, die zu allen Zeiten das unterſcheidende Kenn⸗
zeichen wahrhaft weiſer Menſchen iſt. Die beſte Sache wird
durch übereilten Eifer vernichtet. Es kann kein wahrhaft frommes
Werk vollzogen werden, ohne reifere Erwägung der obwaltenden
Verhältniſſe, der Zeitumſtände und der Bedürfniſſe. Nichts iſt
im wirklichen Leben überall und unbedingt gut. Du kannſt mit
Unbeſonnenheit auch die Menſchenliebe zur Mörderin, und die
heilſamſte Arznei zum Gift machen. Hier iſt es, wo Jeſu goldene
Lehre gegenwärtig fein ſoll: Seid klug, wie die Schlangen, aber
ohne Falſch, wie die Tauben. 5
Werde nicht Bekämpfer herrſchender Vorurtheile, ſo lange
du dich nicht überzeugt haft, daß die, welche von den Vorur⸗
theilen befangen ſind, noch zu unmündig ſind, die Wahrheit
ſelbſt zu faſſen und auszuſprechen. Ja, es gibt auch wohl—
thätige Vorurtheile, heilſame Irrthümer, ſo lange ſie
diejenigen nützlichen Wirkungen haben, welche in vollerm Maße
die Wahrheit bei denen hat, die da fähig ſind, ſie zu begreifen.
Reiße nicht etwa Mindernützliches nieder, wenn du keine Sicher—
heit haſt, das Beſſere wirklich aufbauen zu können.
Glaube auch nicht, daß du mit wiſſentlichem Betruge die
— 261 —
Menſchen täuſcheſt, wenn du ihnen ungeſtört gewiſſe Meinungen
laͤſſeſt, die nach deinen beſſern Einſichten falſch ſind. Zwar dir
iſt Pflicht, das Reich der Wahrheit zu verbreiten, doch nur da,
wo du ſie zu verbreiten Kraft und Möglichkeit haſt. Aber zer⸗
ſtören heißt noch keineswegs aufbauen, und einen Irrthum nie⸗
derreißen, heißt noch nicht Wahrheiten aufrichten.
Allerdings haben Kinder viele irrige, oft höchſt unwürdige
Vorſtellungen von Gott und den Schickſalen der Seele nach dem
Tode. Allerdings haſt du bei deinen reifern Kenntniſſen und
Erfahrungen Begriffe, die der Wahrheit näher ſtehen mögen.
Biſt du aber im Stande, deine Verſtandesreife plötzlich den Kin⸗
dern einzufloͤßen? Warum ſoll ich dich deshalb tadeln, oder einen
wiſſentlichen Betrüger deiner Kinder ſchelten, wenn du ihnen
Vorſtellungen von Gott und Ewigkeit laͤſſeſt, die zwar nicht deinen
beſſern Einſichten, wohl aber ihren geringen Vorkenntniſſen an⸗
gemeſſen ſind? Genug, daß bei ihnen die kindiſchen Einbildungen
von Gott eben das Gute bewirken, was bei dir die beſſern Er⸗
kenntniſſe. — Siehe, ſo ſind auch Erwachſene oft den Kindern
gleich: es gibt mancherlei Stufen der geiſtigen Ausbildung, und
was für dich Irrthum und Vorurtheil iſt, kann für Andere, nach
Maßgabe ihrer Erziehung und Erfahrung, wohlthuende Wahr-
heit, das heißt, genaue Uebereinſtimmung mit ihrem ganzen
Weſen, fein. Vielleicht wäre es dir wohl möglich, bei ihnen,
was dir Vortheil iſt, zu zerſtören: aber biſt du verſichert, daß ſie
auch fähig find, mit ihrem ungeübten Verſtande deine höhere
Wahrheit zu erfaſſen? Darum ſei behutſam, und entreiße dem
Schwachen nicht die Krücke, ehe er Kraft gewonnen, ohne ſie
allein zu gehen. Kommt ihm die Kraft, wird ihm die Krücke von
ſelbſt läſtig. Entwickelt ſich der unmündige Verſtand, wirft er
beim erſten Schimmer beſſerer und hoherer Einſicht den Irrthum
von ſelbſt zurück. Wer möchte wagen, Jeſum, den göttlichen,
den liebevollen Lehrer, einen Volkstauſcher zu nennen, weil er
nnicht alle und jede bei dem abergläubiſchen jüdiſchen Volke wal⸗
tende Vorurtheile bekämpfte; oder weil er ſogar, um nur von
ihnen begriffen zu werden, zuweilen in der Sprache ihrer Vor⸗
urtheile redete?
— 262 —
Am behutſamſten vor Allem ſollen wir in religiöſen Dingen
ſein, wenn wir bei Andern Irrthum und Vorurtheil wahrzu⸗
nehmen meinen. Denn jedes Alter, vom Kinde bis zum Greiſe,
geſtaltet ſich ſeinen Glauben von göttlichen Sachen unvermerkt
anders. Selbſt das Temperament der Menſchen, ſelbſt der Him⸗
melsſtrich, unter welchem die Völker der Erde wohnen, gibt ihren
veligiöfen Meinungen gleichſam eigene Farben. Gefahrloſer ift
es, Vorurtheile oder Irrthümer, die nicht ſo tief mit dem Inner⸗
ſten des Menſchen, mit ſeiner ganzen Glückſeligkeit verflochten
ſind, zu zerſtören, auch dann, wenn man außer Stand wäre,
die den Irrthum erſetzende Wahrheit begreiflich zu machen.
Ungebildete Menſchen ſehen leichter das Nützliche,
als die Wahrheit einer Sache ein. Jenes offenbart ſich
den Sinnen; die Wahrheit will erſt durch Anſtrengung des
Geiſtes erkannt werden. In ſolchen Fällen wird allezeit rath⸗
ſamer ſein, das Vorurtheil der Menge, die ſich nicht leicht von
einmal gefaßten Einbildungen trennen läßt, durch Anſchauung
des Nützlichen im Neuen zu untergraben. Der ungebildete Menſch,
wie das Kind, fürchtet, was er noch nicht kennt, betaſtet es nur
ſchüchtern, will ſich erſt durch langen Anblick daran gewöhnen,
und folgt nur dem Vorgang und Beiſpiel vieler Andern.
So ſehen wir in unſern Tagen, daß beim gemeinen Mann
lange und mächtig geweſene Vorurtheile gegen die wohlthätige
Erfindung der Blitzableiter allgemach verſchwinden; unfaͤhig ein⸗
zuſehen, wie die Eiſenſtange Kraft habe, den zermalmenden
Strahl, indem er an der menſchlichen Wohnung hinfaͤhrt, anzu=
ziehen und unſchädlich dem Erdboden zuzuführen, fürchtete der
Unwiſſende, mit ſolcher Anſtalt gegen die Allmacht Gottes zu
freveln. Er baute gegen verwüſtende Ströme Dämme, um ſeine
Hütte wider die Fluth des Waſſers zu ſchützen, er erfand und
gebrauchte Spritzen, um in ausbrechender Feuersbrunſt ſeine
Wohnungen nicht in Aſche verwandeln zu laſſen, ohne zu be—
ſorgen, durch ſolche Mittel der Selbſterhaltung den allmächtigen
Gott und die allwaltende Vorſehung zu beleidigen. — Aber die
Blitze des Himmels zu zaͤhmen, ſchien ihm Vermeſſenheit, ſchien
ihm eine Thorheit. Er tadelte es mit gottesfürchtigem Ernſte,
— 263 —
bis das Beiſpiel der Klügern und die Erfahrungen der Nützlich⸗
keit fein Vorurtheil ſchwächten; da begriff er, daß Gottes Weis⸗
heit dem Menſchen Verſtand gab, ſich gegen die Gefahren in der
Natur zu verwahren, und daß Gebet und Geſang und Geläute
geweihter Glocken eben ſo wenig die Wetterwolke mit ihren Blitzen,
als die Waſſerfluth ausgebrochener Ströme von den Wohnplätzen
der Sterblichen abwehrt.
Längſt ſchon war der Menſch, wenn ſein Leichnam erkrankte,
geneigt, ſich heilſamer Arznei zu bedienen, ohne zu fürchten, da⸗
durch dem Willen Gottes vorzugreifen. Der Kranke ſcheut ſich
nicht, feiner Geſundheit willen, willig die Adern zu öffnen, oder
Dinge zu genießen, die er unter andern Umſtänden als wirkliche
Gifte gekannt. Schon Sirach, der weiſe Mann, ſprach: Ehre
den Arzt mit gewöhnlicher Verehrung, daß du ihn habeſt zur
Noth, denn der Herr hat ihn geſchaffen, und die Arznei kömmt
von dem Höchſten, und Könige ehren ihn. Der Herr läßt die
Arznei aus der Erde wachſen und ein Verſtändiger verachtet ſie
nicht. Ward doch das bittere Waſſer ſüß durch ein Holz, auf
daß man ſeine Kraft erkennen ſollte. Und er hat ſolche Kunſt
dem Menſchen gegeben, daß er geprieſen würde in ſeinen Wun⸗
derthaten. (Sirach. 37, 1. 6.)
Als nun aber in unſern Tagen das Geheimniß kund ward,
die ſcheußliche Seuche der Kinderblattern durch Einimpfung von
ähnlichen Kuhpocken zu vertilgen, oder bis zur Unſchaͤdlichkeit zu
ſchwächen: ſiehe, da erhob ſich widerſpenſtig das Vorurtheil.
Seit dreißig Jahren und länger ſahen wir in den verſchiedenſten
Ländern der Welt die wohlthuende Erfindung von Gott mit glück⸗
lichen Erfolgen geſegnet; tauſend und tauſend Kindern ward
| Schönheit, Gebrauch der Augen und des Gehörs und das Leben
ſelbſt gerettet; tauſend und tauſend zärtliche Väter und Mütter
en mit Thränen dem Himmel für die Wohlthat, welcher
nach ſo langen, ſo vielfachen Erfahrungen auch kein Schatten
übler Folgen nachſchleicht. — Aber blöde, erſchrocken und mit
Abſcheu ſelbſt ſtiert das Vorurtheil die neue Erſcheinung wie
einen Frevel gegen Gott an. Mit grauſamer Unwiſſenheit opfert
es ſeinem Eigenſinn Wohlgeſtalt, geſundes Blut, Lebensglück
— 20 = 5
und Leben blühender Kinder; ſchaudert vor möglichen Folgen des
eingeimpften thieriſchen Stoffes, vor Folgen, die ſeit einem Men⸗
ſchenalter noch nicht erſchienen, während es harmlos dem täglichen
Würgen der Blatternpeſt zuſchauen kann.
Wohl habe ich Recht, vor den entſetzlichen Wirkungen herr⸗
ſchender Vorurtheile zu erzittern — aber noch einmal: bin ich
jelber von jedem Vorurtheile frei? O wie parteiiſch bin ich doch
oft im alltäglichen Leben, wie liebe ich ſo manches, wie fürchte
ich ſo manches, ohne einen Grund zu haben, als welchen eine
vorgefaßte gute oder böſe Meinung gewährt! — Ach, ich ſelbſt
erkenne meine eigenen Schwächen viel zu wenig!
O mein Schöpfer, Du haſt mich mit Verſtand ausgerüſtet;
wohl habe ich ihn oft auch träger Weiſe verſäumt, und ohne zu
prüfen gewählt. Ich will mit Aufmerkſamkeit mich ſelbſt be⸗
lauſchen, und ſorgfältig jedem Irrthum zu entweichen ſuchen,
der mir als ſolcher offenbar wird. Prüfen will ich, ehe ich wähle,
prüfen, ſo weit es meine Kraft vermag. Doch Einer vermag nicht
Alles. Ich will die Urtheile der Weiſen und Erfahrnen hören,
will durch ſolche mich des Beſſern belehren, das Gute behalten,
und mit Vertrauen auf Deinen Segen und Beiſtand anwenden.
Amen.
)
„ ED
30.
Reg Glaube an menfchliche Tugend.
Kol. 3, 12. 13.
An der Tugend Daſein zweifeln,
Heißt: ſich ſelbſt die Hölle bau'n,
Nings umher ein Heer von Teufeln,
Statt verwandter Seelen, ſchau'n.
Unſers Argwohns düſtrer Blick
Stößt den Nedlichſten zurück.
Willſt du Lieb' und Treu' begehren,
Mußt du Andern fie gewähren.
Menſchen haben ihre Schwächen,
Darum werd' ich nicht ihr Feind.
Nichts ſoll da mein Zutrau'n brechen,
Wo der Gottheit Bild erſcheint;
Auch der Böſewicht nährt doch
Irgend eine Tugend noch.
Was du forderſt, mußt du geben,
Um geliebt und froh zu leben.
Fi
Willſt du wiſſen, ob deine Bekannten oder Freunde herzens—
gute Menſchen ſind? — Gib nur Acht auf ſie, ob ſie auch wohl
| fähig find, an die Herzensgüte anderer Menſchen zu glau—
ben. Beobachte, wie ſie von gewiſſen in der That lobenswürdigen
Geſinnungen und Verrichtungen der Menſchen urtheilen; ob fie
nicht ein ſchmälerndes Aber hintennach ſenden; oder ob fie nicht
mit der Miene der Klugheit und Menſchenkenntniß einen Verſuch
machen, die erſten Urſachen der belobten Dinge, irgend eine un⸗
rühmliche Triebfeder der geprieſenen Tugenden, aufzuſpüren.
Wer ohne Arg gern von ſeinen Miterſchaffenen das Beſte
glaubt, nicht nur nützliche Thaten, fromme Aeußerungen, groß⸗
müthige Unternehmungen für nützlich, fromm und großmüthig
hält, und ihnen keinen ſchlechten Grund unterſchiebt, ſondern
ſogar ſchwer daran zu bringen iſt, die Leute für fo böfe zu halten,
als ſie zuweilen zu ſein ſcheinen; noch weniger aber ſich auf das
Urtheil derer einläßt, welche von dem Mitmenſchen gern das
‚Lächerlichite oder Nachtheiligſte aufzuſpüren wiſſen, — der hat
gewiß ſelbſt ein gutes Herz; dem vertraue dich; der meint es in
Allem, was er dir zuſagt, redlich, wiewohl er darum noch nicht
III. 12
=.
ohne Schwächen iſt. Wir nennen eine ſolche Perſon gutmüthig,
und mit Recht, weil ſie eines guten Gemüthes iſt. Es iſt aber
noch ein großer Unterſchied zwiſchen Gutmüthigkeit und Leicht⸗
gläubigkeit, wiewohl es Leute genug gibt, die dieſe beiden Dinge
gern für einerlei halten. Denn wäre der Gutmüthige zugleich
ein Leichtgläubiger, ſo wäre er nicht mehr gutmüthig, weil er
das Böſe eben ſo gern glauben würde, was man ihm von An⸗
dern erzählt. Allein ſein reines Gemüth ſtraͤubt ſich, ſo viel
Schlechtigkeit im Menſchen für möglich oder wenigſtens in den
einzelnen vorgebrachten Fallen für wahr zu halten.
Findeſt du hingegen unter deinen Bekannten und Freunden
Leute, die, wo Jemand belobt wird, bedenklich und zweideutig
dazu lächeln, oder eine Bemerkung hinzufügen, die da verräth,
daß ſie Zweifel an dem reinen Urſprung der belobten Dinge
haben; Leute, welche bei jedem Anlaſſe das Schlimmſte arg⸗
wöhnen; Leute, die ſogleich aus jedem Wort, aus jedem Schritt
eines Andern eine unlöbliche Abſicht vermuthen; Leute, die ſo⸗
gar einen Gefallen daran finden, den Werth anderer Perſonen,
wenn fie auch anerkannte Verdienſte haben, mit hamiſchen oder
witzigen Anmerkungen zu verkleinern; oder Leute, die ein ganz
eigenes Talent beſitzen, immer das Schiefe, Lächerliche, Klein⸗
liche, Mangelhafte von Abweſenden ausfindig und bemerkbar zu
machen — hüte dich vor dieſen! Sie ſelbſt ſind bösmüthig. Ihr
Herz iſt ein truͤber, unreiner Spiegel, darum muß ſich Alles darin
unrein abſpiegeln. Sie können zwar daneben viel liebenswürdige
Eigenſchaften beſitzen; fie konnen viel Klugheit, viel Erfahrung
haben — dennoch iſt noch etwas Unreines in ihrem Gemüthe,
das aus ihrem ganzen Weſen ſpricht. \
Leider werden wir von der Zahl der Letztern weit mehrern in
der geſellſchaftlichen Welt begegnen, als von der Zahl jener reinen,
gutmüthigen und frohherzigen Menſchen. Der Glaube an die
Tugend iſt ſo ſelten, das Mißtrauen in Alles, was den Schein
und Werth des Edeln, Uneigennützigen und Rechtſchaffenen hat,
ſo alltäglich, daß, wenn man nach einer langen Einſamkeit mit
einmal in die Geſellſchaften traͤte, man aus den Reden der Men⸗
ſchen ſchließen ſollte, die ganze Welt waͤre nur von Thoren und
Laſterhaften bevölkert. Ueberall Stimmen des liebloſen Arg⸗
wohns; überall Warnungen der Mißtrauiſchen; überall Be⸗
tadelung der Menſchen, auch wenn ſie das Beſte vollbracht haben.
Woher dieſer böſe Geiſt, der die engern Bande des geſelligen
Lebens zerſchneidet, Brüder von Brüdern zurückſtößt, und durch
Veranlaſſung grundloſer Furcht oder unheilbringender Mißver⸗
ſtändniſſe Eisfälte in alle Herzen trägt, die doch dazu geſchaffen
waren, ſich zu lieben? Iſt die Menſchheit wirklich in eine ſolche
Tiefe von Verderbtheit oder Thorheit verſunken, als uns die
lebensklugen Leute gern glauben machen wollen, welche den Men⸗
ſchen zu kennen vorgeben? Iſt die reine, ungeſchmückte Tugend
wirklich aus jeder Bruſt entwichen, daß wir ſie nicht mehr auf
Erden zu ſuchen haben?
Ach, dieſer böſe Geiſt geht aus mancherlei traurigen Ver⸗
haͤltniſſen des Lebens hervor, und zerftört das Werk Jeſu Chriſti
auf Erden, die allgemeine Eintracht und Liebe der Seelen. Am
häufigſten aber ſteigt er aus einem bösmüthigen, von offenbaren
oder geheimen Leidenſchaften vergifteten Herzen. Denn, weil
Jeder ſo ziemlich ſein eigenes Innere, das er Andern klüglich zu
verhehlen weiß, am genaueſten kennt, beurtheilt er das menſch⸗
liche Herz überhaupt nach ſeinem eigenen. Dies iſt ein natürlicher
Gang der Dinge, weil es ſchwer hält, Andere ſo tief zu erkennen,
ſo häufig bei den wahren Triebfedern ihrer Handlungen zu be⸗
lauſchen, als ſich ſelbſt.
Wer folglich ein Urtheil über die Welt ausſpricht,
| der ſpricht es aus, wie fie ſich in feinem eigenen Ge-
müth abſpiegelt; und ſpricht damit feine eigene Herzensgüte
oder Unreinheit aus. Wer häufig auf verbotenen Wegen ging,
vermuthet das Gleiche von Andern, und ſo iſt das bekat inte
Sprichwort voll tiefer Wahrheit: Was ich denk' und thu', trau’
ich Andern zu.
Eine Perſon, die gewohnt iſt, nichts zu thun, als wovon
ſie auf dieſe oder jene Weiſe einen Vortheil ziehen kann, und
immer nur auf ſich ſieht, und immer nur fragt: Was habe ich
am Ende davon? — ſchwerlich wird fie ſich überreden laſſen, daß
es wirklich uneigennützige Menſchen in der Welt gebe. Sie wird
— 268 —
an keine reine Tugend auf Erden mehr glauben, weil ſie deren
ſelbſt ganz unfähig tft, und keine Aufopferungen ihres Vortheils
und Glücks zum Wohl anderer Menſchen machen kann. Findet
ſie aber dennoch Leute, bei deren Handlungen ſie gezwungen iſt,
einen hohen Grad von uneigennütziger Selbſtverläugnung anzu⸗
erkennen: ſo wird ſie ſolche geradezu bei ſich entweder für dumm,
oder ſchwarmeriſch, oder närriſch halten.
Wer, was er auch Gutes und Nützliches ſtifte, dabei jedes
mal ehrgeizige Abſichten im Hintergrund hat, wird, was er auch
von Andern Vortreffliches rühmen höre, immer dabei voraus⸗
ſetzen, es ſei aus Begierde nach Ehre geſchehen. Er wird dieſen
Beweggrund nicht einmal für unlauter anſehen, ſondern ehe
edel finden.
Daß es viele Menſchen gebe, die aus der reinften ueber⸗
zeugung von ihren Pflichten dieſe vollſtrecken, ja das Schwerſte
vollbringen können, Vermögen, Geſundheit und Leben für An⸗
derer Wohlſein und Rettung hinopfern können, ohne daran zu
denken, daß dies etwas Ehrenvolles ſei; ja, die es im Vorborgenen
thun, und Keinen als den allwiſſenden Gott dabei zu Zeugen
haben — das wird der Ehrgeizige mit Kopfſchütteln bezweifeln.
Der Wollüſtling glaubt nicht mehr an wahrhaft keuſchen
Sinn; er hat kaum einen Begriff davon. Er bildet ſich ein, Alles
ſei verführbar oder verführt; Alles huldige den thieriſchen Trie—
ben, die ſich ſeines eigenen Weſens ganz bemächtigt haben. Er
hat keine Achtung für Unſchuld. Ihm iſt die Schamröthe nur
ein Zeichen alberner Einfalt und Blöͤdigkeit, oder eines ſchuld⸗
bewußten Herzens; ihm iſt der Abſcheu gegen Unzucht nur ſchlaue
Ziererei, Aushängefchild der Gefallſucht, fade Scheinheiligkeit.
Und ſo beurtheilt Jeder des Andern Beweggründe zum Han—
deln nach denen, die er ſelbſt in ſich am haͤufigſten erblickt. Da⸗
her das allgemeine Zweifeln an unbeſcholtener, reiner, ächtchriſt⸗
licher Tugend; daher die Neigung, überall etwas Unrühmliches
und Arges zu vermuthen; daher der Mangel des RER an
das menſchliche Herz.
Zuweilen iſt aber dieſer Mangel des Vertrauens en Men:
ſchenwerth auch nur die Frucht trauriger Erfahrungen; und ges
— 269 —
wöhnlich werden diejenigen, welche den Menſchen am heißeſten
geliebt haben, nach mehrmaligen Täuſchungen feine unverſöhn⸗
lichſten Verächter und Feinde. Man hat viele Beiſpiele, daß
Fürſten, welche in jugendlichen Tagen die größten Hoffnungen
von ſich erweckten, und das Muſter der Güte und Menſchen⸗
freundlichkeit waren, nachmals, wenn ſie einige Jahre lang die
Regierung geführt hatten, in Tirannen und Verächter des Men⸗
ſchengeſchlechts entarteten. Denn wenn ſie ſich von allen Seiten
mit Schmeichlern, Verleumdern und Selbſtſüchtigen umringt
ſahen; wenn ſie ſahen, wie, wer zu ihnen ſich hindrängte, nur
kam, um an Andern eine Rache zu ſättigen, oder feinem Stolz
ein Genüge zu thun, oder Gold zu gewinnen; wenn ſie ſahen,
daß gegen ihren Wink keine Tugend ſtark genug zum Widerſtand
war; daß Alles ſklaviſch den elendeſten Leidenſchaften zu Gebote
ſtand: ſo mußten ſie in der Wirklichkeit eine harte Widerlegung
ihrer ehemaligen Vorſtellungen von menſchlicher Tugend erblicken;
Verdacht auch gegen den edelſten ihrer Unterthanen faſſen, ihn
höchſtens für verſtellungsvoller und verſchmitzter als Andere
achten; ſie mußten Alles für einen lieblichen Traum halten, was
ſie ſonſt vom Werth des Menſchen glaubten. Umgeben von feilen
oder ſchwachen, oder durch Leidenſchaft beſeelten Menſchen (denn
die genügſame Tugend drängt ſich nicht zum Glanz der Höfe),
hielten ſie ſich nun ſelbſt für enttäuſcht, und behandelten die
Menſchheit mit jener Verachtung, die ihnen durch fo viele verab-
ſcheuungswürdige Erſcheinungen eingeflößt worden war.
Es gehört nicht zu den Seltenheiten, daß ein zartfühlendes
Herz, welches einmal durch Untreue und Verrätherei einer ge—
liebten Perſon gebrochen worden iſt, den großen Schmerz nicht
zum andern Mal fühlen will, ſich auf ewig den engern Verbin⸗
dungen mit dem andern Geſchlecht entzieht, und Alle, die zu
demſelben gehören, für unbeſtaͤndig und treulos erklart. Es iſt
nichts Seltenes, daß, wer von einem ſeiner theuerſten Freunde
auf eine ſchändliche Weiſe betrogen ward, von da an einen un-
austilgbaren Verdacht gegen Treue und Redlichkeit und Freund⸗
ſchaftsſinn der übrigen Menſchen faßt. Es iſt nicht ſelten, daß
Perſonen, denen mehr als einmal das Gute, was ſie zu ſtiften
bemüht waren, durch Bosheit und Schadenfreude vereitelt, deren
redlichſter Sinn immer falſch ausgelegt, denen mehr als ein
wohlthätiges Wirken und Lieben mit dem ſchwärzeſten Undank
bezahlt ward — daß ſie, ſage ich, zuletzt Mißtrauen und Wider⸗
willen gegen Jedermann hegen, welcher das Unglück hat, zum
menſchlichen Geſchlecht zu gehören.
Ach, dieſe Art des Menſchenhaſſes, wir wollen ſie nicht zu
hart verdammen; Keiner iſt derſelben fähig, als wer gut war,
und die Menſchheit mit Ernſt und Innigkeit liebte. Er iſt noch
jetzt gut, aber verwundet, und darum krank, und darum unge⸗
recht gegen Millionen, weil ihn Einige, die er zu kennen glaubte,
und doch nicht genug kannte, allzuhart betrogen. Er iſt nur einen
Augenblick irre geworden an ſich und der Welt, und in ſeinem
gereizten Zuſtande verliert er ſich, oder tröftet er ſich in Ueber⸗
treibung des Uebels. Nur dann iſt er am meiſten zu tadeln, wenn
er nicht ſtark genug iſt, ſich wieder zu ermannen, und für das
Glück der Menſchen ununterbrochen das Möglichſte und Höchfte
zu thun, ohne von ihnen eine leiſe Erwiederung zu hoffen. Denn
dies iſt Chriſtusſinn. Wie ward Jeſus nicht von ſeinem Freunde
verrathen; wie ihm nicht mit Schmach und Undank von aller
Welt begegnet! Und doch verkannte er das Menſchengeſchlecht nicht,
und betete für die, welche ſein Herz gebrochen hatten.
Man muß aber ſolche, ich möchte ſagen edle, Menſchenhaſſer
nicht mit ſolchen Perſonen verwechſeln, welche durch eine gewiſſe,
krankhafte, reizbare Stimmung, oder durch das Bewußtſein ihrer
Schwäche, das Mißtrauen gegen Andere bei ſich gleichſam zur
Natur gemacht haben. Sie konnen dann nicht anders, als im⸗
mer fürchten, immer argwöhnen. Ohne eigentlich bösmüthig zu
ſein, ſind ſie doch ärgerlich und empfindlich. Was auch geſagt
und gethan werden mag, fie legen es für ſich ſelbſt nie günftig
aus; mögen gern glauben, es ſei mit Allem darauf abgezielt, ſie
zu kranken. Ihnen ſcheint die halbe Welt ſich verſchworen zu
haben, ihnen Verdruß zu machen, ſie zu unterdrücken, zu ver⸗
folgen. Sie finden ſogar in ſolchen und ähnlichen Klagen ein
Wohlgefallen, ohne es zu wiſſen; bilden ſich ein, Jeder, der eine
„
Zeit lang mit ihnen zu thun gehabt, trete endlich in den Bund
iührer Feinde, und arbeite wider ſie, aus Neid oder Eitelkeit.
Der Argwöhniſche, ſei es nun aus körperlicher Kränklichkeit,
oder aus dem quälenden Gefühl von einer Schwäche im Ver⸗
hältniß zu Andern, macht ſich und Allen, die mit ihm leben
müſſen, das Daſein unerträglich. Er legt jedes Wort auf die
Wagſchale, lauert auf jedes Spiel der Mienen, und iſt auf eine
unbegreifliche Weiſe erfinderiſch, das Allerunſchuldigſte auf die
ſchlimmſte Weiſe für ſich zu deuten. Trotz und Angft wechjeln
immer in ſeiner Seele; er wird zu Liebe und Freundſchaft un⸗
fähig, weil er Keinem eine gerade, ſtandhafte und holde Denkart
zutraut. Er iſt ungerecht gegen Jedermann, weil er auf ſich ſelbſt
zu wenig Vertrauen hat, und folglich ungerecht gegen ſich ſelbſt.
Alle dieſe Arten, wie entweder der Mangel des Glaubens an
die Menſchheit entſteht, oder ſich äußert, tragen ungemein viel
zum herrſchenden Elend unſerer Tage bei. Sie erzeugen und
nähren die gegenſeitige Liebloſigkeit der Menſchen; denn wie könnte
man ſich doch einander lieben, wo man einander im Grunde des
Herzens nur verachtet, oder fürchtet? Dieſer Mangel des Glau—
bens an Menſchengüte macht die Menſchen in der Geſellſchaft zu
Heuchlern, welche, ohne einander aufrichtig zu ſchätzen, doch das
Verbindlichſte zu ſagen wiſſen; macht aus der Freundſchaft nur
eine Höflichkeit, aus Ehrenbezeugungen nur Zeremoniel und
widerliche Schauſpielerei. Darum werden Treue und Glauben
ſeltener, darum alle Tugend ſeltener, weil die Menſchen ihren
eigenen Glauben daran verlieren. Darum iſt ſo viel häusliches
Unglück, weil Keiner den Andern von Herzen werth hält, und
Jeder bekannt mit einzelnen Fehlern der Hausgenoſſen, allzu⸗
mißtrauiſch aus denſelben die Handlungen herleiten zu dürfen für
Recht hält. Das gegenſeitige Mißtrauen und innerliche Gering⸗
ſchätzen Anderer erkältet das Herz gegen waͤrmere, wohlwollendere
Neigungen; macht die geſellige Freude matter; vergiftet den rein-
ſten Lebensgenuß, welcher im häuslichen Kreiſe aufblühen kann;
wird täglich die finſtere Quelle von heimlichen Verdächtigungen,
lauten Beſchuldigungen, Vorwürfen, Anklagen, Neckereien;
bringt Zwietracht zwiſchen Herrſchaft, Hausgenoſſen, Nachbarn
= =
und Gefinde, zwiſchen Aeltern und Kinder, Gatten, Freunde und
Freundinnen.
Um die unſeligen Wirkungen des Mißtrauens und Uebel⸗
deutens zu erkennen, iſt es nicht einmal nöthig, dieſen Fehler in
ſeiner größten leidenſchaftlichen Ausdehnung wahrzunehmen.
Man beobachte nur einen Tag lang ſtillſchweigend das Innere
manches Hausweſens; beobachte, wie Einer vom Andern ſich
mehr oder weniger ungünſtige Vorſtellungen macht; wie Einer
dem Andern das geſprochene Wort gehäſſig deutet; Einer des
Andern Thun gern als Beleidigung aufnimmt und erwiedert.
Je weniger man in ſolchem Hauſe daheim iſt, um ſo auffallen⸗
der ſind dem Beobachter ſolche Erſcheinungen, und er wird mehr
als einmal den beſtändig Hadernden zuſprechen wollen: Ihr Un⸗
glücklichen! warum traut ihr euch auch immer nur das Bdfe und
nie das Gute zu? Warum verbittert ihr euch mit dieſem ewigen
Argwohn in tauſend unbedeutenden Dingen das Beiſammenleben?
Warum erſticket ihr durch dieſes gegenſeitige Mißverſtehen und
Uebelnehmen jeden Keim der Freundſchaft, welcher, wo nicht aus
der Gleichheit der Gemüthsarten, doch aus der Gleichheit der Ge⸗
wohnheiten und Lebensarten aufſprießen möchte?
So geringfügig und beinahe gleichgültig auch viele aus Miß⸗
trauen entſprungene unfreundliche Vorfälle im häuslichen Leben
zu ſein ſcheinen, ſind ſie doch von großer Wichtigkeit, und oft
wichtiger für Familienehre und Familienruhe, als der größte
Prozeß mit dem Fremden. Denn in hundert und hundert wieder⸗
holten kleinen Schlägen höhlt der fallende Regentropfen endlich
den Felſen aus, an welchem der harte Meißel zerſpringen kann.
Iſt dir nun dein haͤusliches Glück, iſt dir Lebensfrieden, iſt
dir dein Chriſtenglaube ein heiliges Gut: fo verbanne das Miß⸗
trauen aus deinem Gemüth; faſſe wieder Glauben zu menſchlicher
Tugend. Dein Wohlſein fordert es von dir, und die Religion
Jeſu, des göttlichen Weiſen, gebietet es dir. So ziehe nun an,
als Auserwählter Gottes, als Heiliger und Geliebter, herzliches
Erbarmen, Freundlichkeit, Demuth, Sanftmuth, Geduld; und
vertrage Einer den Andern; und vergebet euch unter einander, ſo
Jemand Klage hat wider den Andern; gleich wie Chriſtus euch
1
vergeben hat, ſo auch ihr. Ueber Alles ziehet an die Liebe, die
ga iſt das Band der Vollkommenheit; ſo ſpricht die heilige Schrift.
(Kol. 3, 12 — 14.) Aber die Liebe kann nicht in einem Herzen
wohnen, welches den Glauben an die Güte menſchlicher Herzen
verloren hat. Daher kommt es auch, daß wir Kindern mit größerer
Zärtlichkeit, als Erwachſenen, zugethan zu ſein pflegen, weil wir
jene noch für unſchuldiger und beſſer halten, oder doch für leichter
zu beſſern. .
Du wirſt ſagen: Aber es iſt ſchwer, darin ſeinen Sinn zu
ändern, wenn man einmal die Menſchen kennt, wie ſie heutiges
Tages oder wenigſtens in den Verhältniſſen ſind, in welchen ich
mit ihnen ſtehe; es iſt ſchwer, wenn man jo mancherlei unange-
nehme Erfahrungen von der Bösartigkeit des menſchlichen Ge-
müths überhaupt gemacht hat.
O nein, ich will dir ein einfaches Mittel anweiſen, durch
welches ſich plötzlich die mit dir lebenden Menſchen wenigſtens
rückſichtlich deiner verbeſſern, und alle deine bisherigen Er—
fahrungen umgeſtürzt werden, — dies iſt: werde du ſelbſt ein
herzensguter, reiner Menſch, überwinde mit chriſtlicher Strenge
deine eigenen Fehler, deinen Hang zur Wolluſt oder zum Ehr-
geiz, oder zum Eigennutz, oder zum Leichtſinn; werde, was dir
dein Gewiſſen ſagt, daß du ſein ſollſt, als ein Kind Gottes; und
wahrlich, vermagſt du das, ſo wird ſich der Glaube von ſelbſt
einfinden, daß auch andere Menſchen das Gleiche über ſich ver-
mocht haben. Sei gut, und die Menſchen werden dir mehr gut
als böſe vorkommen. Glaube an die Tugend, und du wirft fie.
finden überall; um aber an die Tugend zu glauben, mußt du
ſie haben.
Dann wirft du dich nicht allein überzeugen, daß auch wirf-
lich der verworfenſte Verbrecher nicht durchaus böfe und ver-
dorben ſei, und feine guten Seiten habe: ſondern du wirft dich
daran gewöhnen, bei Allen, mit denen du umgehſt, am liebſten
auf ihre guten Eigenſchaften hinzublicken, ſie deswegen zu achten,
und ihre andern Schwächen mit größerer Nachſicht zu behandeln.
Ja, was noch weit mehr iſt, du wirſt dann auffallend bemerken,
daß du ſelber durch dein bisheriges Benehmen manche innere
— 274 —
Schwäche erſt anſtößiger gemacht hatteſt. — So wie du einmal
dahin gekommen biſt, in jedem Menſchen ſein Gutes zu ſehen und
anzuerkennen, wirſt du ihn nothwendig darum ſchätzen, du wirſt
Gegenliebe erwecken; die vorherigen Schwächen werden ſich vor
dir zurückziehen. Du wirſt glückſeliger in deinen Verbindungen
ſein, als du jemals Hoffnung hatteſt zu werden. Deinem Zu⸗
trauen kommt das Vertrauen erwiedernd entgegen.
Und wenn du auch ſchon einmal in deinem Glauben getäufcht
worden wäreft, und wenn du auch einmal betrogen werden ſollteſt:
beurtheile nicht alle Menſchen nach einem einzigen! Schon dein
eigenes Gefühl ſagt dir: ſolch ein Urtheil ſei übereilt, unbeſonnen,
und höchft ungerecht gegen Unſchuldige. Ja, dein beſſeres Ge⸗
fühl wird dir ſagen, es ſei beſſer, hundertmal betrogen und ver⸗
kannt zu werden, als einmal Andere zu betrügen oder zu ver⸗
kennen. Der Undank der Menſchen ſoll dich nicht ſchmerzen,
denn Haft du wohlgethan, und geliebt, ohne eigennützkge Abſicht,
ſo hoffteſt du keinen Dank; thateſt du aber wohl, und wareſt du
gütig in Erwartung eines Dankes, ſo haſt du keinen verdient,
weil du nicht wohlthun, ſondern andere Menſchen zu deinen
Schuldnern machen wollteſt, ohne daß ſie dies zu werden von
dir begehrt hatten. Der Undankbare iſt bemitleidenswerth, nicht
aber der ächte, chriſtlich geſinnte Wohlthäter der Menſchen. Habe
Glauben an menſchliche Tugend, und würdeſt du auch einmal
und zehnmal getäufcht: laß dich lieber täufchen, ſtatt in beſtän⸗
digem Mißtrauen und immerwaͤhrender Angſt zu leben, getäufcht
werden zu können. Der Furchtſame verliert ſein Leben durch die
bloße Furcht, es zu verlieren.
31.
Die Macht der Wahrheit.
Joh. 3, 1921.
Himmelstochter, heil'ge Wahrheit,
Wort aus Gott, o Stern der Nacht!
Du haſt Leben, Troſt und Klarheit
In des Todes Staub gebracht;
Jeſus führte dich zum Throne
Gottes in das Geiſterreich;
Das brach der Tirannen Krone,
Und der Prieſter Stolz ward bleich.
Was ſich deinen Strahlenkreiſen
Heuchelnd nahet, wird zum Nichts;
Und die Kunſt der falſchen Weiſen
Stirbt am Zauber deines Lichts.
Unter deinem Banner ſtehen,
Kämpfen, ſterben will auch ich!
Mag die ganze Welt vergehen,
Gottes Wort bleibt ewiglich!
Des Menſchen Sohn, Jeſus Chriſtus, ſprach zu jenem Oberſten
der Juden, der zu ihm trat des Nachts, Wahrheit zu lernen vom
göttlichen Meiſter, folgende Worte voll tiefen Sinnes: „Das iſt
aber das Gericht, daß das Licht in die Welt gekommen iſt. Und
die Menſchen liebten die Finſterniß mehr als das Licht, denn ihre
Werke waren böſe. Wer Arges thut, haſſet das Licht, auf daß
ſeine Werke nicht ſtrafbar werden. Wer aber die Wahrheit thut,
der kommt an das Licht, daß ſeine Werke offenbar werden; denn
fie find in Gott gethan!“ (Joh. 3, 19 — 21.) Es iſt ein fchöner,
oft der einzige Troſt edler Menſchen in dieſen Worten des gött-
lichen Weiſen von Nazareth eingeſchloſſen.
Es iſt ein ſchöner, oft der einzige Troſt edler Menſchen, wenn
fie häufig Augen- und Ohrenzeugen der allgemeinen Verfchlech-
terung der Sitten und des Glaubens ſein müſſen, daß endlich
über die Werke der Finſterniß das Licht eines Tages hervorgehen
werde, der alle im Dunkeln getriebenen Schändlichkeiten in ihrer
ganzen Abſcheulichkeit offenbaret; daß endlich Wahrheit die
lange vergötterte Lüge überwinden, den ſtolzen Heuchler entlarven,
den andaͤchtelnden Wucherer der wohlverdienten Schmach preis⸗
win
geben, den Witz des albernen Religionsſpötters zerſchmettern,
den tückiſchen Stolz herrſchſüchtiger Prieſter und Phariſäer in
den Staub beugen, die Frechheit des ungeſtraften Ehebrechers
erſchüttern, die Geilheit des reichen Wollüſtlings züchtigen, die
Thränen der geſchändeten Unſchuld rächen, den ſchlauen Betrüger
und Mißbraucher fremden Gutes an den Pranger öffentlicher
Verachtung ſtellen, den hinterliſtigen Afterredner, den ſchaden⸗
frohen Verleumder verſtummen machen, den Verräther ſeiner
Brüder an den Fluch der Welt ausliefern werde.
Es iſt ein ſchöner, oft der einzige Troſt edler Menſchen, daß
die Wahrheit endlich obſiegen werde, und die lange verhöhnte
Tugend, das lange ſtraflos zertretene Recht wieder emporheben
werde, weil ſie Augenzeugen ſein müſſen, wie nichts Heiliges
mehr im Himmel und auf Erden iſt, das nicht vom wahnſinnigen
Selbſtdünkel und der Alles außer ſich verachtenden Selbſtſucht
entweiht wird; wie eine zahlloſe Menge der Chriſten höhnend
auf Chriſten blickt, und ſich, wie einer Kinderthorheit, der Reli—
gion ſchämt; wie eine noch größere Menge, verſäumt durch Re—
gierungen und Lehrer, im empörendſten Aberglauben, in tiefſter
Unwiſſenheit ſchmachten muß, ohne Kenntniß ihrer eigenen
Würde, ohne würdige Vorſtellung vom höchſten Gott, ohne
lautere Begriffe von ihrer ewigen Beſtimmung; wie Diener des
Altars, Nachfolger der Apoſtel, Verkündiger Jeſu Chriſti, oft
ſelbſt nicht glauben, was ſie lehren, und ihren heiligen Beruf
um des Brodes willen mit Gedankenloſigkeit treiben, wie ein
Handwerk: wie fie das gemeine Volk vorſätzlich im Irrthum bes
feſtigen, den fie ſelbſt verlachen, und dafür in Pracht, Luſtbar⸗
keiten und Schwelgereien ihre Tage verpraſſen; fie, die ſich Nach⸗
folger des demuthvollen Jeſu heißen, und Keuſchheit predigen,
während ſie Unzucht treiben; Menſchenliebe predigen, während
fie ſich Haß und Ränke erlauben; gegen Hochmuth eifern, wäh—⸗
rend fie ſelbſt von herrſchſüchtigen Begierden lodern, und den bis
zum Kerker verfolgen, der ihre Verworfenheit muthig offenbart.
Es iſt ein ſchoͤner, oft der einzige Troſt edler Menſchen, daß
endlich ein Tag erſcheinen wird, an welchem die Wahrheit als
hohe Nächerin ihrer Verächter auftritt, und dem Hohn der Mit-
1
und Nachwelt überantwortet die gekrönten Unterdrücker des Völker⸗
rechts und deren oft noch ſchändlichere Werkzeuge und Diener;
die ſklaviſchen Schmeichler und Vergötterer deſſen, der für den
Augenblick triumphirt; die den Staub küſſen von den Füßen
deſſen, den ſie wenige Stunden vorher, ehe ihn das Glück erhob,
verſpotteten, und den mit Füßen treten und läſtern, ware er auch
ihr Wohlthäter geweſen, der vom Glück verlaſſen worden; die
Ausſauger des Volks, welche Länder entmarken, um in Prunk
und Völlerei zu leben; die falſchen Richter, welche nicht Diener,
ſondern Verkäufer der Gerechtigkeit ſind; die treuloſen Beamten,
welche den Unterthan mißhandeln, den ſie nicht plündern! Ihrer
Aller, dieſer Verächtlichen, dieſer Chriſten ohne Chriſtenthum,
dieſer Anbeter ihres eigenen Nutzens, ohne einen andern Gott —
ihrer Aller harret ein Tag des Gerichts! — Das iſt aber das
Gericht, daß das Licht in die Welt gekommen iſt.
Es iſt gekommen! — Umſonſt ſchmeicheln ſich jene Laſter⸗
haften, man kenne ihre Unwürdigkeiten nicht. Man kennt ſie.
Man vergleicht, was ſie waren und jetzt ſind. Man weiß, was
ihr ſeid, aber nicht fein ſolltet. Umſonſt hoffet ihr, eure verbo-
tenen Werke durch künſtliche Bemäntelungen vor den Augen der
Welt zu verhüllen; man kennt eure Kunſtgriffe: es iſt des Lichtes
ſchon zu viel. Umſonſt hoffet ihr durch euer gegenwaͤrtiges An⸗
ſehen, durch den Einfluß und die Macht, deren ihr noch heute
genießet, die Kühnen zurückzuſchrecken, die zur Kunde eurer
Falſchheit, eures Betrugs gekommen ſind. Sie ſchweigen heute,
aber morgen ſind ſie eurer Gewalt entgangen; morgen reden ſie!
Umſonſt ſuchet ihr die Mitwiſſer eurer geheimen Schande durch
Freundſchaft, durch Geſchenke, durch Belohnungen zu feſſeln.
Sie nehmen eure Gaben, ſchwören euch Anhänglichkeit, aber —
ſie gleichen euch ſelbſt — morgen, wenn ſie beſſere Gelegenheit
finden, werden ſie eure Verräther.
Die Menſchen — alſo ſprach Jeſus — liebten die Fin—
ſterniß mehr, als das Licht, denn ihre Werke waren
böſe. Es war, da Jeſus kam, der bei weitem großere Theil der
Menſchen in die gemeinſte Sinnlichkeit verloren. Die Freiheit
war untergegangen, auf Erden lebten nur Tirannen und de⸗
— 278 —
müthige Sklaven, die den frechen Gelüſten ihrer Gebieter Beifall
gaben und Weihrauch ſtreuten. Aber die Menſchen wußten es
nicht beſſer, und glaubten, es müſſe ſo ſein, und von jeher ſei
es ſo geweſen. Die Fürſten hatten nur Rechte, die Völker nur
Pflichten. Für den Stolz der Könige mußten Nationen in ewi⸗
gen Kriegen bluten, und ſich noch ihres Elendes freuen. Tauſend
Göttern waren Altäre gebaut, von den Abgöttern der thieriſchen
Luſt und Leidenſchaft, aber zum unſichtbaren, lebendigen Gott
des Weltalls erhob ſich Keiner. Die Schriftgelehrten ſtritten über
Nebendinge und allerlei Auslegungen der Schrift mit großer
Spitzfindigkeit; aber Gott zu verehren im Geiſte und in der Wahr⸗
heit, und ſeine menſchenbeglückenden Gebote zu erfüllen, das
glaubten ſie nicht vonnöthen zu haben. Phariſäer trieben in den
Tempeln und Wohnungen Andächtelei, oder blendeten das Volk
mit Scheintugenden, um deſto ſicherer in der Stille Unfug zu
begehen; mahnten fleißig zum Beſuch der Tempel, zu Opfern,
Faſten und andern äußerlichen gottesdienſtlichen Dingen; aber
an Reinigung des Gemüths von herrſchenden Laſtern dachte Keiner.
Das Volk lag in der Nacht des Aberglaubens und der Unwiſſen⸗
heit. Wer es aufzuklären wagte, wurde gehaßt, verfolgt, in
Kerker geworfen, empfing den Giftbecher, und hieß bald ein Ver⸗
ächter der Gottheit und der Religion, bald ein Verführer des Volks,
bald ein Empörer. Denn die Menſchen liebten die Finſterniß
mehr als das Licht, weil ihre Werke böſe waren.
Aber Jeſus, der Offenbarer Gottes und der Wahrheit, kam.
Er brachte Licht in die Finſterniß. Er machte die Erkenntniß der
menſchlichen Rechte und Pflichten, Beſtimmungen und Hoffe
nungen nicht bloß zum Eigenthum einiger gelehrten Anſtalten,
ſondern er verbreitete ſie über alle Glieder des Volks, über alle
Nationen. Auch der Aermſte empfing ſie; auch der Unwiſſendſte
begriff ſie. |
Da zitterten die gekrönten Laſter, fie ſahen ihren Untergang.
Da erjchrafen die Tirannen, denn fie fürchteten, mit der Wahr-
heit komme wieder die Freiheit in die Welt. Da ergrimmten die
falſchen Prieſter, deun nun erkannte Jeglicher ihre Unwürdigkeit,
und daß nicht das Kleid, ſondern die Weisheit und Heiligkeit des
— Be
Gemüths den wahren Prieſter mache. Da tobten die Böfewichte
aller Gattung, weil Gewaltſprüche nicht mehr Recht ſein ſollten,
Rund dem Himmel nicht mehr die Vergebung aller Sünden mit
Opfern und Faſten, mit Wallfahrten und Tempelbeſuchen, mit
langen hergeplapperten Gebeten und reichen Almoſenſpenden ab⸗
gekauft werden konnte. Darum verfolgten ſie Jeſum, der das
Licht der Welt geworden war, und ſchleppten ihn zum Tod am
Kreuze. Denn wer Arges thut, der haſſet das Licht, auf
daß ſeine Werke nicht geſtraft werden.
Doch vergebens! — das iſt die Macht der Wahrheit, daß ſie
auch den Weltdeſpoten ſtürzt und Kriegsheere entwaffnet, taufend-
jährige Ketten bricht, und die Zauberformeln falſcher Weiſen
zum Spott der Kinder macht. Jeruſalems Tempel zertrümmerte;
die Opferaltäre des Heidenthums brachen zuſammen; der Scepter
Roms, der über den Erdkreis ſchaltete, ward Staub; alte Reiche
verſtoben, neue Reiche kamen auf — aber in den ſchrecklichen Um⸗
wälzungen beſtand ſieghaft Jeſu Lehre. Himmel und Erde mogen
vergehen: Gottes Wort, die beſeligende Wahrheit, bleibt ewiglich.
Aber die Kinder der Finſterniß, Menſchen, welche nur ihren
Leidenſchaften fröhnten, kämpften fortdauernd gegen die Verbrei⸗
tung des göttlichen Lichts in der Welt. Die Rohheit und Un⸗
wiſſenheit barbariſcher Völker kamen ihnen zu Hilfe, die aus
fernen unbekannten Gegenden hervorgingen, und erobernd die
ſchönſten Länder des Erdbodens in Beſitz nahmen, wenige Jahr-
hunderte nach Chriſti Geburt. Deß freuten ſich die, welche die
Finſterniß liebten. Was das Alterthum noch Gutes, Großes und
Schönes gehabt, ward vernichtet. Selbſt das Chriſtenthum ent⸗
artete in ein neues Heidenthum. Menſchen hoben ſich in thörichter
Einbildung an Gottes Stelle. Man ſah neue Opfer, neue Al-
täre, neue Faſten, neue Phariſäer. Man ftritt ſich um die Eigen⸗
ſchaſten der Perſon Chriſti, ohne an ſeine Lehre zu denken, durch
welche er die Menſchen vollkommen machen wollte nach Gottes
Ebenbilde; führte wieder äußerliche Gottesdienſtlichkeiten ein, ftatt
auf des Herzens Heiligung zu dringen; entzweite ſich, und brachte
Spaltungen und Parteien in die Gemeinſchaft der Chriſten, indem
man Glaubenslehren erfand, von denen Jeſus nie geredet, und
=
Spitzfindigkeiten erſann, die keinen Sterblichen beſeligen. Doch
vergebens. Die Macht der Wahrheit ſiegte. In jedem neuen
Jahrhunderte feierte ſie neue Triumphe. Die Thorheiten der
Menſchen gingen eine um die andere in Vergeſſenheit — aber
Gottes Wort, die Wahrheit des Lebens, bleibt ewiglich. |
Noch heute ringt das Licht der Lehre Jeſu mit der Nacht der
Barbarei, die unbeſiegbare Wahrheit mit dem Irrthum der Un⸗
wiſſenheit und den Kunſtgriffen der Leidenſchaften. Denn noch
heute haſſet das Licht, wer Arges thut, auf daß ſeine Werke nicht
geſtraft werden. N
Wenn Jeſus, der Göttliche, heute wieder in göttlicher Geſtalt
auf Erden wandelte, ein Urbild unbeſcholtener Tugend, ſtiller
Demuth, inniger Verläugnung alles deſſen, was der irdiſch ge⸗
ſinnte, gewöhnliche Menſch als das herrlichſte Ziel feiner Begier—
den ehrt: wie viele würden wohl unter den Chriſten auf ihn blicken?
Wie viele unter den Erdengroßen, welche zu ſeinen Altären wan⸗
deln, würden ihre Eroberungsſucht ablegen, und lieber Nationen
glücklich als blutigglänzend machen wollen? Wie viele von denen,
welche ſich Verkünder des Gekreuzigten heißen, würden ihrer
Eitelkeit, ihrer Prachtluſt, ihrer Habſucht entſagen, um heilig und
edel zu werden, wie ihr Meiſter? Wie viele beſtechliche Richter,
wie viele Heuchler, wie viele Wollüſtlinge, wie viele Wucherer,
wie viele Trunkenbolde würden ihren Laſtern abſchwören, um
ihm nachzufolgen? Wie viele Reiche und Wohlhabende würden
einen beſſern Gebrauch von ihrem Vermögen machen, um ſeine
wahren Jünger zu fein? Und wenn Jeſus unter uns in der Ma⸗
jeſtät ſeiner Unſchuld die donnernde Stimme erhöbe gegen die
Entweihung der Gottestempel durch Buhlſchaften, Prunktreiben,
boshafte Witzeleien, Scheinheiligkeiten und Gewohnheitswerke;
wenn er das Otterngezüchte jchälte, die das Gute predigen, die—
weil fie böfe find; wenn er den Rachſüchtigen zuriefe: liebet eure
Feinde! wenn er zu der blinden Menge ſpräche: das Volk nahet
ſich zu mir mit ſeinem Munde, und ehret mich mit ſeinen Lippen,
aber ihr Herz iſt fern von mir; aber vergeblich dienen ſie mir, die—
weil ſie lehren ſolche Lehren, die nichts denn Menſchengebote ſind!
(Matth. 15, 8. 9.) — würde Jeſus nicht heute bald ein Schwär-
- Me
mer, bald ein Empörer, bald ein aufflärender Feind des einge-
führten Gottesdienſtes, bald ein Sektirer, bald ein unehrerbietiger
Gegner der Throne und Altäre heißen? Würden ſich nicht An⸗
fläger, würde ſich nicht ein Kaiphas finden; würde, wenn ſchon
ein Pilatus ſpräche: ich waſche meine Haͤnde in Unſchuld, und
ich ſehe nichts des Todes Würdiges an dieſem Menſchen! würde
nicht ein aufgereizter Pöbel vorhanden ſein, der noch einmal das
„Kreuzige! Kreuzige!“ ſchrie?
Ja, noch ringt heutiges Tages dus Licht der Wahrheit gegen
die Finſterniß des Irrthums und ſelbſtſüchtiger Begierden; darum
haſſet noch heute, wer Arges thut, das Licht, auf daß ſeine Werke
nicht geſtraft werden, indem Jedermann ſeine Elendigkeit erkennt.
Doch Gottes Wort bleibt ewiglich. Die Wahrheit wird obſiegen.
Eure Reiche werden zertrümmern, eure Ordensbänder vermodern,
eure Schulweisheit vergeſſen, eure frommen Hoffärtigfeiten ver-
nichtet werden; aber die ewige Wahrheit bleibt und richtet euch
in Aller Herzen. Sie richtet euch, wie im Herzen der Gerechten,
ſelbſt im Gewiſſen eurer Mitſchuldigen. Sie richtet euch im
Munde der Nachwelt über euern Gräbern. Sie richtet euch im
Munde des Todtenrichters unter den Schrecken der Ewigkeit! —
Verfolget immerhin den, der die Wahrheit ausſpricht: die Wahr⸗
heit ſelbſt koͤnnet ihr nicht in den Kerker ſperren, nicht in Feſſeln
ſchlagen, nicht mit Acht und Bann aus dem Reich der Geiſter
treiben. Tödtet immerhin den Bekenner der Wahrheit: die Seele
laſſet ihr ungetödtet, und die Wahrheit iſt unſterblich, auf daß
ihr durch ſie gerichtet werdet.
Wer aber die Wahrheit thut, der kommt an vas Licht,
daß feine Werke offenbar werden; denn fie find in Gott
gethan!
Er kommt an das Licht, denn er handelt in Gott, und Gott
iſt mit ihm, und Gott wirkt durch ihn; denn die Wahrheit iſt
aus Gott. — Er kommt an das Licht; er fürchtet das Gericht der
Wahrheit nicht. Seine Werke ſind in Gott gethan. Warum ſollte
er vor den Menſchen ſcheu ſein? Der Freund der Wahrheit,
furchtbar jedem Böſewicht, welcher von ihm entlarvt zu werden
beſorgt, empfindet ſelbſt keine Furcht vor ihm.
—
Das iſt die Macht der Wahrheit, daß fie ihren Freund mit
einem hohen, göttlichen Muthe beſeelt, und ihn alle Schrecken
des Todes verachten lehrt. Sie gibt dem Schwachen Stärke, daß
er kühn dem Gewaltigſten der Erde vor das Antlitz tritt. Sie
gibt dem Niedrigſten eine Hoheit, vor welcher ſelbſt der ſchuld⸗
bewußte Tirann erzittert. Sie macht den Mund des Ungelehrten
beredt, daß alle Ueberredungskünſte der Schlauheit daneben zu
Schanden werden; ihr Lichtſtrahl zuckt mit wunderbarer Schnellig⸗
keit durch alle Geiſter, und überwältigt Alle, die ſich dagegen
ſträuben möchten. Verläugnen kann der Böſewicht die Wahr⸗
heit, aber darum hat er ſie nicht minder anerkennen und ihren
durchdringenden Schmerz in ſeiner Bruſt fühlen müſſen.
Wer dem menſchlichen Geſchlechte eine neue Wahrheit bringt,
hat mehr erobert, als wer mit ſeinen Waffen ein Weltreich ſtiftet.
Denn dies Reich wird vergehen; es iſt irdiſch. Aber die Wahr⸗
heit ſteht ewig feſt im Reiche der unſterblichen Geiſter. Wer die
Wahrheit thut, der kommt an das Licht, daß ſeine Werke offen⸗
bar werden, denn ſie ſind in Gott gethan. Warum zitterſt du,
Kleinmüthiger, in Erfüllung deiner Pflichten, daß du durch ſie
anſtößig werden könnteſt? Deine Pflicht iſt göttlich — warum
fürchteſt du Menſchen? Warum ſchämſt du dich, vor der Welt
jo redlich, fo gerecht, jo fromm zu fein, als du fein könnteſt, jo
zu erſcheinen, wie du wirklich in dir denkſt und biſt? Tritt hervor
an das Licht, laß deine Werke immerdar offenbar werden, denn
ſie ſind in Gott gethan.
Es kommt an das Licht, wer die Wahrheit thut, daß ſeine
Werke offenbar werden. Darum verzage nicht, o du edler Unter⸗
drückter, deine Unſchuld wird vergebens in Nacht begraben. Der
Strahl der Wahrheit erleuchtet ſelbſt die Gräber. Und ſchweigen
die feigen Lebenden, Gott wird den Todten Zungen geben, deine
Rechtfertigung zu führen. Verzage nicht, noch ließ Gott die Tu⸗
gend nicht auf immer untergehen, denn die Tugend iſt Wahrheit.
Sie findet ihren Vertheidiger ſelbſt im Gewiſſen deſſen, der ihr
Verderben geſchworen hat. — Verzage nicht, du, den die Welt
verkennt und verleumdet: haſt du die Wahrheit gethan, ſo werden
deine Werke offenbar werden, denn ſie ſind in Gott gethan! Deine
„
Gerechtigkeit wird einſt anerkannt, deine Warnung einſt erfüllt,
die Schaar deiner Gegner durch die Gewalt der Wahrheit ge⸗
richtet werden. |
Urquell, heiliger, reiner Urquell alles Lichts und aller Wahr⸗
heit, mein Gott und mein Vater, zu Dir erhebt ſich in Anbetung
mein Geiſt, daß er ſich in Dir heilige, lautere und ſtaͤrke! —
Auch ich, auch ich will auf Dein Geheiß die Werke der Wahrheit
verrichten ohne Menſchenfurcht; will verbannen aus mir die fin⸗
ſtere Gewalt des Irrthums und der Leidenſchaft, und da ſtehen,
mir ſelbſt getreu, wie ich ſein ſoll nach Deinem Willen, den mir
Jeſus offenbaret hat. — Fern ſei von mir in Zukunft Nachred⸗
nerei alles deſſen, was die Welt gern ſagt und hört, und was
meinem Gewiſſen und meinen Ueberzeugungen widerſpricht. Fern
ſei von mir jene feige Heuchelei, welche um den Beifall verdor⸗
bener Herzen buhlt, und öffentlich das Schlechte lobt, was ſie im
innerſten Gemüth verdammt. — Nein, ganz der Wahrheit ange⸗
hören will ich in Wort und Werk, ihr, durch die ich einſt gerich⸗
tet werden werde; ich will ihr mein Leben bringen; ſterben, wenn
es ſein muß, für ſie, wie Jeſus ſtarb und mancher ſeiner edeln
Nachfolger.
Heilige mich, Gott, ftärfe mich in Deiner Wahrheit; Dein
Wort iſt Wahrheit. Amen.
— 284 —
| 32.
Die Welt dein Spiegel.
Pſalm 104, 24.
Wo iſt, o Gott, ein Elend auf der Erde,
Das von der Sünde nicht erzeuget werde?
Stets enden ſich der Uebertödtung Freuden
In bitt'res Leiden.
Ach, wären wir vom Kinde bis zum Greiſe
Gehorſam Deinem Willen, gut und weiſe
Was könnten wir bei ruhigem Gewiſſen
Für Glück genießen!
Unzählbar ſind, o Vater, Deine Gaben,
Die wir zu Quellen wahrer Freude haben;
Und Frevel iſt's, wenn wir noch Thaten üben,
Die Dich betrüben.
Wohin ich komme, begegnen mir Klagen. Jeder hat Etwas,
worüber er ſeufzt. — Ich trete in Geſellſchaften: zum Schein
ſehe ich wohl heitere Mienen überall; aber man ſpricht von An⸗
dern, und ich höre wie unglücklich Der und Dieſer iſt, welcher
ſich abweſend befindet. Der Eine hat eine mißvergnügte Ehe,
der Andere ſeufzt unter der Laſt von Geldſchulden, der Dritte iſt
in Prozeſſen verwickelt, welche ihm viel Sorgen machen, der
Vierte hat ungerathene Kinder. So ſpricht man von denen, die
abweſend ſind, und bedauert ſie. Ich komme zu Andern. Ich
höre wieder von denen ſprechen, deren Fröhlichkeit ich in der Ge—
ſellſchaft bewundert hatte, und erfahre, es gehe ihnen die Freude
nicht aus dem Herzen. Der Eine ſei durch die Zeitläufe in feinen
Glücksumſtänden ſehr zurückgekommen; der Andere habe das Amt
nicht bekommen, auf welches er gehofft, und habe darum viel
Aerger; der Dritte ſei im übeln Rufe wegen unerlaubten Um-
gangs, und bereite ſich große Schmach; der Vierte leide viel
durch Ungerechtigkeit und Härte ſeiner nächſten Verwandten.
Könnten wir von Haus zu Haus, von Dorf zu Dorf, von
Stadt zu Stadt gehen: wo würden wir wohl eine Familie finden,
in welcher reines Glück, ungetrübte Heiterkeit wohnte? Wir kaͤmen
vielleicht zu Tauſenden, und von dieſen noch einmal zu Tauſen—
3
den, ehe wir eine fänden, die von Herzensgrund ſpräche: „Wir
ſind vollkommen zufrieden. Freilich gibt es hin und wieder kleine
Unannehmlichkeiien, aber die müſſen auch ſein, damit der Reiz
des Angenehmen deſto großer werde. Wir bitten vom Himmel
nur, daß er unſer gegenwärtiges Glück bewahre. Doch wir ſehen
ein, dies könne nicht fein. Mancherlei böſe Ereigniſſe, oft eigener
Irrthum, endlich Krankheit und Tod, werden unſern frohen
häuslichen Kreis zerſtören. Aber auch dann — wenn unſere
Augen im Schmerz Blut weinen möchten — auch dann wird
zufriedener Sinn und ſtille Heiterkeit nicht von uns fliehen. Wir
wiſſen ja, es iſt nichts auf Erden ewig: nur Gott und ſeine Liebe
und ſein Himmel bleiben uns ewig!“ Wo iſt die Familie, welche
jo ſprechen kann, oder die fo ſpricht? Wohl wird mancher zwei⸗
feln, der durch ſein ganzes Leben ein blutendes, zerriſſenes, un⸗
ruhiges Herz trägt, daß in der Welt eine ſolche Haushaltung
wohne. Aber doch, ich zweifle nicht daran, daß ſie vorhanden
ſei. Es iſt mehr als eine vorhanden. Allein die, welche am glück⸗
lichſten find, treiben das wenigſte Geräuſch, leben ſtill zurückge⸗
zogen. Man bemerkt ſie kaum. Man würde bei ihnen das höchfte
Glück auf Erden am wenigſten geſucht haben. Doch ihre Zahl
iſt klein. Unter Tauſenden und Tauſenden begegnen wir kaum
einer ſolchen. i | ant
Wenn denn ſo wenig Freude auf Erden wohnt, und des
öffentlichen und geheimen Leidens fo viel, jo mancherlei: warum
preiſen wir denn Gottes Güte, Gottes Weisheit? Iſt es Güte,
daß wir ein qualreiches Daſein haben, in welchem kaum ein Tag
mit ganzer Harmloſigkeit genoſſen werden kann? Iſt es Weis⸗
heit, daß wir ſchwache Menſchen mit mehr Uebel als Glückſelig⸗
keit umringt ſein müſſen? Warum ruft David: „Herr, wie ſind
Deine Werke ſo groß und viel! Du haſt ſie alle weislich geord⸗
net, und die Erde iſt voll Deiner Güte!“ (Pſalm 104, 24.)
Wenn ich die Klagen der Menſchen unterſuche, ſcheint es mir
beſonders merkwürdig, daß Keiner über die gleichen Uebel ſich
beſchwert, ſondern Jeder andere Urſachen zum Mißvergnügen hat.
Hier beſchwert ſich bitter ein reicher Mann über die ſchlechten
Zeiten, dort ein angeſehener Mann über Neid und Verleumdung.
— 286 —
Hingegen ein armer Taglöhner bringt freudig ſeinen Lohn zu
Weib und Kind, und dankt Gott für den reichen Segen; lächelt
auch dazu, daß ein ſchlechter Menſch ihn bei ſeinen Vorgeſetzten
anſchwärzen wollte, denn er iſt ſich ſeiner Unſchuld bewußt. —
Hier find die gleichen Uebel, aber doch werden fie von dem Einen
nicht ſo hart empfunden, als vom Andern. Woher? Man ant⸗
wortet: Der Reiche und Angeſehene war eines beſſern Schickſals
gewohnt; der Arme hingegen nicht. — Wenn dem alſo iſt, ſo
liegt der Quell des Mißvergnügens nicht in den geringern Ein⸗
künften ſelbſt, nicht in dem Urtheile der Menſchen, ſondern in der
Verletzung unſerer Gewohnheit. — Was iſt Gewohnheit? Es
iſt Abhängigkeit unſers Lebens von gewiſſen äußern Umftänden.
Wer aber iſt Schuld, daß wir Sklaven äußerer Umſtände wer⸗
den? Gott? — Wahrlich nicht. Die Umſtände kommen durch
ihn, aber die Gewohnheiten von uns, denn ſie liegen in uns.
Zwei Menſchen bewerben ſich um gleiches Amt und gleiche
Würde; Beider Wünſche bleiben unerfüllt. Ein Dritter em⸗
pfängt ohne Verdienſt, wonach ſie ſtrebten. Der Schmerz dar⸗
über wirft den Einen auf das Krankenbett. Der Andere lächelt
über die Spiele des Glücks, und vergißt bald, wonach er ge-
trachtet. Haben nicht Beide gleiches Schickſal erfahren? — —
Warum macht es den Einen unglücklich? Er war ehrgeiziger als
der Andere. Wenn dem ſo iſt, ſo machte ihn nicht ſein Schickſal,
ſondern ſein Ehrgeiz elend. Das Schickſal kam von Gott, der
Ehrgeiz aus dem Gemüthe des Menſchen.
Aeltern weinen über dem Sarge eines heißgeliebten Kindes.
Aber Einer von ihnen beruhigt ſich; er weiß, es iſt nur eine kurze
Trennung; unſere Heimath iſt nicht hienieden; es iſt Alles wohl
aufgehoben in Gottes Liebe; wir ſehen uns wieder. Der Andere
weiß dies Alles auch; aber ſein Gram iſt darum nicht minder
troſtlos, und vernichtet ihm alle Lebensluſt, und zerſtört ihm ſo⸗
gar die eigene Geſundheit. Beide erfuhren gleiches Schickſal,
Beide hatten die gleiche Empfindſamkeit, die gleiche Religion.
Aber warum war der Eine von ihnen auf immer unglücklich?
Weil er mit Leidenſchaft liebte, das heißt, mit einer Heftigkeit,
wodurch ſeine Vernunft unterdrückt ward, ſeine Vernunft, die
3 Bm
ihm immer ſagte: Es iſt im Irdiſchen nichts bleibend, mache dich
zu jeder Stunde auf jeden Verluſt bereit. Das Schickſal kam
von Gott, die Leidenſchaft aus dem Herzen des Menſchen.
Da nun Jedermann die Uebel des Lebens anders betrachtet;
da dem Einen ſehr gleichgültig fein kann, was dem Andern un⸗
erträglich fällt; da, was dem Einen ein großes Unglück, dem
Andern recht gut und nützlich ſcheint: ſo iſt eigentlich kein Uebel
in der Welt, als dasjenige Schickſal, was wir ſelbſt zu einem
Uebel machen. Oder nenne mir ein Schickſal, von welchem alle
Menſchen, jung und alt, reich und arm, unwiſſend und weiſe,
einmüthig behaupten, es ſei das größte Uebel! — Selbſt der
Tod iſt nicht das größte, denn wie Viele wählen ihn freiwillig,
um einer Schande zu entfliehen! Selbſt die Schande iſt nicht das
größte Uebel, denn wie Viele laſſen ſich dieſelbe gefallen, wenn
ſie nur nicht arm ſein müſſen! Selbſt die Armuth iſt nicht das
größte Uebel, weil Tauſende fie vorziehen, ftatt mit Gefahr ihrer
Geſundheit größeres Vermögen zu erwerben. Selbſt Verluſt der
Geſundheit iſt nicht das größte Uebel, weil Millionen Menſchen
dieſelbe oft für das Nichtswürdigſte aufs Spiel ſetzen.
Fragſt du in der Welt umher, welches denn das größte aller
Uebel ſei, oder das, was Jedermann für Unglück halte: fo
wirſt du eben ſo verſchiedene Antworten empfahen, als wenn du
fragteſt, was Jeder für ſein größtes Glück halten werde.
Daraus dürfen wir mit Gewißheit ſchließen, daß die Schick⸗
ſale, welche Gott ſendet, an ſich alle gleich ſind; aber die Men⸗
ſchen ſind ſich einander nicht gleich, welche das Schickſal em⸗
pfangen. Was Gott thut, das iſt wohlgethan; aber der Menſch
fügt das Uebel erſt hinzu. Nicht von außen kommt das Unglück
über uns; ſondern aus unſerm Innern geht das Elend des Lebens
hervor über die Außenwelt. Die Welt bleibt mit ihren Geſetzen
und Ordnungen immer dieſelbe, aber der Sterbliche beurtheilt
ſie verſchieden, und trägt erſt ſeine Noth und Qual in dieſelbe
hinein.
Ich erkenne, o Sterblicher, aus deinen Klagen über das
Leben, nicht, wie das Leben in dieſer Welt ſei, ſondern wer du
biſt. Die Welt iſt dein Spiegel. Wie du ſie anſiehſt, ſo biſt
du! In allen Seufzern über das Uebel ſprichſt du deine eigene
Anklage aus.
Die Welt dein Spiegel! Das Kind tändelt kummerlos.
Des Winters Froſt und Schnee bringt ihm ſo viel Vergnügen,
als des Frühlings Blumenpracht. Mit leichtem Sinn geht es
vergeßlich über das Angenehme wie über das Unangenehme hin.
Es betrachtet und behandelt das Leben in ſeiner Unſchuld und
Unwiſſenheit, wie der Weiſe und Chriſt aus Grundſätzen thut.
Beide, der Weiſe und das Kind, hängen ihr Herz an nichts Ver⸗
gängliches; das Kind, weil es noch keine Gewohnheiten hat; jener,
weil er keine unauflöslichen Gewohnheiten will. Darum ſprach
Chriſtus voll tiefen Sinnes: Wenn ihr nicht werdet wie die
Kindlein, ſo werdet ihr nicht zum Himmelreich gelangen.
Das Leben iſt dein Spiegel! — Es weint das Kind, von
Dornen verwundet: Die Thränen klagen nicht den Dorn, ſondern
den Leichtſinn an. Es weint, weil es ſich von einem Fall weh
that; es klagt nicht die Härte des Steins, ſondern die eigene Un-
vorſichtigkeit an. Der Erwachſene trauert über Treuloſigkeit der
Freunde; er trauert über feine Unerfahrenheit. Er jammert über
die Verminderung ſeines Vermögens: nein, über ſeine Eitelkeit,
über ſeinen Hang zu mancherlei Bequemlichkeiten, die nun ein⸗
geſchraͤnkt werden müſſen. Es iſt nie die Unvollkommenheit der
Welt, ſondern unſere eigene Unvollkommenheit, die wir durch
Klagen an den Tag legen. Sei du nur beſſer, und es wird
beſſer ſein.
Man ſpricht wohl von. unverſchuldetem Unglück, das
der Sterbliche erfährt. Und in der That iſt mancherlei, welches
uns weh thut, ohne daß wir uns vorzuwerfen haben, es durch
eigene Thorheit verurſacht zu haben. Was kann das unſchuldige
Kind dafür, wenn es von anſteckenden Krankheiten überfallen,
auf dem Schmerzenlager winſelt? Was kann der dafür, dem un—
geſunde Aeltern einen gebrechlichen Körper oder vergiftete Säfte
vererbten? Was kann der Wanderer dafür, der ſich, unkundig
des Weges, verirrt in Wüſten oder auf Meeren, und Hungers
ſtirbt? Was kann der Unſchuldige dafür, der Schmach und Haß
erfährt, und ſelbſt bürgerliche Strafen, weil er von Böfewichten
— 289 —
verklagt, von ungerechten Richtern verurtheilt wird, oder weil ſich
alle Umſtände verſchworen zu haben ſcheinen, wider ihn boͤſes
Zeugniß abzulegen? — So gibt es viele Schickſale, die dem
Leidenden Blut und Thränen abpreſſen, ohne ſein Verſchulden.
Geht hier das Elend aus ihm hervor, oder iſt es nicht die Hand
eines höhern Weſens, welche es über ihn bringt?
Allerdings trifft uns zuweilen, doch ſelten iſt's, durch
Fügungen Gottes eine Noth, an der wir unſchuldig ſind. — Doch
in Allem liegt neben dem Schmerz auch der Troſt. So ordnete
es die ewige Weisheit. Warum ſie aber ſo und nicht anders
handelte, erkennen wir nicht. Wer überſieht die Verbindungen,
Geſetze und Zwecke des geſammten Weltalls? wer darf ſich ver⸗
meſſen, Gottes Rathſchlüſſe und Abſichten zu durchſchauen?
Zwecklos geſchah nichts, ſeit Anbeginn alles Lebens; und Gottes
Zwecke find feiner unendlichen Güte gemäß, die aus Allem, was
er ſchuf, ſonnenhell leuchtet. — Der Schmerz der Krankheiten,
die nicht Folgen unſerer Vergehungen, ſondern oft nur menſch⸗
licher Kurzſichtigkeit oder früherer Urſachen ſind, iſt immerdar
Schmerz. Doch jeder fliegt vorüber, und in feiner größten Stärke
iſt er mit wohlthätiger Betäubung des Kranken verknüpft. Oft
iſt er für den Zuſchauer ſchauderhafter und betrübender, als für
den, welcher ihn leidet. Dieſer ſchlummert unter Verzuckungen,
wo jener als Zeuge von eingebildeten Qualen bebt. Der Tod
aber iſt kein Uebel, ſondern das Ende des Schmerzes. Unver⸗
ſchuldetes Leiden iſt die Schule der Weisheit und Seelengröße
für den, welchen es trifft, wie für den, welcher Zuſchauer iſt.
Wer ungebeſſert duldet, oder zuſchaut, für den ging ein großes, ern⸗
ſtes Schickſal umſonſt warnend vorüber — ihm wird ein ſchwereres
begegnen. — Biſt du weiſe genug, ſo wird auch unverſchuldetes
Unglück für dich kein Unglück, ſondern Quell eines Glückes ſein,
das heißt, einer neuen Vollkommenheit deiner Seele und einer
engern Annäherung zur Gottheit. 8
Doch die meiſten Uebel des Lebens, über die wir zu klagen
pflegen, ſind Wirkungen unſerer eigenen Schuld. — Aus eben
dieſem Grund pflegen wir uns auch über dergleichen weit lebhafter
zu beklagen. Es liegt in der menſchlichen Natur, daß wir un⸗
III. 13
verſchuldetes Unglück mit mehr Seelengröße ertragen, ja oft mit
freudigem und edelm Stolze. — Krankheiten brachten noch Nie⸗
manden zur Verzweiflung; wohl aber gekränkter Ehrgeiz, leiden⸗
ſchaftliche Liebe, die in Schwärmerei entartete, Geiz, Hochmuth
und andere Laſter. Denn Laſter ſind Krankheiten der
Seele; und was die Seele leidet, iſt empfindlicher, als Alles,
was den Körper treffen mag.
Die Welt iſt dein Spiegel. Sage mir, wie du die Welt,
die Menſchen, deine eigene Lage beurtheilſt, und ich will dir
ſagen, von welchen Krankheiten deine Seele behaftet iſt, welche
Leidenſchaften in deinem Innern verborgen toben.
Du biſt unglücklich, denn du klagſt. Werde glücklich, denn
es ſteht bei dir. Heile deine Seele von den Unvollkommenheiten,
und es wird in der Welt dich nicht leicht etwas troſtlos machen
können. Stehe unabhängig von äußerm Glück, und du wirſt
in dir der Seligſte ſein, erhaben über alle ſogenannten Uebel des
Lebens. Prüfe dich, frage dich: warum biſt du nicht in dir ganz
zufrieden? warum in deinen Verhältniffen nicht ganz glücklich?
und du wirſt deine Seelenkrankheit erkennen, an der du eigent⸗
lich leideſt. Du wirſt wahrnehmen, daß der Keim deiner Schmer⸗
zen nicht in deinen Umgebungen liegt, ſondern tief in deinem
Herzen. Da iſt die Wunde! heile ſie. Die Religion bietet dir
die Arzneien der Seele. Gott will dein Glück, nur du haſt es
bisher nie ernſthaft gewollt, ſondern eigenſinnig es nur da ges
ſucht, wo es noch nie gefunden ward. |
Ich will dir nur ein einziges Wort ſagen, o meine Seele,
ein einziges! aber es iſt das rettende. Nimm es auf. Faſſe ſeinen
Sinn. Deine Wunden werden damit geheilt, deine Verhältniſſe
verbeſſert werden. Dies iſt die Arznei, deren du bedarfſt:
Mäßigung!
Werde mäßiger in allen deinen Wünſchen; mäßiger in deinem
Lieben und in deinem Haſſen; maͤßiger im Genuſſe deſſen, was
dich freut; mäßiger in deiner Verehrung, wie in deinem Tadel
deſſen, was vergänglich iſt. Halte Maß in allen deinen Dingen,
und das Unglück wird Maß halten gegen dich!
Je weniger wir von der Welt fordern und erwarten, je reicher
— 21 —
müſſen wir nothwendig in uns fein. Was in uns ift, das kann
ſie uns nie entziehen. Wozu großes Vermögen und Eigenthum?
Zufriedenheit mit unſerm Loos iſt der größte Reichthum. Wozu
Ehrenbezeugungen von ſchwachen Menſchen? Tugend ift die ewige
Ehre, die Niemand zerſtört. Wozu Bequemlichkeit und Ueppig⸗
keit? Willſt du der Sklave deines Leibes ſein, der vielleicht im
Grabe, ehe das Jahr vergeht, ſchon vergangen iſt? — Dein
Vater, deine Mutter, dein Bruder, deine Schweſter, deine Kinder,
deine Geliebten ſind ſterblich. Mache dich auf die Scheideſtunde
gefaßt. Du wirſt ihren Tod erleben, oder ſie erleben den deinigen
endlich. Eins wird ſein! Ihre Seelen bleiben dir, nicht ihre
Leiber. Gewöhne dich früh an die Vorſtellung, du werdeſt einſt
auch das Liebe verloren haben: ſo wird dich ſelbſt dieſer Verluſt
nicht, wenn er geſchieht, um deine Faſſung bringen. Du wirſt
heiter emporlächeln zum Himmel, und ſagen: Iſt Gott nicht der
Vater der unſterblichen Geiſter, und das Weltall nicht unſer
Vaterhaus? So wirſt du Davids heiliges Wort verſtehen, und
unter allen Unannehmlichkeiten des Lebens mit Zufriedenheit,
Ergebung und Vertrauen, oft ſelbſt mit Entzücken ſprechen:
„Herr, wie ſind Deine Werke ſo groß und viel! Du haſt ſie alle
weislich geordnet, und die Erde iſt voll Deiner Güte! Du haſt
die Welt gemacht, und die Schickſale geſtellt, daß ſie uns er⸗
freuen oder belehren. Aber die guten wie die böfen Tage find
Deine Engel, welche erſcheinen, uns zu Dir zu führen, auf daß
Dein Wort erfüllt und unſere Seligkeit ohne Ende werde.“
— 292 —
33.
Men ſchen rat h, Gottesthat.
Pſalm 106, 8.
Befiehl dem Höchſten deine Wege,
Und baue nicht auf Menſchenrath.
Vertraue ſeiner Vaterpflege;
Für ihn iſt nichts zu groß und ſtark,
Das er zu ſeines Namens Preis
Nicht herrlich auszuführen weiß.
Wo du nur ihn haſt walten laſſen,
Da hat er Alles wohl gemacht:
Und was dein Denken nicht kann faſſen,
Das hat er längſt zuvor bedacht:
Wie es fein Rath hat auserſeh'n.
So, und nicht anders, muß es geh'n.
Wer ſich auf Anderer Wort und Hilfe verlaſſen muß, der iſt
wohl verlaſſen! — Wie wenig Erfahrungen gehören dazu, dieſe
Wahrheit anzuerkennen, wie wenig Lebensjahre unter den Men⸗
ſchen! — Schon das oft getäuſchte Kind wird endlich mißtraui⸗
ſcher, und glaubt nicht leicht mehr Jedermanns Worten. Und
doch wird es ihm bei ſeiner natürlichen Unſchuld und Gutmüthig⸗
keit ſchwer, allem Vertrauen zu entſagen. Noch einmal, im auf⸗
blühenden Alter der Jungfrau und des Jünglings, blüht auch
der Glaube an die Menſchheit mit neuer Kraft auf. Man Halt
die bisherigen unangenehmen Erfahrungen gern für Folgen
eigener kindlicher Unwiſſenheit. Man hängt mit lebhafter Innig⸗
keit am Menſchen, glaubt und vertraut, hält auf ſeinen Rath,
baut Alles auf ſein Wort, ſchließt Freundſchaftsbündniſſe für das
ganze Leben, dünkt ſich wenn auch nicht würdiger, doch glüͤck⸗
licher als tauſend Andere, die ſolche Liebe, ſolche Treue nie unter
Sterblichen fanden, und bedauert die, welche aus dem Umgang
mit Menſchen nichts Beſſeres lernten und gewannen, als Miß⸗
trauen.
Aber die Jugend verblüht; die ſonſt friſch glänzenden Hoff—
nungen entfärben ſich; hier ſcheiden Länder und Ströme, dort
Stand und Glücksumſtaͤnde, hier der Tod, dort Leichtſinn einen
Freund nach dem andern von dem Glaubensvollen. Bald ſteht
— 293 —
er einſam, vielfach hintergangen, in ſich ſelbſt verſchloſſen. Er
muß ſich ſelig preiſen, wenn ihm nur noch eine treue Freundin,
nur ein treuer Freund, Gatte, Kinder bleiben, die feſt und bis
zum Tode an einander halten.
. Darum ſprach auch David, der Vielerfahrene, Oftgebeugte,
aus der Fülle ſeines Herzens, und als die Frucht ſeiner Lebens—
klugheit: Es iſt gut auf den Herrn vertrauen, und ſich
nicht verlaſſen auf Menſchen. (Pſ. 118, 8.)
Liebe die Menſchen, hilf und rathe ihnen, opfere dich für ihr
Glück auf; aber erwarte vom größten Theil weder Dank noch
Hilfe. Denn die meiſten leben voller Selbſtſucht nur für
ſich, Alles, was außer ihnen liegt, möchten fie nur als Mittel
zu ihren Abſichten gebrauchen. Haben ſie den Zweck erreicht,
werfen ſie die Mittel zur Seite. — Dieſe Selbſtſucht, dieſe Mutter
aller Grauſamkeiten, aller Untreue, aller Laſter iſt's auch, die dem
Menſchen den Glauben an die Menſchheit raubt. Weil faſt Jeder
nur ſich ſelbſt und feinem Vortheile lebt, weil faſt Keiner ein
Wort, eine Hand, einen Dienſt bietet, ohne eigennützige Neben—
abſichten, iſt wahre Freundſchaft das Seltenſte auf Erden.
Stehſt du erhaben über Andere, biſt du mächtiger, oder ange—
ſehener, oder begüterter, oder einſichtsvoller, ſo wird dich ein
Theil deiner Zeitgenoſſen aus Neid haſſen, ein anderer Theil dir
aus Eigennutz anhangen. Stehſt du niedriger, unbedeutender,
ärmer da, als Viele, wird ſich faſt Jeder berechtigt glauben, von
dir Dienſte zu fordern.
Wer dich nicht als ſein Hilfsmittel für eigene Zwecke benutzen
kann, wendet dir verächtlich oder gleichgültig den Rücken. —
Nur Wenige werden dich und deinen wahren Werth anerkennen,
und dich deines Selbſtes willen hochſchätzen. Ein König, vom
Throne geſtürzt, wird von feinen Voͤlkern verlaſſen; ein Weiſer,
aus ſeinem Vaterlande verbannt, wird von ſeinen Schülern ver⸗
mieden; ein Wohlthäter, durch Unglück verarmt, wird von feinen
Pflegekindern vergeſſen. Nicht Dankbarkeit, nicht Hochachtung,
nicht die Bande des Blutes ſind ſtark genug, die Selbſtſucht der
Menſchen zu bezwingen.
| Vertraue nicht zu viel auf Wort und Verſprechen des Men-
3
ſchen. Du weißt es, Veränderlichkeit iſt des Menſchen
Natur. Der Entſchluß des Morgens iſt oft ſchon am Mittag
bereut. Nichts bleibt im Sterblichen und um ihn her das Gleiche.
Seine äußern Verhältniſſe, ſeine innern Ueberzeugungen werden
mit der Zeit anders; ſeine Jahre wechſeln, ſeine Neigungen,
ſeine Launen und Grundſätze. Selbſt ſeine Stimme, ſeine Ge⸗
ſtalt verwandelt ſich. Der Menſch iſt heute nicht mehr der Menſch
des vorigen Jahres. Ja, du ſelbſt, der du die Veränderlichkeit
deiner Lebensgenoſſen jo bitter anklagſt, biſt du allein der Un⸗
veränderliche, und noch heut, wie geſtern? Andere Umſtände er⸗
zeugen andere Geſinnungen; ein anderer Stand bringt andere
Pflichten; ein anderes Alter gibt eine andere Gemüthsart. Da⸗
her fo manche Wortbrüchigkeit, wo wir fie nie erwartet hätten;
ſo manche heilig beſchworene Jugendfreundſchaft zerriſſen, für
deren ewige Dauer wir Gut und Blut verbürgt hätten.
Vertraue nicht auf Menſchenrath und Menſchenhilfe, wenn
du Rath und Hilfe bedarfſt. Nur Wenige denken edel und un⸗
eigennützig genug, in deine ganze Lage, in deine Bedürfniſſe, in
deine Wünſche einzutreten. Kennſt du dieſe Wenigen immer?
Und wenn du ſie kennſt, machen ſie eine Ausnahme von der all⸗
gemeinen Veränderlichkeit, welche die Sterblichen beherrſcht? —
Lege nie mit allzublindem Vertrauen dein ganzes Wohl und
Weh in eines Einzigen Hand. Oft ſpielt Heuchelei die Rolle des
Gutherzigen; oft ſind Bosheit und Schadenfreude da, wo du
redlichen Sinn vermutheſt. Man ſoll und muß ſich nie ganz
weggeben; behalte deine Geheimniſſe, weil du nicht weißt, in
welche Hände du ſie legſt. Nur zu oft iſt der Gutmüthige das
Schlachtopfer hinterliſtiger Tücke geworden. |
Biſt du aber in der Nothwendigkeit, menſchlichen Beiſtand
anſprechen zu müſſen — und in dieſe Nothwendigkeit kommen
wir Alle! — fo hoffe das Wenigſte von der Herzensgüte deſſen,
den du anſprichſt, oder daß er deine Verdienſte ehre, oder daß
ihn deine Tugend oder deine Lage beſonders rühre; das Meifte
hoffe von dem, was ihm ſein eigener Vortheil anrathen kann,
für dich zu thun. Daher ſind keine Freundſchaften feſter, inniger,
als die, welche durch die Hand der Natur ſelbſt geſtiftet wurden:
— 295 —
die zaͤrtlichen Verhaltniſſe zwiſchen Aeltern und Kindern, oder
zwiſchen treuen Ehegatten. Denn hier ſind Vortheile, Schaden,
Ehre und Schande des Einen zugleich auch das Loos des Andern.
Darum ſoll hier das vollſte, offenſte Vertrauen gegenſeitig herr-
ſchen. Hier werde Geheimniß um Geheimniß ausgetauſcht.
Doch auch ſelbſt hier — wie unzuverläſſig iſt Menſchenhilfe!
Baue deine Hoffnungen nicht allein auf ſie; mache auf ſie keine
feſte Rechnung für dein künftiges Leben. Denn wie leicht iſt das
zerriſſen, was man in dieſer Welt für das Unzertrennlichſte hielt!
Krankheit und Tod können dir deine Geliebteſten rauben, auf
deren Beiſtand du zählteſt; durch Verführung können deine Kinder
entarten; ein Verleumder kann dir das Herz deines älteften und
bewährteſten Freundes entziehen.
Wer ſich auf Menſchenhilfe allein verläßt, der iſt wohl
verlaſſen! — Er iſt verlaſſen, weil er zum Theil ſich ſelbſt um
diejenige Achtung brachte, die ihm nothwendig iſt, wenn man
ihn lieben ſoll. Man verachtet zuletzt den, der ſich nicht ſelbſt
halten kann, der ſich immer auf Andere ſtützen will, und nicht
unabhängig dazuſtehen weiß. Wer ſelten fordert, dem gibt man
lieber und freudiger. Wer in ſich ſelbſt Kraft und Muth für
jedes Schickſal zeigt, dem folgt unwillkürlich die Hochachtung der
Uebrigen; und wo Hochachtung wohnt, da iſt Neigung zum
freundſchaftvollen Beiſtand. Wer da hat, dem wird gegeben,
denn man kann früher oder ſpäter wieder von ihm erwarten.
Verlaß dich nicht auf Menſchenrath und Menſchenhilfe, ſon⸗
dern auf deinen eigenen Muth in jeder Lebenslage. Wer nur ſich
ſelbſt nicht verloren gibt, der iſt nicht verloren. Strebe nach
Selbſtſtändigkeit, nach Unabhängigkeit — dies iſt Chriſtenpflicht.
Lerne fremde Hand entbehren, ſo wirſt du mächtig ſein; lerne dich
mit dem Wenigſten begnügen, ſo wirſt du reich ſein.
Ein wahrer Weiſer ſoll Andern Alles leiſten, für ſich ſelbſt
felten begehren. So that Jeſus. Hilfreich überall, erwartete
und verlangte er für ſich ſelbſt nicht viel. — Je mehr du dein
Glück auf den Beiſtand Anderer gründeſt, je unſicherer wird es
dir ſein. Nur was du dir ſelbſt biſt, das haſt du! — du ſelbſt,
mit dir ein Freund, eine Freundin und Gott für Alle! Was
— 296 —
forderſt du mehr? Wer zu ſeinem Wohl mehr bedarf, iſt der
Sklav fremder Menſchen und fremder Umſtände.
Vertraue mehr dein Glück und Wohl den eigenen Kräf-
ten, als fremden an: ſo wird es dir nicht fehlen. Aber kennſt
du deine eigenen Kräfte? — Viele Menſchen wurden dadurch
elend, daß ſie nicht wußten, worin ihre Stärke lag.
Und welches find deine beſten, deine eigenen Kräfte? Iſt es
dein erworbenes Vermögen? iſt es die Erbſchaft, auf welche du
noch hoffeſt? iſt es deine Familienverbindung, deine Verwandt⸗
ſchaft mit vielgeltenden Perſonen? ſind es deine erlernten Ge⸗
ſchicklichkeiten? iſt es dein Amt, dein Stand? — O du betrügſt
dich furchtbar! Dies Alles iſt fremdes, treuloſes Gut. Gründeſt
du darin dein Heil, ſo haſt du auf morſchen Sand gebaut. Es
gibt Tage, da kann dir dein Reichthum nicht aushelfen; es gibt
Umſtände, da werden dich deine Verwandten zurücklaſſen; es gibt
Unglück, vor dem dich kein Rang ſchützt. Geld, Freunde und
Würden ſind nicht Kräfte, ſondern allenfalls beiläufige Hilfs⸗
mittel. Sie können dich alle verrathen. Was bleibt dir dann?
Lerne deine eigenen Kräfte kennen; ſie verrathen dich nie, fo
wenig du dich ſelbſt verraͤthſt; es find Einſichten und Tugend!
Siehe, mit dieſen überwindeſt du die Welt; darin ruht deine
Rieſenſtärke. Handle nie unüberlegt, und das Ueberlegte voll⸗
ſtrecke mit ſtrenger Rechtſchaffenheit! Mache dich durch Einſicht
unabhängig, nicht nur vom Einfluſſe fremder Hilfe, ſondern vom
Einfluſſe deiner eigenen Leidenſchaften, von jenen noch an
klebenden Fehlern, die ſchon manche Unannehmlichkeit erſchufen!
Mache dich durch deine Tugend mächtig über alle Gemüther,
denn der Tugend bringt ja Jedermann unwillkürlich den Zoll
der Verehrung und Liebe )
Aber kurzſichtig iſt der Sterbliche; auch eigene Einſicht irrt
oft! — Schwach iſt der Sterbliche; auch ſeine beſte Tugend
wankt oft! — So werden unſere eigenen Kräfte oft unzuver—
läſſig. Es iſt noch eine höhere Macht vorhanden, fie wankt nie;
eine hoͤhere Weisheit, ſie irrt nie; eine vaͤterliche Liebe, ſie ſtirbt
nie! — O Chriſt, blicke in den Aengſten und Freuden deiner
Tage zu ihr empor! Wenn dich Alles verläßt, dort iſt Einer,
= WM
der dich nie verlieren will. Du bift fein Kind, er ift dein Vater.
Er will dich nicht verlaſſen, noch verfäumen.
Gottesthat geht über Menſchenrath! — Darum iſt es
gut, auf den Herrn vertrauen, und ſich nicht verlaſſen auf Men⸗
ſchen. (Pſalm 118, 8.)
Der Menſch unter Menſchen, der Menſch mit ſeinen eigenen
ſchwachen Kräften, wäre wohl eins der elendeſten aller erſchaffenen
Weſen, wenn er, nur ſich ſelbſt überlaſſen, nicht zur Fürſorge
ſeines eigenen Schöpfers vertrauensvoll emporſehen dürfte! —
Umſonſt triumphirt der Glückliche, und hält in feinem Wahn
Alles für Werk eigener Kraft, was er um ſich her gebaut hat:
es ſchlagt eine Stunde, die Alles zertrümmert, Alles anders ge-
ſtaltet. Eine mächtige Hand herrſcht in der Menſchen Schickſale.
Selbſt in der Bruſt des gewaltigiten Eroberers, vor dem Länder
und Völker zittern, erzittert wieder ein Herz vor dem Gewaltigern,
der über den Sternen thront, der die dunkeln Verhängniſſe leite
über dem Haupte des Königs und des niedrigſten Knechts. —
Zwar der Leichtſinn kann Gott vergeſſen — aber Gott lebt! Der
Wahnſinn kann ſpotten und ſagen: er gedenkt unſer nicht; aber
Gott lebt, und darum gedenkt er auch des Wahnſinnigen.
Gottesthat geht über Menſchenrath. — Darum baue:
nicht auf dieſen, ſondern halte feſt an jener. Wie oft haben wir
im Leben die Nichtigkeit menſchlicher Beſchlüſſe, den Irrthum
unſerer Rathſchlüſſe erfahren müſſen! Es kam Gottesthat, und
unſer Sorgen und Kümmern war eitel. Es ward beſſer, als wir
meinten. Wie manche Angſt hatten wir uns vergebens gemacht,
wie manche Schmerzensthräne umſonſt geweint, wenn wir Trüb⸗
ſal erduldeten! Die Angſt war entbehrlich, die Thrane unnoͤthig:
Gott ſorgte beſſer für uns, als wir ſelber. Erſt nachher, erſt
ſpät ſahen wir immer die Weisheit feiner Fügungen ein. Und
das, was wir einſahen, mag uns Bürge ſein für das, was *
jetzt noch nicht zu begreifen im Stande ſind. | |
Dem Geiſtervater, dem Unendlichweiſen, laßt uns bhaben,
laßt uns vertrauen! Er weiß das Beſte! — Keiner, wie er,
jo klar, jo Alles durchſchauend. Für ihn iſt kein Jahr und
kein Tag; für ihn iſt Alles Gegenwart, und die un
— 298 —
endliche Gegenwart heißt Ewigkeit. Das Gewebe der
Schickſale, es iſt von ihm gewoben; das Spiel der Zufälle, das
Ineinandergreifen der Jahrtauſende und Augenblicke, des maͤchtig⸗
ſten Volks und des ſchwächſten Säuglings, Menſch, — es iſt
ihm, nur ihm lichtvoll, denn ſein Wille lebt in Allem. Darum
laſſet uns dem Herrn vertrauen, dem Weltregenten, dem, welcher
auch das Geſchick des kleinſten Gewürms beſtimmt hat.
Er kann das Beſtel — Ach, was kann denn der ſchwache,
blöde Menſch? Kann er wohl ſeinem eigenen Leben auch nur die
Länge eines Augenblickes zuſetzen! — Was ſind eure vermeinten
Erdengötter? was eure Gewalthaber und Fürſten vor ihm?
Staub und Aſche! — Sie können durch Schrecken und Furcht,
oder durch Klugheit und Güte Völker bewegen, wie todte Werk⸗
zeuge. Sie können prachtvolle Städte bauen — Ameiſenhaufen
ſind nicht minder kunſtvoll, Denkmäler zum Erſtaunen der Nach⸗
welt aufführen — ein jeder Grashalm iſt wundervoller, als das
erſte Kunſtwerk der Welt. Sie können Tonnen Goldes ver⸗
ſchenken, Staub an Staub. Das Alles vermögen ſie! Aber ſelten
wiſſen ſie ſich ſelbſt zu beglücken. Ihre eigenen Leiden können ſie
nicht vertilgen. Sie liegen unter dem Geſetze der Natur, wie das
letzte Sonnenſtäubchen. Keine Welle gehorcht ihnen; kein Wind
ſchweigt vor ihnen.
Nur er, dem Alles gehorcht, nur er kann das Beſte. Seiner
Allmacht iſt keine Gewalt gewachſen; ſeinem Willen ſtreben keine
Hinderniſſe entgegen. Er kann!
Und er will das Beſte! — Wer will das jo rein, jo un⸗
eigennützig, ſo aus unſäglicher Liebe zu den von ihm erſchaffenen
Naturen, wie er? Was haben wir, das wir ihm geben könnten,
ſelute Allſeligkeit zu vergrößern 2. Was iſt im Weltall, das er nicht
dem Weltall, gegeben hatte?
Er will das Beſte. Wer darf zweifeln? O Kleingläubiger,
blicke auf den Herrn, du biſt unverloren, er liebt dich, er will
auch dein Beſtes. Und daß er es wolle, verbürgt dir feine uns
endliche Güte — ja, die lautredendſte Bürgſchaft iſt dein eigenes
Daſein. Stand es nicht in feiner Macht, dich im oͤden Nichts zu
laſſen? Du wäreft nie geweſen. Aber er wollte dich, auch dich
3 ii = h
unter feinen Miriaden Erſchaffenen ſehen. Er wollte auch dich
mit ſeinen Wundern beſeligen. Und du biſt geworden; du lebſt,
du kenneſt, du nenneſt ihn, du preiſeſt ſeinen Namen. Er will
dein Vater ſein, und du ſollſt ſein Kind ſein. Nur hinweg deine
eigene Unvollkommenheit; nur hinweg das Unreine deiner Be—
gierden, dein beftändiges Sorgen und Kümmern um tägliches
Brod, um äußerliche Verhältniſſe, um din Schickſal oder um das
Loos derer, die deinem Herzen lieb ſind. Wirf deine Sorgen auf
ihn, er wird's wohl machen.
Es iſt gut, auf den Herrn vertrauen, und ſich nicht verlaſſen
auf Menſchen, — O du Alles umfaſſende, Alles liebende All-
macht, Du, den Jeſus Chriſtus mich Vater nennen lehrte: wem
kann ich vertrauen, als Dir? Du liebteſt mich, eh' ich war, darum
haſt du mich geſchaffen; und welches Schickſal mir fernerhin be—
gegne, und mag es meine Kurzſichtigkeit oder mein tief verwun⸗
detes Herz ein Unglück nennen, es iſt dennoch mein Beſtes; denn
es kommt, Liebender, Weiſeſter, Wohlthätigſter, von Dir!
Eine nie gefühlte Heiterkeit durchſtrömt mich. Ich empfinde
es, ich weiß es: ich bin Dein Kind. Geiſtervater, Dein Leben iſt
in mir und in den Meinigen; unſere Geiſter werden Dich und
Deine Wege erſt recht erkennen und verehren, wenn ſie losge—
bunden vom rohen Staub der Erde, in heller Freiheit ſich und
die Weltordnung durchblicken. b
Mag auch Alles ſich vor mir verdunkeln, ich weiß, vor Dir
iſt keine Finſterniß; mag auch meine Rettung, meine Ruhe un⸗
möglich ſcheinen, vor Dir ſteht nichts Unmögliches; mag auch
mein Herz bluten und erkranken unter herben Schickſalen —
Vater, meine Thränen mögen mir nicht zur Sünde gerechnet
werden; ach, ich bin ein Menſch! — dennoch werde ich mit kind⸗
licher Zuverſicht immer rufen: Dein Wille geſchehe, denn er iſt
der beſte.
Darum ſeid getroft und unverzagt (ſpricht Dein hei-
liges Wort); fürchtet euch nicht und laßt euch nicht grauen.
Denn der Herr, dein Gott, wird ſelber mit dir wandeln,
und wird die Hand nicht abthun, noch dich verlaſſen.
(5. Moſ. 31, 6.) Amen. N
34.
Selbſtkenutnu i .
Jak. 6, 41.
Immer blind für meine Fehler,
Nur für fremde Schwächen hell,
Richt' ich, eigner Sünden Hehler,
Mich nur langſam, Andre ſchnell.
Weil der Menſch ſich ſelbſt nicht kennet,
Und ſich ſelbſt zu ſehen ſcheut,
Bleibt bas Ziel, nach dem er rennet,
Fern von ihm — Vollkommenheit!
Es iſt in allen Sterblichen ein mächtiger, unauslöſchbarer Trieb,
der mit dem erſten Erwachen des kindiſchen Verſtandes erwacht,
und mit dem letzten Schlaf des Hinſterbenden er einſchlaft: dies
iſt der Trieb, zu gefallen.
Der Menſch will gefallen. — Ihm iſt jede Laſt des Le⸗
bens, jedes Unglück, jede Widerwärtigkeit erträglich; ſelbſt den
Tod kann er auf dem Krankenlager mit Gelaſſenheit erwarten —
aber Verachtung iſt ihm unerträglich. — Um Aufmerkſamkeit,
Beifall, Bewunderung zu erregen, ſtrengt der ſpielende Knabe
die ſchwachen Kräfte an, kämpft der Reiſende mit den Ungeheuern
der Welt, ſchmückt ſich die Jungfrau mit ihren Kleinodien, geht
der Krieger beherzt gegen die todverbreitenden Feuerſchlünde,
ſchifft der Seemann durch unbekannte Meere, ſammelt die Hand
des Arbeiters Vermögen und Schaͤtze, baut der Fürſt Paläſte und
Gärten, ätzt der Wilde ſchreckliche Zeichnungen in die Haut Tut
Leibes.
Der Menſch will gefallen. Dieſer Trieb iſt die Quelle feiner
vorzüglichſten Neigungen, ſeiner ſchönſten Tugenden, feiner groͤß⸗
ten Laſter. Daher ſtammt ſein Ehrgeiz und ſeine Eitelkeit, ſeine
Kühnheit und Heuchelei, ſein Fleiß und ſein Verſchwenden, ſeine
Enthaltſamkeit und ſeine Wolluſt.
Darum iſt er mit nichts ſo ſehr beſchäftigt, als mit ſich ſelbſt.
Darum vergleicht er Alles mit ſich ſelbſt; darum macht er bei
allen Anlaͤſſen feinen Werth geltend und ſein Verdienſt. Darum
B
endlich bemerkt er ſo gern die Fehler ſeiner Mitbürger; darum
ſucht er auch die geringſten Schwächen und Irrungen des An⸗
dern gern hervor, bringt ſie ins Geſpräch, macht ſie auffallender,
ſchildert fie vielleicht noch härter, als fie find, und das Alles thut
er oft freilich ohne deutliche Vorſtellung, doch aber immer mit dem
dunkeln Gefühl des Wohlbehagens; „Ich bin beſſer, als dieſer.
So würde ich nicht gethan haben, wie dieſer. Hier reichen meine
Einſichten weiter. Darin bin ich weiſer, tugendhafter, geſchickter,
ruhmvoller!“
Dieſes Streben, Andern zu gefallen, Andern ein Gegenſtand
der Achtung und Bewunderung zu ſein, iſt uns Allen natürlich.
Es gründet ſich auf unſere eigene Ehrfurcht und Liebe für jedes
in ſeiner Art Vollkommene, Gute, Wahre und Schöne. Ohne
dieſen Trieb würde der Menſch rohes Thier geblieben ſein, das,
unbekümmert um Beifall der Andern, in Trägheit verſunken
wäre, ſobald es ſeinen Hunger und Durſt geſtillt hat.
Auch die Religion ehrt dies Streben. Sie will, daß wir
vollkommen werden, auf daß wir vor Gott und Menſchen wohl-
gefällig daſtehen. Sie tadelt nicht die tugendhafte Ruhmliebe;
ſie will, daß wir allen guten und frommen Menſchen theuer ſein,
aber unſern höchſten Ruhm in Gottes Beifall finden ſollen.
Woher kommt es nun, daß bei allen Anſtrengungen der
meiſten Menſchen nach Hochachtung, Anſehen und Bewunderung.
von Andern, ihrer jo wenige wirklich allgemein geachtet und ge=
liebt find? Woher kommt es, daß bei dem unabläffigen Be⸗
mühen, zu gefallen, nur wenige das Glück haben zu gefallen? —
Liegt der Grund in der ungleichen Vertheilung der Gaben und
vorzüglichſten Eigenſchaften, mit welchen uns die göttliche Schöpfer⸗
hand ausgeſtattet hat? Wahrlich nicht. Denn Gott gab jedem
Menſchen irgend eine vorzügliche Anlage, die er vortheilhaft be—
nutzen, irgend ein Pfund, mit welchem er wuchern konnte; allen
Menſchen aber, ohne Unterſchied, gab er die Kraft und das Ver⸗
mögen zur Tugend und Gottſeligkeit, das heißt, er gab Allen die
Anlage, durch Seelenſchönheit zu gefallen. Wir wiſſen ohne⸗
dem, daß alle andern Eigenſchaften zwar Anſehen und Bewun⸗
derung erwecken können, aber daß wir weder durch Reichthum,
f
— 302 —
noch durch Ehrenſtellen, weder durch hohe Gelehrſamkeit, noch
durch Körperſtärke, weder durch Kunſtgeſchicklichkeit, noch durch
Prachtaufwand liebenswürdige Menſchen werden, und das Wohl⸗
gefallen und die innige Hochachtung Anderer gewinnen, ſondern
nur durch Seelengüte, Seelenſchönheit.
Die geheime, aber einzige und wirkliche Urſache, welche das
Verlangen ſo vieler Menſchen und ihr Bemühen, Andern zu ge⸗
fallen, gänzlich oder zum Theil vereitelt, it — der Mangel
an Kenntniß ihrer ſelbſt. ö
Wahrlich, Tauſende, die heute mit ſich noch gar wohl zu⸗
frieden ſind, würden, wenn ihnen ihr zweites Selbſt in einer
andern Geſtalt begegnete, daſſelbe nicht lieben, nicht ehren können.
Sie würden im erſten Augenblick ſo mancherlei anſtößige Eigen⸗
ſchaften an dieſem zweiten Selbſt entdecken, daß ſie es verachten
müßten.
Sie, die Alles kennen, die jeden Menſchen ſo ſcharfſinnig zu
beurtheilen wiſſen, die jeden Splitter in des nächſten Auge ſehen,
kennen ſich ſelbſt am allerwenigſten.
So iſt denn alſo Selbſtkenntniß die Vorſchule der wahren
Tugend, der Vorhof der Liebenswürdigkeit, die Einweihung zu
dem ſeltenen Glück, dem Himmel und der Erde zu gefallen. —
Die Weiſen aller Jahrhunderte haben daher die Kenntniß ſeiner
ſelbſt für die erſte und vornehmſte Wiſſenſchaft der Menſchen ge⸗
halten, und mit Recht. Denn ſo wenig ein Hausvater ſein Ver⸗
mögen recht verwalten und es vermehren kann, wenn er den Um⸗
fang ſeiner Beſitzungen, den wahren Werth ſeiner Güter, die
Tauglichkeit oder Untauglichkeit ſeiner Diener und Arbeiter nicht
kennt: eben ſo wenig iſt der Menſch im Stande, ſich ſelbſt zu
vervollkommnen, ſeine guten Anlagen zu erheben, ſeine Schwächen,
ſeine Fehler zu beſeitigen, die guten Eigenſchaften anzunehmen,
die zum Gefallen unentbehrlich ſind, wenn er mit ſich ſelbſt be⸗
ſtändig im Dunkeln iſt, und ſeinen wahren Werth noch nicht
richtig beurtheilt hat.
Richtige Selbſtkenntniß iſt aber unter den Menſchen ſelten,
wie die reinſte Liebenswürdigkeit des Gemüthes. Denn eine iſt
von der andern unzertrennlich. Sie iſt ſelten, weil ſie mit großen,
— 308 —
oft unüberwindlichen Schwierigkeiten verbunden iſt. Dieſe Schwie⸗
rigkeiten ſind unſere eigenen Schwächen, unſer Leichtſinn. Und
die größte, die gefährlichſte aller menſchlichen Schwachheiten iſt
unſere, ſich Alles zu gut haltende, ſich ſelbſt verzärtelnde, ſich
ſelbſt ſchmeichelnde Eigenliebe.
Die Eigenliebe iſt jene Stimmung des Gemüthes, in der wir
Alles, was nicht unmittelbar uns ſelbſt angeht, für Nebenſache
halten; nichts außer uns ſelbſt mit Wahrheit lieben, oder doch
nur in ſo fern; als es gewiſſermaßen ein uns zugehöriger Theil
iſt, oder als ſolcher angeſehen werden kann. Die Eigenliebe hält
das für gut, was wir thun, was wir haben; wenigſtens will ſie,
daß Andere es für gut halten ſollen. Die Eigenliebe will, wenn
ſich Muth zu ihr geſellt, den Beifall Anderer ertrotzen; kann ſie
es nicht, ſo erhebt ſie ſich über das Urtheil der Menſchen, und
behauptet die Güte der Fehler, was auch die Welt dazu ſagt.
Ihr Spruch iſt: Ich will nun fo fein; was kümmern mich Ans
dere? Ihr müßt mich nehmen, wie ich bin. — Verbindet ſich mit
der Eigenliebe die Furchtſamkeit, ſo beſchönigt ſie nur ihre Fehler,
und heuchelt das Gute, bewahrt aber unter der ſchönen Außen⸗
ſeite die ſchlechte Sache.
Die Eigenliebe iſt es, welche uns von der ernſten Schätzung
unſers eigenen Werthes abhält. Sie nimmt den Weihrauch jedes
Lobes begierig und als wohlverdient an, er werde nun von An⸗
dern im Ernſt oder aus Schalkheit gegeben. Sie verſetzt uns
gern in die Lage Anderer, bloß um über unſere eigenen Voll⸗
kommenheiten in Freuden gerathen zu können. Sie wirft über
unſere Gebrechen einen Schleier, daß wir ſie nur kaum erkennen,
weiß fie mit den größern Untugenden anderer Menſchen ſehr lieb-
reich zu entſchuldigen, unſere Beſorgniſſe zu beruhigen und uns
ſere größten Fehler ſchlau genug zu verkleinern, indem ſie zeigt,
wie unbedeutend ſolche im Vergleich mit andern vortrefflichen
Eigenſchaften und Verdienſten ſind, die wir beſitzen. — Selbſt
wenn es uns einmal Ernſt wäre, mit unſern eigenen Sünden zur
Rechenſchaft zu gehen, weiß die Eigenliebe unſere Strenge zu
beſchwichtigen, indem fie uns freundlich zuflüſtert: jeder Menſch
— 304 —
hat ſeine Fehler, Niemand iſt vollkommen; du wirſt doch auf
Erden kein Engel werden können.
Des Menſchen größter Feind iſt alſo der Menſch ſich ſelbſt.
Er verblendet ſich über ſeinen eigenen Werth oder Unwerth. Er
hindert ſich muthwillig an ſeiner Selbſtprüfung. Weil er nun
nicht ſieht den Balken in feinem Auge, wohl aber in feines Näch⸗
ſten Auge den Splitter, kann er nicht mit Kraft an ſeiner Vollen⸗
dung arbeiten, und iſt ſein Streben und Verlangen eitel, die
Herzen aller Menſchen, die Achtung, die Liebe, das Vertrauen
aller Guten zu gewinnen. Er iſt ein Opfer ſeiner Selbſttaͤu⸗
ſchung, und geht mißmuthig, immer im Kampfe mit der Verach⸗
tung oder dem Haſſe Anderer durch das Leben.
O meine Seele! biſt du nicht vielleicht in dieſem unglück⸗
lichen Falle? Wie ſehr beſchäftigen dich doch die Fehler und
Thorheiten Anderer, und wie wenig deine eigenen dich ſelbſt! —
Wirſt du wohl von Andern ſo ganz vergebens getadelt? Biſt du
am Ende nicht ſelbſt die erſte Urſache von manchen deiner miß⸗
vergnügten Stunden? Haſt du nicht vielleicht Eigenſchaften, die
Andern unangenehm ſind, die ihnen Mißtrauen gegen dich ein⸗
flößen, die ihre Freundſchaft oder die Bezeugung ihrer Hochach⸗
tung von dir abhalten?
Wornach ſtrebſt du denn am liebſten in dieſer Welt? — Nach
Glückſeligkeit. Und worin beſteht denn deine Glückſeligkeit? Doch
nur darin, daß du der Liebe und Achtung aller guten Menſchen,
und des Beifalls Gottes, deines unſichtbaren Vaters, gewiß biſt.
Ohne dieſe Gewißheit kannſt du nicht mit dir ſelbſt zufrieden ſein;
ohne dieſe Gewißheit biſt du ein zitternder Flüchtling vor dem
richtenden Blick Gottes; ohne dieſe Gewißheit haſt du keinen
Einfluß auf deine Nebenmenſchen.
Wohlan denn, willſt du glücklich werden, iſt es dir einmal
darum zu thun, ein Gegenſtand allgemeiner Achtung und Freund—
ſchaft zu werden, die höchfte Stufe menſchlicher Seligkeit zu ge—
nießen, wage den erſten Schritt, lerne dich ſelbſt kennen!
Vielleicht findeſt du nirgends, als in dir, die Hauptquelle alles
Uebels, das dich hindert, deines Lebens recht froh zu werden.
Damit du aber zur wahren Würdigung deines Werthes und
— 80 —
Unwerthes gelangeſt, entferne vor allen Dingen zuerſt deine vor⸗
züglichſte Feindin, das ſtärkſte Hinderniß an deiner Selbſtkennt⸗
niß, die Eigenliebe.
Und daß ſich ihre ſchmeichelnde Stimme nie in dein Urtheil
über dich ſelbſt miſche, enthalte dich bei der einſamen Prüfung
deines Innern jedes Blickes auf deine allfälligen Vorzüge, jeder
Freude über deine ausgezeichneten Fähigkeiten und Beſitzthümer,
jedes Andenkens an deine guten Thaten; ſondern ſuche ganz allein
deine Fehler, deine fündlichen vorherrſchenden Neigungen, deine
unerlaubten Begierden, deine natürlichen Schwachheiten, die
Mängel deiner Grundſätze, die Urſachen auf, welche dir bei an-
dern Menſchen den meiſten Verdruß erregen, wodurch ſie von
dir entfernt werden, und weswegen ſie, ſtatt dich mit Güte, mit
Hochachtung, mit warmer Freundſchaft zu behandeln, dir mit
Kälte oder gar mit Empfindlichkeit begegnen! — Du haft einen
guten Engel, welcher freundlich und ernſt dich auf jede Stelle
deiner Denkart, auf jede Blöße deines Herzens, wo du mangel-
haft biſt, aufmerkſam machen wird. Dieſer gute Engel heißt Ge—
wiſſenz es iſt ein beſtändiger Feind des böſen Engels, der dich
unter dem Namen der Eigenliebe verdirbt.
Wagſt du es aber doch nicht, deinem eigenen Urtheil ganz zu
trauen, ſo wähle dir einen treuen, wohlmeinenden Freund. Unter⸗
halte dich mit ihm in einer einſamen Stunde über deinen Ka=
rakter. Bitte ihn um ſein ſtrenges Urtheil, nicht über das, was
du Gutes an dir haben könnteſt, ſondern über das, wodurch du
Andern etwa mißfällig geworden. Vielleicht ſind es eben nicht
grobe Fehler und Laſter; aber es können Unterlaffungsfünden
ſein, die dich in den Augen deines Nächſten herabſetzen. Du thuſt
vielleicht weniger Gutes, als du wohl könnteſt, biſt weniger dienſt⸗
fertig, als du wohl ſein ſollteſt, weniger zuvorkommend gütig,
als du ſein müßteſt.
Aber auch der beſte Freund, wenn er uns beurtheilt, wird
immer dabei mit zärtlicher Schonung verfahren. Er wird uns
nie allzutief verwunden wollen, und uns oft aus eigenem Triebe
entſchuldigen, auch wo wir nicht ganz Entſchuldigung verdienen. —
Strenger beurtheilt dich dein Nebenbuhler, dein Widerſacher, dein
— 306 —
Feind. Horche dann vorzüglich auf das Urtheil derer, die dir
nicht wohlwollen. Suche zu erfahren, worüber ſie dich tadeln.
Sie find es, welche, und wären fie ſelbſt fehlervoller als du, auch
den kleinſten Splitter in deinem Auge ſehen, auch den geringſten
deiner Mängel richten. So wie die Schonung des freundſchaft⸗
lichen Urtheils dir deine Mängel allzuglimpflich nennt, wird der
Haß derer, die dir ungünſtig ſind, deine Gebrechen oft mit Ueber⸗
treibung ſchildern. Aber verachte das leidenſchaftliche Verdam—
mungsurtheil des Feindes nicht ganz; immer bleibt darin, nach
Abzug deſſen, was ſein Zorn vergrößerte, Manches zurück, worin
er Recht behält. Er erdichtet gewiß nichts, weil er wohl weiß,
man würde ihm ſonſt gar nicht glauben. Er nennt, was alle
Menſchen ſo gut ſehen, wie er; aber ſein Zorn, ſein Neid, ſein
Groll vergrößert den geringen Fehler zur großen Mißgeſtalt.
Kann dich weder das Urtheil eines Freundes belehren, noch
der Tadel eines Feindes dir deine Unvollkommenheiten richtig
andeuten: ſo wähle dir einen andern Spiegel, in welchem du
deine Geſtalt erkenneſt. Vergleiche dich mit Andern, die du hoch—
ſchätzeſt und liebeſt, und unterſuche, worin ihre Liebenswürdig⸗
keit beſtehe, wodurch ſie dich und alle guten Menſchen zur Hoch⸗
achtung gleichſam zwingen. — Wäreſt du jo wie fie, die Freund⸗
ſchaft und das allgemeine Vertrauen deiner Mitbürger, die wahre
Anhaͤnglichkeit und Achtung aller derer, die dich kennen, würde
dir eben ſo gewiß gehören, als ihnen. Vergleiche dein Betragen,
deine Denkart, deinen Umgang, deine Lieblingsneigungen mit
denen der achtungswürdigſten Menſchen deiner Bekanntſchaft, und
du wirſt bald entdecken, worin du ihnen nachſteheſt. Es iſt, um
dem Himmel und der Erde zu gefallen, nicht genug, keine groben
Laſter an ſich zu haben; man muß auch Vollkommenheiten und
Tugenden zeigen können. Wer nicht ſtiehlt, iſt darum kein lie⸗
benswürdiger Menſch; aber wer mit Eifer dazu hilft, Andere in
beſſern Wohlſtand zu verſetzen, feſſelt die Herzen der dankbaren
Welt und die Hochachtung ſelbſt der Gleichgültigſten.
Willſt du dein Bild ſehen? Willſt du wiſſen, ob dich Andere
zärtlich lieben können? — Denke in einer einſamen Stunde, du
habeſt einen Menſchen gefunden, der dir in allen deinen Neigun—
„
gen, in deiner Art zu denken, in deinen Wünſchen und Begier⸗
den, in deinem Betragen vollkommen gleich wäre: möchteft du,
könnteſt du wohl der Freund eines ſolchen Menſchen werden, der
dir in allen Stücken gliche? Möchteſt du wohl mit ihm zeitlebens
beiſammen ſein? — Lege die Hand an dein Herz und frage:
warum nicht? und du haſt die große Antwort, nach der du dich
ſehnſt, und warum auch du vielen Menſchen anſtößig biſt, daß
ſie dich nicht recht lieben und achten können.
Dieſe Selbſtprüfung wiederhole oft, und du wirſt zur Selbſt⸗
kenntniß gelangen; wirſt den Balken in deinem Auge empfinden,
wie Jeſus in dem Gleichniſſe geſagt hat. — Dann kennſt du den
Weg zu deiner irdiſchen und künftigen Seligkeit, dann das wahre
Mittel, durch welches du Gott und Menſchen ein Wohlgefallen
wirſt. Kenntniß unſerer Selbſt iſt der erſte Schritt, ja iſt der
halbe Weg zur Vollkommenheit und innern Glückſeligkeit. Denn
nicht mehr Thorheit, ſondern Wahnſinn iſt es, die Quelle ſeines
eigenen Uebels, ſeines allzugeringen Erdenglücks kennen, und
nicht verſtopfen, ſondern unverhalten ihr Verderben über uns
ausſtrömen laſſen.
Der Du die Herzen prüfſt, und die Gedanken der Seele wie
einen Thautropfen durchſchauſt, allgegenwärtiger Gott! oft will
ich in einſamen Stunden über die Urſachen nachdenken, welche
meine Zufriedenheit ſtören, mir die Liebe und Zuneigung der
tugendhaften Seelen entziehen, und mich nicht ſo glücklich werden
laſſen, als ich es doch ſein könnte. Ich will oft vor Dir mich
prüfen, heiliger Richter der Welt, und den Stab über meine
ſündhaften Wünſche brechen, über meine Nachläſſigkeit in Ver⸗
richtung guter, Dir und meinen Brüdern wohlgefälliger Hand⸗
lungen! — Ja, richten will ich mich ſelbſt in den ernſten Stun⸗
den des Nachdenkens, und meinen Sinn ändern, und edler wer⸗
den, ehe die Zeit verflogen iſt, und ich vor Deinem Richterſtuhl
erſcheinen muß. N
Hinweg, ſchmeichleriſche Eigenliebe; ſtrenges Gewiſſen, rede
du! — Hinweg, betäubender Stolz — beſcheidene Demuth, be⸗
gleite mich du! — Wie Mancher, den ich oft hart tadelte, iſt ein
beſſerer Menſch geweſen, als ich! Ich will fortan Niemanden
richten, als mich ſelbſt. — Ach, warum ſollte ich meinen Ver⸗
wandten und Bekannten nicht gern ihre Fehler verzeihen, da ich
mir ſo Vieles verzeihe, das nicht Schonung verdient! — Ich
will nicht mehr klagen über Mangel an Liebe und Treue unter
den Menſchen, ich war ihrer nicht werth. — Ich ſelbſt verſchul⸗
dete ihre Gleichgültigkeit, und wandelte nicht zu Deinem Wohl⸗
gefallen, heiliger Gott. Aber Aenderung ſoll in mir geſchehen;
ich will nicht ruhen, bis ich durch Gottſeligkeit in Sinn und
Werk mich Deines Beifalls freuen, und der Freundſchaft und
Achtung aller edeln Seelen gewiß ſein kann. Dein göttliches
Beiſpiel leuchte mir vor, o mein Jeſus! Amen.
}
35.
> Lei oo mu €...
Spr. Sal. 16, 32.
Froh geht der Chriſt und ſtill durchs Leben,
Ein Gott bewohnet ſeine Bruſt;
Selbſt in der Leidenſchaften Streben
Bleibt er ſich ſeines Ziels bewußt.
Nichts kann ihm das Gemüth erſchüttern,
Der Freude Nauſch betäubt ihn nicht;
Er lächelt zwiſchen Ungewittern,
Selbſt wenn der letzte Anker bricht.
Wir ſind (wer kann es läugnen?) von unſern meiſten Uebeln,
Verdrießlichkeiten und unangenehmen Verhältniſſen gewöhnlich
die erſten Urheber. Leben wir mit Andern in Feindſchaft, ſo haben
wir ſelbſt unſern Theil dazu beigetragen. Haben wir irgend einen
geheimen Kummer, ſo können wir uns meiſtens ſelbſt als Anlaß
dazu anklagen. — Und doch möchten wir glücklich fein!
Wie vereinigt ſich aber unſere Begierde nach Zufriedenheit
oder Glück mit dieſer unverzeihlichen Unvorſichtigkeit, daß wir
mit eigenen Händen dasjenige immer zerſtören, was wir erbauen
möchten? Wie iſt es möglich, daß wir uns beſtändig nach einer
fröhlichen Gemüthsſtimmung ſehnen, und in dem gleichen Augen-
blick der Sehnſucht alles Mögliche thun, um nur Ruhe, Zufrie—
—
denheit und Freude zu verderben? Wie iſt es denkbar, daß oft
der Menſch, indem er ſich doch ſelbſt ſo ſehr liebt, mit einer Grau⸗
ſamkeit gegen ſich verfährt, wie oft fein bitterſter Feind nicht thun
würde? . ’
Wenn ich mich aufmerkſam prüfe und den Grund erforſche:
ſo iſt eine Hauptquelle aller meiner mißvergnügten Stunden eine
allzugroße Reizbarkeit des Gefühls, eine allzugroße Lebhaftigkeit
meiner Empfindungen, denen ich mich Anfangs zwar immer mit
einem gewiſſen Wohlbehagen überlaſſe, die aber zuletzt Meiſter
über meine Beſonnenheit werden, ſtatt daß ich fie in meiner Ges
walt haben ſollte.
Wer lebhaft empfindet, hat zwar größern Genuß von der
Freude, aber auch größern Eindruck vom Schmerz. Wer ſich den
Empfindungen, welche bei irgend einem Anlaß in ihm aufſteigen,
ganz und gar überläßt, pflegt gewöhnlich feine fröhlichiten Stun⸗
den zu einer Urſache und Quelle verdrießlicher Folgen zu machen,
um wieder bei irgend einer Unannehmlichkeit viel mehr Mißmuth
zu fühlen, als die Sache oft werth iſt.
Die Lebhaftigkeit unſerer Empfindungen iſt freilich nicht etwas,
was von uns abhängt, ſondern eine Gabe Gottes, eine Eigenheit
des Gemüths, die wir von der Natur empfangen haben. Wir
können uns nicht ändern. — Aber zu allen Zeiten Meiſter unſerer
Gefühle ſein, auch unſere lebhafteſten Empfindungen beherrſchen,
das konnen wir, das fordert die Lebensklugheit, das fordert die
Gottheit von uns.
Zwar kann bei einer fröhlichen Gelegenheit der Menſch nicht
das Aufwallen ſeiner Freude verhüten, wohl aber, daß er in dieſer
Freude nichts Thörichtes unternehme. Zwar kann der Menſch
oft nicht verhindern, daß ſein Gemüth plötzlich von Zorn und
Unwillen, oder von unausſprechlichem Schmerz ergriffen werde;
aber er kann es verhindern, daß er nicht in den erſten Bewegun⸗
gen ſeiner Leidenſchaft rede oder handle. — Nur darum ſtiften
ſich auch ſonſt nicht böſe Menſchen ſo manchen unheilbaren Scha⸗
den, weil ſie zu ſchlaff, zu nachſichtig gegen ſich ſelbſt ſind, oder
wohl gar eine Ehre darin ſuchen, ſich von ihren Gefühlen ganz
5
—
— 310 —
berauſchen und hinwegfluthen zu laſſen. Traurige Ehre, die
wir mit jedem gemeinen Thiere theilen!
Es gibt ſonſt treue, zuverläſſige, kluge und verſchwiegene
Menſchen, die aber, wenn ſie frohen Muthes ſind, wenn ihr
Herz von Freuden überwallt, ſich ſelbſt und Andere ſo weit ver⸗
geſſen können, daß ſie ihre oder fremde Geheimniſſe mit unver⸗
zeihlicher Zutraulichkeit ausplaudern und verrathen. Andere wie⸗
der thun das Gleiche im auflodernden Zorn. — Wie viel bittere
Stunden, wie viel Jahre voller Reue hat nicht ſchon oft die
Unvorſichtigkeit einer einzigen Minute geboren!
Noch gewöhnlicher pflegen allzureizbare Gemüther jeden kleinen
Unfall mit beinahe eben ſo großem Mißmuth aufzunehmen, als
wenn es ein wahrhaftes Unglück wäre. Auch an ſich bedeutungs⸗
loſe Umſtände können ihre Empfindlichkeit in einem hohen Grade
rege machen. Ein bloßer Traum, eine leere Einbildung kann ſie
für einen ganzen Tag verſtimmen und unempfänglich für den
Genuß des Lebens machen. Dieſe Reizbarkeit, obgleich eine Folge
körperlicher Kränklichkeit, iſt noch viel öfter nur die Wirkung
eines ſich ſelbſt verzärtelnden, ſich ſelbſt verwahrloſenden, kränk⸗
lichen Gemüthes; eines Gemüthes, das noch nie den Muth hatte,
noch nie den Verſuch wagte, Gebieter über ſich und ſeine Em⸗
pfindungen zu werden.
Der Schade, welcher aus ſolcher eigenſinnigen kindiſchen
Selbfiverzärtelung entſpringt, da wir der Macht unſerer Em⸗
pfindungen keine Gewalt anthun mögen, iſt durch tauſend traurige
Erfahrungen bekannt. Es iſt bekannt, wie diejenigen Menſchen,
welche leicht gereizt werden, immer diejenigen ſind, welche von
der Hinterliſt anderer Menſchen auch am leichteſten bald hie- bald
dorthin geführt werden können; daß die, welche glauben, eben
darum recht unabhängig zu ſein, weil ſie ſich ohne Scheu und
Einjchränfung ihren Launen überlaſſen, eben die allerſchwächſten
und von der Schlauheit Anderer die abhängigſten find. Es iſt
bekannt, daß diejenigen jederzeit unklüger und ſchlechter handeln,
welche in einer übeln Gemüthsſtimmung ſind, als diejenigen,
welche zu allen Zeiten Faſſung genug haben, ſich nicht durch
irgend etwas leicht verſtimmen zu laſſen. Es iſt bekannt, daß,
- Bi —
wenn reizbare Menſchen nicht von dem Einfluffe Gebrauch machen,
welchen die Stärke der Seele über den Körper und über die Auf⸗
wallungen des Gefühls hat, ſolche Perſonen zuletzt der menſch⸗
lichen Geſellſchaft und ſich ſelbſt unerträglich werden; daß ſie ihre
eigene Geſundheit ſchwächen, weil ſie dieſelbe unaufhörlich zum
Spiel ihrer Empfindlichkeit machen; daß ſie ihre Lebensfreuden
nicht nur, ſondern auch die Dauer ihres Lebens verkürzen, einem
frühen Grabe entgegeneilen, und gleichſam ihre Selbſtmörder ſind.
Schon die Alten lehrten: Bewahret die goldene Mittelſtraße
in der Freude und im Leid. Verbannet jede Unmaͤßigkeit, auch
in den Empfindungen. — Alle Tugendhaften, alle Weiſen preiſen
die Tugend der Gleichmüthigkeit; und der göttliche Stifter
unſerer Religion, Jeſus Chriſtus, gab uns in ſeinem irdiſchen
Wandel das Beiſpiel hohen Gleichmuths, der in den Stunden
des Vergnügens nie das Geleis des Schicklichen und Wohlan⸗
ſtändigen überſprang, und von den traurigſten Anläſſen nie er⸗
ſchüttert werden konnte. Wie bei der fröhlichen Hochzeit zu Kana,
ſo in der bangen Todesſtunde am Kreuz, blieb ſich Jeſus gleich,
immer gelaſſen, ruhig, wohlthätig, für das Heil Anderer beſorgt,
ohne Uebermaß in der Freude, ohne Ungeduld und Verſtimmung
in der Noth.
Der Mangel der Befonmenpeit in den verſchiedenen Lagen des
Lebens, der Mangel jener ächtchriſtlichen Tugend des Gleich-
muths iſt zugleich ein Haupthinderniß am Seelenfrieden, ein
Haupthinderniß reinen, frommen Wandels, eine Quelle vieler
Vergehungen und Sünden.
So iſt es alſo die Pflicht jedes Chriſten, jedes Menſchen,
der nach wahrer Weisheit verlangt, jedes Sterblichen, welcher
ſich ſehnet, ein frohes, beglücktes Leben bis ins ſpäteſte Alter zu
führen, daß er nach Gleichmüthigkeit trachte.
Gleichmüthigkeit iſt aber jene ruhige Stimmung der Seele,
vermöge welcher ſie mit heller Beſonnenheit ihre Handlungen
verrichten kann, und ſich nie zu einem allzulebhaften Grad der
Luſt oder des Mißvergnügens hinreißen läßt. Die Seele des
Gleichmüthigen ſteht immer höher, als jede Freude, als jeder
— 312 —
Schmerz, und weiß ſie zu beherrſchen, ſtatt ſich von ihnen über⸗
wältigen zu laſſen.
Der Chriſt ſoll ſich überall gleich fein, immer unbeſchränkter
Regent ſeiner ſelbſt. — Nur alſo kann er die erhabene Stelle be⸗
haupten, welche ihm ſeine Religion unter den Geſchöpfen Gottes
anweiſet. Es iſt damit nicht geſagt, daß er gegen alles Vergnügen
gleichgültig und unempfindlich ſein müſſe. Nein, ein reines Herz
kann jederzeit ein frohes Herz ſein; aber nie läßt es ſich von Ver⸗
gnügungen berauſchen, betäuben. Auch damit iſt nicht geſagt,
der Chriſt ſolle gefühllos gegen eigenes und fremdes Leiden ſein.
Nein, er iſt Menſch. Er mag den Schmerz empfinden, aber ſich
ihm nicht überlaſſen. Er wird von wehmüthigen Gefühlen er⸗
griffen, aber bald wird er ſich wieder mit chriſtlicher Faſſung er⸗
heben. Er gleicht dem hohen Fels, um deſſen Fuß die unge⸗
ſtümen Wellen des Meeres wüthen, deſſen Bruſt finſtere Wolken
verhüllen, deſſen Haupt aber über den Wolken hinweg im lächeln⸗
den Sonnenglanze heiter ſtrahlt.
Denke nicht, es ſei zu ſchwer, dieſe hohe Gelaſſenheit, dieſe
herrliche, ewige Gemüthsſtille zu erringen. Denke nicht, das
hänge viel zu ſehr von deiner äußern Lage, oder von der Bes
ſchaffenheit deines Temperaments ab. — Groß iſt die Macht der
äußern Umſtände, groß der Einfluß unſerer ſinnlichen Natur;
aber gewaltiger als beide iſt des Chriſten, des Weiſen Seele.
Denke nicht, es ſei dir bei deiner jetzigen Art, zu ſein, zu
leben und zu empfinden, ganz wohl; du habeſt nicht nöthig, dir
Gewalt anzuthun; andere Menſchen müſſen ſich nun wohl in
deine Launen fügen; und wenn dir deine allzugroße Lebhaftigkeit,
deine Empfindlichkeit, deine Ausgelaſſenheit im Schmerz oder in
der Freude auch einmal nachtheilig werden könnte, ſo ſei das deine
Sache, und du werdeſt es ſchon tragen! — Nein, es iſt hier von
deinem irdiſchen Lebensglück, es iſt von deiner Geſundheit,
es iſt von der laͤngern oder kürzern Dauer deines Lebens, es
iſt von deinem Chriſtenthum, von deiner Nachfolge Jeſu, es iſt
von deiner Selbſtveredelung, von deiner Seligkeit die ernſte Rede!
Freilich koſtet es einigen Kampf, einige Selbſtüberwindung,
unter allen Umſtänden jederzeit ein gleiches Gemüth zu bewahren.
— 313 —
Aber ewige Seelenheiterkeit, die Himmelsfrucht der Weisheit,
dieſes Kleinod des frommen chriſtlichen Herzens, iſt auch wohl
des ſchwerſten Kampfes werth.
Der erſte Schritt, Gleichmuth zu gewinnen, iſt, mit beſtaͤn⸗
diger Aufmerkſamkeit ſich ſelbſt zu bewachen; anhaltend darüber
zu wachen, daß uns bei irgend einer Gelegenheit nicht die Ge-
walt unſerer Empfindungen übermanne; daß wir, wie man zu
ſagen pflegt, beſtändig kalten Blutes bleiben, es möge ſich auch
ereignen, was da wolle. — Wer nur erſt dieſe Aufmerkſamkeit
auf ſich ſelbſt, dieſen feſten Willen gewonnen hat, nie ſeine
Faſſung zu verlieren, der hat ſchon den halben Sieg gewonnen.
Und wahrlich, der Menſch vermag viel; er kann mit feſtem Vor⸗
ſatze und beſtaͤndiger Aufmerkſamkeit eine Veränderung in ſich
hervorbringen, welche Erſtaunen erregt; die Seele, bei den ge-
wöhnlichen Menſchen mehrentheils Sklavin des Körpers, kann
durch ihre Macht ſogar die natürlichen Geneigtheiten und An⸗
lagen des Leibes vortheilhaft umſchaffen.
| Wer einmal ſich ſelbſt beherrſcht, der iſt fähig, Andere zu be⸗
herrſchen. Ein Geiſt, der feine heitere Ruhe durch keine übeln
Eindrücke von außen verwandeln läßt, urtheilt jedesmal beſon⸗
nener, richtiger über die Handlungen anderer Menſchen, und über
den Zweck der Schickſale. Er iſt ein Weiſer, und ſeine Gelaſſen⸗
heit erregt Ehrfurcht, oft Bewunderung. Das launenvolle, oft
verſtimmte Gemüth hingegen iſt ſich weder in ſeinen Urtheilen
noch Handlungen gleich; widerſpricht oft ſich ſelbſt; verliert die
Acahtung für ſich ſelbſt, und die Achtung Anderer wendet ſich mit
Recht von ihm ab. Es erblickt die Welt nie in reiner Klarheit,
ſondern bald im allzuſchönen Glanze feiner Einbildungen, bald
wie von trüben Nebeln verſchleiert.
| Darum beherrſche dich ſelbſt! — Handle nie, wenn du
fühlſt, daß deine Empfindungen aufwallen; gib kein
Wort, oder wiege deine Worte, wenn dich Freude oder Schmerz,
Furcht oder Zorn übermannen wollen. — Der Kaltblütige hat
ſchon den erbittertſten Feind durch die Würde und Ruhe des
Betragens entwaffnet, und indem er nirgends in der Uebereilung
Bloͤßen zeigt, hat er keine Furcht, irgendwo verletzt zu werben,
III. 14
— 1
Der Gelaſſene bricht die Roſen der Freude mit weiſer Vorſicht;
der Unmäßige bricht fie zwar auch, aber ihrer Dornen uneinge⸗
denk, verbittern ihm Wunden und Schmerz nur zu bald den
flüchtigen Genuß des Vergnügens. — Hüte dich, Entſchlüſſe in
der Hitze deiner Empfindungen, Vorſätze im Rauſche der Freude
oder des Zorns zu faſſen. Nach verflogenem Rauſche kehrt die
Reue zu dir ein. Haben dich denn ſo t ahnung wan
Lebens vergeblich gewarnt? |
Und wenn du eine Gemüthsverändetung⸗ in dir bemerſt,
wenn du fühlſt, daß dein Unwille in dir aufkocht, daß die
Flamme des Zorns in dir emporlodern möchte, oder daß dir Un⸗
wille und Schwermuth die Seele umſchleiern, — oder daß du
deiner im Uebermaß eines Vergnügens ſelbſt nicht mehr mächtig
bleibſt, dann — zerſtreue dich! Aendere den Ort. Andere
Gegenſtände werden andere Bilder in deine Seele bringen, an=
dere Gedanken und Empfindungen erregen; du wirſt das ſchöne
Gleichgewicht in dir wieder herſtellen, und, immer Beherrſcher
deines Selbſtes, unabhängig von den Außendingen der Welt,
Zufriedenheit mit dir bewahren, und eine Schamröthe, eine n
dir erſparen.
Aber dieſer Gleichmuth, nach weihen du als Weiſer und
als wahrer Chriſt ſtrebſt, muß nicht bloß äußerlich ſein, muß
nicht bloß in der Gewalt beſtehen, die du uber deine Geberden
und Mienen haft, ſondern in deiner Seele herrſchend fein. Chriſt⸗
licher Gleichmuth beſteht nicht in der Kunſt, ſich vor den Men⸗
ſchen zu verſtellen; nicht in der Kunſt, lächeln zu können, wäh⸗
rend das Herz verſchloſſen vom Zorn ſchwillt; — nein, das
Chriſtenthum iſt mehr, als bloße Lebensklugheit, iſt tiefe, bes
ſeligende Wahrheit; der heitere Blick des Auges ſoll nicht das
Werk der Liſt, ſondern ein Spiegel des heitern Gemüths ſein.
Was gewänneſt du auch zuletzt mit dieſer Verſtellung? Du
täuſcheſt vielleicht Andere, aber betrügeſt dich ſelbſt damit mehr,
als ſie. Du betrügeſt dich um deinen Seelenfrieden, um deine
Seelenreinheit, um Geſundheit. Du betrügſt dich ſogar mit der
Hoffnung, Andere zu taͤuſchen, denn deine Kunſt wird leicht von
Andern entdeckt, ſobald ſie wahrnehmen, wie deine Handlungen
— 315 —
zuletzt ganz im Widerſpruch mit deiner äußern Ruhe und Ge⸗
laſſenheit ſtehen. Du wirft nur um fo mehr verachtet und ge⸗
haßt werden, je mehr man Urſache hat, deinen fanften Worten,
deinen freundlichen Blicken nicht zu trauen. Man wird dich bei
der erſten ungerechten Handlung, welche du begehſt, in die ſchaͤnd⸗
liche Reihe kalter Böſewichte, ſcheinheiliger Sünder, unzuver-
läſſiger Schmeichler ſetzen.
Sei rein, ſei wahrhaft, ſei einfach, und erſcheine nie im Leben,
nie vor dir ſelbſt als eine doppelte Perſon. — Sei nicht bloß
Herr deiner Geberden und Worte: ſei Herr deines Herzens! Em-
pören dich die Handlungen der Menſchen, und fühlſt du, daß
dein Gleichmuth flieht: zerſtreue dich. Erinnere dich, daß die
Menſchen nicht ſowohl tückiſche und boshafte, als vielmehr irrende
Geſchöpfe ſind. Sie irren aus Schwäche der Einſicht; ſie irren
im Urtheil deiner Perſon; ſie irren über das, was ſie für gut
und nützlich halten; ſie irren über die Wahl ihrer Mittel. Warum
willſt du unmuthig werden über die Sünden ihres Verſtandes?
Bei andern und beſſern Einſichten, bei anderer und beſſerer Er-
ziehung ihrer Jugend würden ſie ganz anders urtheilen und han—
deln. Sie irren aus Schwäche ihres Gemüthes; ſie fehlen, weil
| nicht Stärke des Geiſtes genug haben, ihre finnlichen Triebe
zu beherrſchen. Dein Zorn, dein Unwille, deine Schwermuth
ändert weder ſie, noch die Folgen ihrer Thaten. — Ermanne
dich! Denke darauf, was ſie Uebels gethan haben, auf irgend
eine Weiſe zu verbeſſern, oder weniger ſchädlich zu machen. Denke
darauf, den, der dir gefährlich wird, aus deinem Wirkungskreiſe
zu entfernen, oder vermeide du ihn ſelbſt.
| Will dich eine düſtere Laune befallen, quälen dich Beſorgniſſe
aller Art, Furcht vor nahen Uebeln — zerſtreue dich. Denke,
| daß der Muthigſte am erſten ſiegt, und der Furchtſame ſchon halb
geſchlagen iſt. Denke, daß nur die kaltblütige Beſonnenheit am
erſten Meiſter aller Umſtände werden kann, da hingegen die
Niedergeſchlagenheit des Gemüths uns mit Nebeln und Träumen
| verblendet; denke, daß, weil du jetzt vielleicht betrübt biſt, noth-
wendig wieder die heitern Stunden nachfolgen müſſen. Denn ſo
will es die allregierende Vorſehung, fo will es der ewig ange—
|
wi
ordnete Wechſel der Dinge, daß jede Trauer, jedes unangenehme
Ereigniß der Vorbote irgend eines glücklichen Umſtandes, irgend
einer Freude wird.
Aber auch im Taumel eines Vergnüͤgens verliere dein beſſeres
Selbſt nicht. Genieße mit Mäßigkeit. Erinnere dich mitten in
der Luft, daß dieſem Lichte bald nachher der Schatten nach⸗
ſchleicht; daß dieſem Gelächter bald die Thräne nachfolgen durfte!
Laß dich durch die Freude nie ganz entnerven, deſto muthvoller
wirſt du den etwaigen e e e der nächften Tage ent⸗
gegentreten.
Wer mit dieſer ächtchriſtlichen Seelenſtärke, mit dieſem Gleich⸗
muth bewaffnet durchs Leben geht, wird immerdar auf goldener
Mittelſtraße wandeln, wo ihn weder das Glück betäubt, welches
er beſitzt, noch dasjenige kraͤnkt, was er nicht erhalten konnte;
wo er Uebeln ſpottet, die ihm drohen, und erhaben über die Uebel
hinweggeht, welche ihn betreffen. — Er wandelt vor Gott —
er wandelt in Jeſu Fußſtapfen. — Er wandelt durch den Wechſel
des Lichtes und Schattens dieſer Erdenwelt in fortdauernder Ruhe
und ſtillem Heiterſinn. Er gibt und ärntet Liebe; er gibt und
aͤrntet Freuden. Mit leichtem Sinn vergißt er, was ihn ſchmerzte;
und mit edelm Sinn gedenkt er deſſen, was ihm wohlthat.
— 317 —
36.
Der Kummer um die Zukunft.
Hebr. 13, 5. >
Empor, du müde Seele, ſchwinge
Dich auf zu deinem Gott, und dringe
Mit jedem ihm bekannten Schmerz
Voll Glauben an fein Vaterherz.
Flieh, Kummer; flieht, der Zukunft Sorgen
Auch meine Nacht wird bald zum Morgen,
Wo thränenlos mein Auge ſchaut
Den Retter, dem mein Herz vertraut.
Müßt' ich mein Joch noch Jahre tragen,
Nein, dennoch will ich nicht verzagen,
Nein, keine noch ſo lange Pein,
Nur Gottes Huld wird ewig fein.
Wie wird es mit mir werden? — Welche Tage des Verdruſſes
und des Schmerzes warten noch auf mich? Werden meine Be—
kümmerniſſe nie ein Ende nehmen? — meine Sorgen nie auf—
hören? Muß ich denn beſtändig ringen auf meiner Lebensbahn,
und kann ich nie, gleich andern meiner Mitmenſchen, froͤhlich ins
Leben hinausſchauen? Warum muß ich ſo mancherlei leiden;
warum muß ich aus einer Noth hervorgehen, um nur wieder in
eine neue Verlegenheit zu verſinken? O Gott, mein Gott, willſt
Du mich verlaſſen? Haſt Du mir hienieden keine Freudentage auf—
bewahrt? Werden meine heißeſten Wünſche nie erfüllt werden?
So ſeufzt der Unglückliche, und ſtarrt mit thränenvollem
Blick in die finſtere Zukunft hinaus. So ſeufzt meine bange
Seele mit ihm, von mancherlei Sorgen niedergebeugt. Sie ſehnt
ſich nach Ruhe. Sie möchte fo gern endlich den harmloſen Frie—
den genießen, welchen ſonſt Rechtſchaffenheit und Gejchäftstreue,
nützliche Ihätigfeit und freundſchaftlicher Umgang mit den Men-
ſchen zu gewähren pflegen. Aber meine Zukunft iſt eine finſtere
Nacht. Ich hoffe auf Licht, und es erſcheint mir keines. Ach,
es können ſich ſo mancherlei traurige Zufälle ereignen, die keine
menſchliche Weisheit vorausberechnet, die keine menſchliche Macht
abwehrt, und wir erliegen darunter.
— 318 —
Nicht Reichthum und Ueberfluß wünſche ich mir, doch aber
einen Zuſtand ohne drückende Nahrungsſorgen; eine ruhige Aus⸗
ſicht auf das Schickſal, auf die Verſorgung meiner Angehörigen.
Vergebens that ich in meinem Wirkungskreiſe ſo vielen Menſchen
wohl, als ich irgend vermochte. Meine Wohlthaten ſind vergeſſen.
Es erinnert ſich meiner Niemand. Keiner reicht mir die helfende
Bruderhand. Jeder ſorgt für ſeine Freude, während ich nur für
die dringendſten Bedürfniſſe mit ſchwerer Anſtrengung kaͤmpfe.
Ach, und von Allem das Niederſchlagendſte, ich ſehe von dieſen
geheimen Leiden, die ich nur Gott klagen darf, kein Ende.
So ſinne ich troſtlos in meinen Verlegenheiten auf irgend
eine Hilfe. Woher werde ich ſie nehmen? Ich ſuche mit trüben
Augen einen Ausweg — wer wird mir einen zeigen? — Ein
Freund? Welcher wäre es? Für mich lebt keiner, der helfen könnte
und möchte; keiner, der meines Herzens Wuͤnſche erfüllen würde.
Ich wage es nicht, irgend einen um den Beiſtand anzuſprechen,
den ich nicht erwiedern, nicht vergelten könnte. Ich wage es nicht,
irgend einem die geheime blutende Wunde meines Herzens zu
enthüllen, und das Elend ihm anzuvertrauen, welches ich mit
erkünſteltem Lächeln vor der Welt verbergen muß. Ich würde
damit nichts gewinnen; vielleicht noch Manchen verlieren, der
ſich jetzt, unbekannt mit meiner Noth, an mich anſchließt. Denn
ſo ſind die Menſchen; ſo geloben ſie Treue, Liebe, Freundſchaft,
ſo lange ſie noch auf eine Vergeltung hoffen können. Sie leiſten
mit Begierde Dienſte, ſo lange ſie überzeugt ſind, ihnen könne
wieder gedient werden. So werfen ſie dem Reichen in glänzenden
Gaſtmählern und Feſten Goldſummen zu, aber dem Armgewor⸗
denen mögen ſie kaum das Almoſen reichen.
Und ich würde noch gern muthig und willig mein Schickſal
tragen — wüßte ich nur, ob es endlich nach Jahr und Tag er—
leichtert ſein würde; wüßte ich nur, ob auch nur der kleinſte Theil
meiner Wünſche für mich oder die Meinigen in Erfüllung gehen
würde. Aber Niemand enträthſelt mir das Räthſel der kommen-
den Tage. Meine Vergangenheit iſt ein dunkler Abgrund ge—
worden; meine Gegenwart iſt eine unfreundliche Einöde; meine
Zukunft iſt wie eine hereinbrechende ſternenloſe Nacht.
-
So ſtehe ich da, nur mir ſelbſt überlaſſen. Fremde Hilfe
verſagt mir. Das Schickſal weiſet mich auf meine eigenen ſchwachen
Kräfte an. Tröſten, beruhigen kann mich Niemand, denn Nie⸗
mand durchdringt das Geheimniß meiner künftigen Begebenheiten.
Ach, der iſt der Aermſte auf Erden, dem ſelbſt die Hoffnung des
Beſſern fehlt, und ein freundlicher Troſt.
+. Doch nein, fo arm biſt du noch nicht, mein Herz. So arm
iſt nie ein Chriſt. Warum verzweifelſt du? Eine Tröſterin reicht
dir die gütige Hand, eine Tröfterin bringt Licht in deine Finſterniß,
und zündet den erloſchenen Stern der Hoffnung an — es iſt die
Religion.
Ja, Jeſus-Religion, nur du, nichts Anderes, milderſt die
Seelenleiden gequälter Sterblicher, und rüſteſt uns aus, mit
eherner Bruſt dem drohenden Verhängniſſe entgegen zu gehen.
Du leuchteſt auf der finſtern Lebensbahn mit der Fackel der
Weisheit voran, und macheſt unſere Zuverſicht lebendig, unſern
Glauben mächtig, unſere Kraft gewaltig.
Ich höre aus der Tiefe meines Kummers eine heilige Stimme
aus der Ferne. Sie dringt mit wunderbarer Erquickung durch
mein Herz, und mein Geiſt richtet ſich zu neuem Leben auf, ihr
entgegen. Ich höre einen göttlichen Ruf zu meiner Seele; er iſt
durch den ungeheuern Zeitraum von Jahrtauſenden und über
das ganze Menſchengeſchlecht erklungen. Ja, Gottes Stimme iſt
es; ſie ſpricht: Ich will dich nicht verlaſſen, noch ver—
ſäum en. (Hebr. 13,5.)
O ſüßer Troſt des Glaubens, Balſam der Religion! Die
blutenden Wunden heilen, die thraͤnenvollen Augen trocknen.
Alle Schmerzen ſchweigen. Wenn nun auch Menſchen mich ver
laſſen: nein, mein Gott verläßt mich nicht! Und wenn auch die
Erde mich verſäumt, der Himmel verſaͤumt mich nicht. Ich ſtehe
allein, aber doch nicht einſam; Niemanden offenbarte ich mein
geheimes Leiden, doch kennt es Einer. Niemand ſah die Zähre,
welche ich in der Stille der Nacht weinte, Niemand hörte die
Seufzer, welche meine Verhältniſſe mir oft erpreßten, und doch
wurden dieſe Thränen, dieſe Seufzer gezählt.
- 0
Faſſe Muth für die Zukunft! — Befiehl dem Herrn deine
Wege, und vertraue auf ihn, er wird's wohl machen!
Faſſe Muth, ehre Gottes Weisheit, ehre die Werke der Vor⸗
ſehung, die du nie ändern kannſt, und welche doch das Wohl
der Welt und das Glück des einzelnen Menſchen bewirken, ſo ſehr
ſich auch oft der Sterbliche dagegen ſträubt. — Warum verzagſt
du? Haſt du nicht Gottes Zuſage, das Wort des Allgetreueſten?
Er wird dich nicht verlaſſen! Er will dich niemals ver⸗
fäumen!
Du biſt voller Beſorgniß wegen des Schickſals deiner künf⸗
tigen Tage? Du fürchteſt, es könnte dir noch viel übler ergehen,
als es dir ſchon ergangen iſt? Du fürchteſt, daß nun deine guten
Zeiten ſchon zu Ende gegangen ſind, und eine Kette von Un⸗
glücksfaͤllen oder mühſeligen, freudenloſen Stunden von hier bis
an dein Grab reiche? Kleinmüthiger! Wer iſt es, wer hat es dir
verheißen, daß er dich nie verlaſſen, noch verſaͤumen wolle?
Du möchteſt ſo gern deine Zukunft kennen, möchteſt wiſſen,
ob dir in derſelben endlich dieſer oder jener Wunſch gelinge?
Wohlan denn, ich will dir im Allgemeinen den Hauptinhalt, die
Seele deiner künftigen Schickſale offenbaren. — Wende die Blicke
deines Geiſtes, welche in die kommende Zeit hinausſtarren, rück⸗
wärts nach dem hin, was du ſchon gelebt haſt; denn, wiſſe es,
lerne es endlich: die Vergangenheit iſt der Spiegel der
Zukunft.
Sie iſt der Spiegel der Zukunft. Was du gehabt haſt, wirſt
du wieder haben, wenn gleich Alles unter andern Verbindungen
und Umftänden. — Warſt du in deinem bisherigen Leben jemals
anhaltend unglücklich und elend? — Nein, und du wirſt es auch
jetzt nicht, wirſt es auch nachher nicht ſein. Es ſind dir Freuden
aufbehalten, wo du Verdruß und Ueberdruß vermutheſt. Es
wird dir unvermuthet hier und da eine Roſe blühen, wo du jetzt
in der Ferne nichts als die Dornen erkenneſt. Sprich nicht: aber
die Zeit flüchtet, meine Tage vergehen, ich werde aͤlter. Wohlan,
fo flüchten auch deine böfen Augenblicke an dir vorüber; nichts
bleibt und kann bleiben, wie es iſt; aber auch jedes Jahr,
jedes Alter des Lebens hat feine eigenthümlichen Vor—
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theile und Genüſſe. Du wirſt noch manches Glück, manche
kleine Belohnung deines Fleißes, deiner Mühen empfangen, die
du nie gekannt, nie vermuthet haſt. Das Leben freilich vergeht,
aber Gottes Vorſehung nicht. Du biſt ihr theuer. Sie will dich
nicht verlaſſen, nicht verſaͤumen.
Die Vergangenheit iſt der Spiegel deiner Zukunft!
Der Gott, welcher dich durch mancherlei Ereigniſſe bis hieher ge—
führt hat, er iſt auch forthin bei dir, und wird dir ferner helfen.
Du biſt jetzt vielleicht in einer übeln Lage. Schwierige Umſtände
drängen dich. Die beſten Ausſichten ſind verloren; viele von
deinen angenehmſten Wünſchen ſchlugen fehl. — Aber denke
doch an die ehemaligen Zeiten zurück; erinnerſt du dich nie, in
welcher Muthloſigkeit du oft verſunken lagſt? Weißt du es nicht
mehr, wie du zuweilen vom Schmerz vernichtet warſt? Wie du
alle Hoffnung auf die Möglichkeit beſſerer Tage ſchon aufgegeben
hatteſt? Beſinneſt du dich nicht mehr an die Tage, da du wünſch⸗
teſt, fie möchten ſich in eine lange Nacht verwandeln, damit du
nichts mehr von dir und deinen Verhaltniſſen wüßteſt? Wie, fie
find laͤngſt vorübergegangen; du warſt ſeitdem fo glücklich, hat⸗
teſt jo viele frohe Stunden, und lächelſt jetzt ſelbſt über deinen
damaligen Kleinmuth! Wohlan, faſſe auch jetzt Muth. Es wer⸗
den auch wieder Zeiten kommen, da du dich deiner jetzigen Be⸗
klemmung wenig mehr erinnerſt, und wenn du derſelben gedenkſt,
wo du dich deiner jetzigen Freudenloſigkeit und Angſt ſchämſt.
Wie manchmal glaubteſt du, dich könne Niemand retten, dir
ſei Niemand zu helfen im Stande. Und es vergingen wenige
Tage oder Wochen: die Hand der Vorſehung waltete indeſſen
unſichtbar über dich. Die Umſtände wurden unvermerkt anders;
unbekannte oder bekannte Wohlthäter und Menſchenfreunde nah⸗
men ſich deiner an: Gott bewegte ihr Herz; Perſonen wurden
deine Freunde, an welche du vorher nie gedacht hatteſt; Vor⸗
ſchlaͤge wurden dir gethan, welche du nie ſelbſt erfinden, nie ver—
muthen konnteſt; allerhand kleine, unerwartete Ereigniſſe zogen
dich aus deiner Lage in ein beſſeres Licht hervor; es war dir, als
wenn deine Sonne langſam, aber unaufhaltbar aus dem zer⸗
fließenden Gewölfe hervortraͤte, das vorher Alles verfinſterte.
— 322 —
Siehe, ſo hat dich dein Gott nicht verlaſſen, nicht verſaͤumt! Er
iſt der Allergetreueſte, und erfüllt ſeine Zuſage gewiß. Und er,
der gütig war in deiner Vergangenheit, er wird es auch in der
Zukunft der lieben Deinigen ſein, er wird es nach Jahrtauſenden
für das ganze Geſchlecht der Sterblichen und für das einzelne
Menſchenkind ſein.
Der Unglückliche hat einen natürlichen Aberglauben. Weil
er keine Mittel und Auswege mehr kennt, möchte er das Ver⸗
borgene durch Wunder entſchleiern, und der verſchwiegenen Zu—
kunft ihr Geheimniß gewaltſam entreißen. Er ſchamt ſich nicht
der thörichtſten Verſuche, die ſeine eigene Vernunft jedesmal ſelbſt
mißbilligen muß. Er macht ſich mit Wahrſagereien vertraut;
er will aus zufälligem Spiel der Dinge, welche weder mit ſeinem
Leben, noch mit dem Verhängniſſe in Berührung ſtehen, Weiſ—
ſagungen erkünſteln. Er gibt auf allerlei Zeichen Acht, und
ſchließt daraus auf die Erfüllung und Nichterfüllung ſeiner
Wünſche. Er betrügt ſich ſelbſt, täuſcht ſich ſogar wiſſentlich,
und befleckt mit dieſer Thorheit fein Herz und feinen Verſtand.
Niemals würdige dich zum Glauben an Wahrſagun⸗
gen und Deuten der Zeichen herab. Du haft dich ſelbſt
verloren, wenn du den Glauben an Gottes Weisheit, an Got⸗
tes Vaterhuld verlierſt. Die Vernunft unterſagt dir das elende
Spiel voller Selbſttäuſchung; denn oft verleitet die falſche Hoff⸗
nung, die ſich auf dergleichen vermeinte Vorboten der Zukunft
gründet, zu falſchen und thörichten Handlungen, die, ſtatt dich
deinem Glück zuzuführen, dich weit von ihm entfernen. Das
Wort Gottes verbietet mit Ernſt dergleichen thörichte Erfragungen
des Künftigen; denn mit jenen albernen Mitteln, das Geheimniß
der Folgezeit zu erforſchen, brichſt du den Willen Gottes nicht,
und zwingſt du die Allmacht nicht, ihre Geſetze zu ändern. Aber
es iſt Gottes Wille, es iſt der Gottheit ewiges Geſetz, daß die
Zukunft dem Auge des Menſchen verborgen bleibe! Und Gott
ordnete es alſo mit wohlthaͤtiger Hand an, daß wir, vertrauens⸗
reich auf ihn, und unbekümmert um künftige Prüfungen, den
gegenwärtigen Augenblick mit Freuden annehmen und genießen,
und, unbeſorgt wegen des Uebrigen, uns nur feſt und zuver⸗
* 1
ſichtlich an der unſichtbaren Hand halten ſollen, die uns durch
das Dunkel führt. Darum ſorget nicht, ruft Jeſus mit hoher
wohlthuender Weisheit: ſorget nicht für den andern Morgen, denn
der morgende Tag wird für das Seine ſorgen. (Matth. 6, 34.)
Der Kummer um die Zukunft wird nicht durch jene vergeb-
lichen Mittel, durch jene Täuſchungen des Aberglaubens gehoben,
ſondern durch Vertrauen auf die allwaltende, Alles am beſten
ordnende Hand der Vorſehung, und durch eigene Thätigkeit
und Vorſicht, die vorhandenen Uebel zu vermindern.
Lege ſelbſt Hand ans Werk und bereite dir dein beſſeres Schick—
ſal vor.
Ueberlaſſe dich erſt in der Einſamkeit ganz der Betrachtung
deiner gegenwärtigen Umſtände. Dieſe Ueberlegung geſchehe, wenn
du vollkommen ruhigen Gemüths und fähig biſt, reiflich zu er-
wägen, welches eigentlich die Quellen deines jetzigen Uebels ſind,
das dich quält.
Da findeſt du, daß du entweder ſelbſt durch deine Unvor⸗
ſichtigkeit, durch deine Fehler, durch dein leidenſchaftliches Herz
dir das Böſe zugezogen haſt, oder daß es dir von Urſachen kam,
die du weder herbeirufen noch abwehren konnteſt.
Biſt du nun nicht ganz ſelber der Urheber deiner peinlichen
Lage, jo verliere um jo weniger den Muth, fie wieder zu ver-
beſſern, denn du leideſt unſchuldig, und Gott iſt der Schützer
und Freund der Unſchuldigen. Was du hier verlierſt, wird er
dir auf der andern Seite erſetzen. Für den Schmerz, welchen du
hier fühlſt, wird dir an einem andern Orte eine Freude aufge—
ſpart. Selbſt dein Verluſt, dein Bedrängniß iſt, wenn du es
als Weiſer benützeſt, kein Verluſt, kein wahrhaftes Unglück. Nur
deine Muthloſigkeit, nur dein Eigenſinn macht es erſt dazu. Es
ſollte für deine Seelengröße eine Uebung, für deinen Chriſten⸗
geiſt eine Prüfung ſein. Das Gold lautert fich erſt im Feuer.
Der Muth der Tugend bewaͤhrt ſich erſt im Sturm. Der Adel
des Gemüths geht erſt verklärt und herrlich hervor, wenn alle
Stützen brechen, Alles ſinkt, und unſere Kraft gleichſam auf ſich
ſelbſt beruhen muß. Du warſt vielleicht in langer Ruhe und
Glückſeligkeit erſchlafft. Jetzt iſt die Zeit, da es dir nicht mehr
— 0
nach deinen Wünſchen geht. Statt wie ein verwöhntes, eigen⸗
ſinniges Kind zu weinen, oder gegen dein Verhaͤngniß mißmuthig
zu trotzen, erhebe dich mit der Stärke des Mannes, und ordne
mit ruhiger Weisheit das Beſte an. Du haſt nichts verloren, ſo
lange du dich noch nicht ſelbſt verloren haſt; du biſt noch nicht
verloren, ſo lange dich das Vertrauen auf Gottes Beiſtand nicht
verlaſſen hat.
Biſt du arm geworden, ſiehſt du den Ruin deines Vermögens
vor dir, und vielleicht eine mühſelige Zukunft für dich und die
lieben Deinigen — wohl, es gibt ein Mittel, dich plötzlich zu
bereichern, nämlich: lerne mit chriſtlichem Muthe, mit männlichen
Sinn entbehren! — Sei ſtolz auf dieſe Armuth, welche du
nicht verſchuldet haſt. Ein reiches Gemüth ſpottet des Wechſels
der Dinge und des Spiels der Zufälle. Sorge für dich und die
Deinigen. — Gott ſorgt wahrlich mit dir! Er will dich und die
Deinigen nicht verlaſſen noch verſäumen. Gib deine ſtolzen Plane,
die weitausſehenden Wünſche auf, die du einſt nährteſt. Nicht
das Geld, ſondern nur das Herz macht reich. Nicht die Ars
muth ſchändet, ſondern das Verbrechen.
Haſt du Freunde, Geliebte verloren — haben dich Menſchen
getäuſcht oder verrathen — umringen dich die Schlangen der
Verleumdung und des Neides — du verlorſt ja nur, was dir
nicht ewig gehören konnte; warum begehrſt du, was deine Ver⸗
nunft ſelbſt dir abſchlägt? Daß dich Verräther hintergingen, ſei
ſtolz, daß du keinen Theil an ihrer Schande haſt; ſie müſſen dich
in deinem Unglück wider ihren Willen ehren, ſobald du edler
erſcheinſt, als ſie. Daß dich Neider beneiden, deß zuͤrne nicht,
denn die Weſpen ſchwärmen immer um die edelſten Früchte; das,
was an dir beneidet wird, ſei dein Troſt gegen die Beleidigungen
ſchlechtgeſinnter Menſchen.
Waͤreſt du aber vielleicht ſelbſt der Urheber deiner gegenwaͤr⸗
tigen Drangſale — wen klagſt du an? Warum begnügſt du dich
mit dieſer Anklage? Warum ſeufzeſt du: wie wird des mit mir
werden? Du ſieheſt, wie es mit dir geworden; doch was weiter
geſchehen wird, das liegt in Gottes Hand. Du haſt mit den
Uebeln, die dich drücken, nur deine eigenen Thorheiten und
N
Sünden beſtraft. Verlängere deine Schuld nicht durch ſchaͤdliche
Verzagtheit. |
Du biſt gefallen, Unglücklicher, raffe dich auf, und glaube,
mit den Händen, durch welche du dein Unglück herbeizogeſt, kannſt
du auch dein Glück bauen. Deine Stütze ſei acht- chriſtliche Recht⸗
ſchaffenheit, dein Wegweiſer ſei Jeſu Lehre. Sünden brachten
dir den Fluch; chriſtlicher Edelmuth, chriſtliche Weisheit bringen
dir den Segen wieder ins Haus. Habe nur den Muth, glücklich
zu werden, und du wirſt wieder glücklich ſein können. Wende
dich zu Gottes Gnade, ſie wendet ſich wieder zu dir. Tritt ein in
Jeſu Fußſtapfen, und du haſt den Weg zur Seelenruhe, zur
innern Zufriedenheit betreten, die von allen Außendingen unab-
hängig iſt; du Haft das beſte Theil erwählt! Du gehörſt Gott
wieder, und er wird dich nicht verlaſſen noch verfäumen.
Wohlan nun, meine Seele, ermanne dich! Sei harmlos um
die kommenden Tage, Gott zaͤhlt ſie dir zu. Bewaffne dich gegen
Alles, was dir noch begegnen mag, mit Chriſti Muth und Er—
gebung. Rette deine Seelengröße im Drange aller Schickſale,
und du haſt dein Alles errettet; lerne entbehren und du wirſt von
keiner Armuth wiſſen; laß deine hochfliegenden, eigenſinnigen
Wünſche als nichtige Einbildungen fahren, und du haſt dann
von der Zukunft nichts mehr zu befürchten, Alles nur zu hoffen.
Ich bin beruhigt. Gott, ich bin ruhig in Dir. So will ich
denn entſchloſſen in mein Verhaͤngniß gehen; fo will ich denn
mit Muth, was mir geſchehen ſoll, erwarten; denn Du, Vater,
Alles gütig, wohlthätig ordnender Vater, Du, Schöpfer meines
Lebens, Du willſt mich nicht verlaſſen noch verfäumen. — So
will ich denn mit Ergebung in Deinen Willen Verzicht auf
Alles thun, was ich verloren habe, Verzicht auf meine Wünfche,
Verzicht auf meine ſtolzen Entwürfe; denn ich weiß es, das iſt
mir nicht gut, was Du, Allweiſeſter, mir verweigerſt. So will
ich denn, ohne Bangigkeit um mein Schickſal, ohne Furcht um
das Schickſal der Meinigen, auf Deine Hilfe vertrauen, und wie
Du die Herzen der Menſchen zu meinen Gunſten lenkeſt, oder
die traurigen Umſtaͤnde, welche mich heute umringen, wunderbar
verwandelſt. Gott, mein Gott, ich kenne Deine Vatertreut: fie
— 326 —
iſt mir ja nicht fremd. Wie oft hat ſchon in meinen frühern
Zeiten ein einziger Augenblick Alles herrlich umgeſtaltet!
Nicht um Weisheit, nur um Muth und Kraft flehe ich zu
Dir, und daß Dein heiliger Geiſt mich nicht verlaſſe, und das
Beiſpiel meines Jeſu mir beſtändig vor der Seele ſchwebe! —
Ich will mich ſelbſt verläugnen, wie er ſich verläugnet hat; ich
will den bittern Kelch meiner Leiden, mit heiliger Ergebung in
Dein en Willen, trinken, wie er ihn getrunken hat. So werde
ich ſiegen über das Elend dieſer Zeit, wie er auch herrlich obge-
ſiegt hat. So werde ich noch ſelbſt in meinen Schmerzen, noch
ſelbſt in meinen Thränen fühlen, wie Jeſus es empfunden hat,
daß Du, Allbarmherziger, der Ewigtreue biſt, daß Du mich nicht
verlaſſen, mich nicht verſäumen willſt. Vater, o mein Vater im
Himmel, meine Seele hoffet auf Dich! Amen.
— —
37.
Die Sorge um das irdiſche Eigenthum.
Ev. Luk. 11, 9 — 11.
Des hohen Werthes Deiner Gaben
Und ihrer Abſicht eingedenk,
Beweiſe Jeder: was wir haben,
Sei nicht verdient, ſei Dein Geſchenk,
Sei ein Geſchenk nur für die Zeit,
Nicht aber für die Ewigkeit.
Sehr oft verfallen wir durch bloße Mißverſtändniſſe in Fehler,
oder gerathen in Verlegenheiten, in Widerſprüche mit uns ſelbſt,
die unſerer Ruhe Nachtheil bringen können. Sehr oft ſcheinen
ſogar dieſe Widerſprüche aus dem Munde unſerer eigenen Lehrer
zu kommen, ja ſich ſelbſt hin und wieder in den Worten der
heiligen Schrift zu befinden. Um ſo gefährlicher für unſere
Lebensweiſe. Wir wiſſen nicht, welchen Theil wir erwählen
wollen. Unſere uns als Hausväter, als Hausmütter, als Bürger
eines Landes, als Beamte aufliegenden Pflichten ſcheinen ganz
denjenigen zu widerſtreiten, welche die heilige Schrift empfiehlt,
oder die Lehrer des göttlichen Wortes uns vortragen.
— 327 —
Diaher iſt für die Gemüthsberuhigung guter Chriſten aller-
dings von der höchſten Wichtigkeit, daß fie ſich diejenige Auf⸗
klärung des Verſtandes erwerben, durch welche ſie im Leſen oder
Hören des göttlichen Wortes das nöthige Licht, oder bei auf-
ſteigenden Zweifeln eine Löſung derſelben erhalten können.
So ſcheint es unter anderm ein harter Widerſpruch zu fein,
wenn die Schrift gebietet, wir ſollen dem Zeitlichen entſagen; der
Welt nicht anhangen; uns nicht mit der Sorge für den künftigen
Tag beſchäftigen — und dagegen dann unſere leiblichen Bedürf—
niſſe laut fordern: denke daran, daß du mit den Deinigen nicht
in Elend geratheſt; erwirb dir ſo viel Vermögen, daß du und
deine Kinder nicht darben müſſen, daß du mit deinem Ueber⸗
fluſſe auch denjenigen helfen könneſt, die nichts zu erwerben im
Stande ſind.
Wenn von der einen Seite befohlen wird: Ihr ſollt euch
nicht Schätze ſammeln auf Erden, da die Diebe nachgraben und
ſtehlen; denn wo euer Schatz iſt, da iſt auch euer Herz. Sorget
nicht für euer Leben, was ihr eſſen und trinken werdet; auch nicht
für euern Leib, was ihr anziehen werdet. Ihr fönnet nicht Gott
dienen, und dem Mammon; Niemand kann zween Herren dienen,
er wird einen haſſen oder den andern lieben! — und dagegen es
wieder heißt: Bete und arbeite; ſechs Tage ſollſt du arbeiten und
alle deine Dinge beſchicken, aber am ſiebenten Tage iſt der Sab-
bath des Herrn deines Gottes! — ſo muß wohl in Manchem,
der über den Zuſammenhang und den wahren Sinn der Worte
nicht nachdenkt, und das, was oft nur bildlich oder mit großem
Nachdruck geſagt iſt, buchſtäblich annehmen und befolgen will,
der größte Zwieſpalt mit ſich ſelber entſtehen. Denn wenn wir
kein Vermögen erwerben, nicht für den künftigen Tag ſorgen
ſollen für uns und die Unſerigen, warum wird von der andern
Seite geboten: Gebet den Armen! Ihr ſollt ſechs Tage arbeiten
und den ſiebenten Gott weihen! Warum ſollen wir beten: Unſer
täglich Brod gib uns immerdar!
Daher haben wir geſehen, daß ſchon viele Menſchen aus
bloßem Mißverſtändniß in die entgegengeſetzteſten Fehler ver-
irrt find.
„
Es gab Menſchen, die da glaubten, man ſolle ſich ganz von
der Welt trennen; man müſſe, um ſelig zu werden, allen Reich⸗
thum verachten, wohl gar haſſen; man müſſe nichts beſitzen, und
beſtändig Noth leiden, um Gott wohlgefällig zu ſein. Sie gaben
ihr Eigenthum hinweg, und flüchteten in Einſiedeleien, wo ſie
mit Andachtsübungen ihre Zeit hinbrachten, ohne ihren Mit⸗
brüdern wahrhaft wohlthätig werden zu können. Sie dachten
nicht daran, daß ſelbſt die Jünger Jeſu ihren Lebensunterhalt
durch allerlei Arbeit verdienten; ſie wollten nur von Almoſen
leben. Sie dachten nicht daran, daß ihnen die Weisheit Gottes
nicht deswegen ſo mancherlei Kraft verliehen, damit ſie dieſelben
im todten Müßiggange unbenutzt liegen laſſen ſollten; dachten
nicht daran, daß, wenn eine ſolche Lebensart wirklich der Wille
des Allerhöchſten wäre, die Menſchen auf dem Erdball ſchnell im
Elend ausſterben würden, und Gottes Zwecke nicht erreicht wer⸗
den könnten. Denn wollten alle arm fein, wer wollte Almoſen
ertheilen und dem Unglückſeligen helfen können? Wollte Niemand
Vermögen ſammeln, wer würde ohne daſſelbe Mittel beſitzen, die
Nackten zu kleiden, die Hungrigen zu ſpeiſen, die Kranken mit
koſtbaren, oft aus fernen Ländern herbeigeführten Arzneien zu
heilen, und alle diejenigen Pflichten zu erfüllen, welche uns Gott
durch den Mund Jeſu Chriſti und feiner Boten predigen ließ?
Von der andern Seite gab es ihrer noch Mehrere, die, weil
ſie fanden, daß manche Stellen der heiligen Schrift nicht immer
im buchſtäblichen Sinne verſtanden werden konnten, in ihrer
Seele dachten, man müſſe es überhaupt mit den bibliſchen
Sprüchen nicht allzugenau nehmen; man könne Vieles auslegen,
wie man wolle; man dürfe ſich nicht an Alles gar zu Kae
binden, die Zeiten wären ganz anders geworden.
Sobald ſie dieſe Denkart einmal annehmen, machen ſie ſich
ihr eigenes bequemes Chriſtenthum; legen die Worte Jeſu aus,
wie es ihren beſondern Neigungen und Abſichten am beſten ge—
fällt, und ihnen am leichteſten iſt. So werden fie aus Chriſten
zu Halbchriſten; jeder hat ſeine eigene Pflichtenlehre, jeder ſeine
eigene Religion. Sie halten ſich dann für aufgeklärt; fie achten
auf die Vorträge der Prediger und Erklärer des göttlichen Wortes
*
— 329 —
weniger; glauben, es ſeien dieſelben von Amtswegen verpflichtet,
ſo und nicht anders zu reden. Der Gottesdienſt wird zuletzt nur
Scheindienſt; das Chriſtenthum beſchränkt ſich zuletzt nur auf,
den Namen, auf den Beſuch der Kirchen, auf die Beobachtung
kirchlicher Gebräuche und heiliger Sakramente. Sie werden in
ihren Chriſtenpflichten täglich lauer; ſie werden nur klug handeln,
aber nicht mit Jeſusfrömmigkeit; die Religion muß ſich nach den
Begierden und beſondern Neigungen der Menſchen, nach ihrem
Temperament, nach ihren Leidenſchaften richten, ſtatt daß dieſe
den Geboten der Religion unterworfen ſein ſollten. Sie verkehren
das ganze Verhältniß der Religion zum Menſchen, und gerathen
ſo aus einem Irrthum in den andern, bis ſie zuletzt in ihrem
eigenen Gemüth voller Widerſprüche, ohne Einſtimmung mit ſich
ſelbſt find, auf traurige Abwege gerathen, ſich und Andern zum
Verderben.
Und wie Viele ſind nicht dieſer! Wie Viele, die ſich ihre
eigene Religion gemacht haben, ſtatt diejenige in ihrer hohen Rein⸗
heit und Einfalt zu bewahren, welche Jeſus Chriſtus lehrte!
Dahin können alſo Mißverſtändniſſe leiten! Wie wichtig iſt
es dem für ſeine wahre Veredlung beſorgten Chriſten, daß er
ſich da Klarheit verſchaffe, wo ihm Widerſprüche vorhanden zu
ſein dünken!
In Gottes Wort ſelbſt liegen dieſe Widerſprüche nicht, ſon⸗
dern in den thörichten Auslegungen deſſelben. Wir müſſen Alles,
was wir darin finden, jedesmal in feinem vollen Zuſammen⸗
hange betrachten; müſſen immer wohl erforſchen, zu wem ge⸗
ſprochen wird, unter welchen Umſtänden, zu welchem Ends
zweck?
Jeſus Chriſtus hat niemals das Arbeiten unterſagt, niemals
befohlen, ſein ganzes Leben mit Beten zuzubringen und im
Müßiggang. Wohl aber warnte er gegen die Unmäßigkeit der
Nahrungsſorgen, eiferte gegen diejenigen in ſtarken Ausdrücken,
welche ſich um nichts, als um irdiſches Anſehen und zeitlichen
Reichthum bekümmerten, die darüber Gott vergaßen und ihre
höhern Beſtimmungen für die Ewigkeit. Denn ſolche Menſchen,
die dies Leben und deſſen vergängliche Güter zu ihrer Hauptſache
-
machen, opfern ſich zuletzt nur für Staub und Schatten auf, die
nicht bleiben. Sie ſinken in die Reihe der unvernünftigen Ge⸗
ſchöpfe, die, ohne Ahnung eines Höhern und Beſſern, nur auf
ihre Nahrung, auf ihr Wohlleben bedacht find, und mit bn
im Tode Alles aufhört. |
Um fo viel höher der Menſch ſteht, als das Thier, Wet um
ſo viel die Seele erhabener und wichtiger iſt, als der irdiſche
Leib, um ſo viel mehr iſt auch das Geiſtige dem Irdiſchen, das
Ewige dem Hinfälligen vorzuziehen. Niemand kann ſich mit
ganzer Seele Gott weihen, wenn er ſich mit ganzer Seele dem
Sinnlichen, der Sorge um Reichthum und Wohlleben hingibt.
Darum ſei das Glück, die Veredlung, die Heiligung deiner un⸗
ſterblichen Seele, die Hauptſache; darum ziehe das Himmliſche
dem Irdiſchen vor, wo beide einander wehen und nicht
beiſammen beſtehen können.
Aber damit iſt nicht geſagt, daß du die Sorgfalt um dein
zeitliches Wohl ganz vernachläſſigen müſſeſt. Denn Gott gab dir
den Leib; du ſollſt ihn alſo erhalten. Er gab dir mannigfaltige
Kräfte; du ſollſt alſo mit dem dir anvertrauten Pfunde nützlich
ſein, und es nicht in Müßiggang vergraben. Gott befahl dir, den
Nackten zu kleiden, den Hungrigen zu ſpeiſen; du ſollſt dir alſo
ſo viel erwerben, damit du im Stande ſeieſt, deinen Mitmenſchen
wohlthätig zu werden und die Gebote Gottes erfüllen zu können.
Gott gab dir Kinder; du ſollſt ſie alle ernähren, alle bekleiden,
und ihnen eine gottgefällige Erziehung geben. Gott gab dir Frei⸗
heit, damit du nützlich in der Welt wirken könneſt; du ſollſt alſo
die Freiheit bewahren, und dich nicht durch Armuth von der
Gnade anderer guter oder böſer Menſchen in Abhängigkeit ſetzen.
Jeſus hatte zwar nicht, wo er ſein Haupt hinlegte, und trieb
nach dem Antritt ſeines Lehramts kein Gewerbe mehr (vor dem—
ſelben ſcheint er mit feinem Pflegevater das Zimmerhandwerk ges
trieben zu haben) (Mark. 6, 3.); aber ſeine Jünger ſcheinen
ihre Nahrungsgefchäfte nicht ganz aufgegeben zu haben, wie
ſie denn nach Jeſu Auferſtehung wieder Fiſcherei treiben.
(Joh. 21, 3. ff.). Sicherlich hatte Jeſus mit ſeinen Jüngern
eine gemeinſchaftliche Kaſſe, woraus man ſieht, daß er für ſeine
„> BE ie
und ihre Bedürfniſſe ſorgte. Einer von denſelben — Judas war
es — führte die Rechnung über das vorräthige Geld, womit ſie
ihre Bedürfniſſe beſtritten (Joh. 12, 6.). Jeſus ordnete an,
wenn von dieſem Gelde das Nöthige angeſchafft werden mußte,
oder wenn man den Armen milde Gaben daraus ertheilen ſollte
(Joh. 13, 29.). Er hatte alſo bei ſeiner und der Seinigen hohen
Mäßigkeit noch einen Ueberfluß, um Nothleidenden damit wohl⸗
zuthun. f f
Dier Apoſtel Paulus war ein Zeltmacher, und trieb dieſes
Handwerk auch noch als Apoſtel. Chriſtus hatte es den Apoſteln
erlaubt, vom Evangelium zu leben, das heißt: ſich von denen
unterhalten zu laſſen, welchen ſie das Evangelium verkündigten;
Paulus aber zog es vor, ſich ſeinen Unterhalt mit ſeiner Hände
Arbeit zu erwerben, um unabhängiger zu ſein. „Ich habe euer
keines Silber, noch Gold, noch Kleider begehrt,“ ſprach der
Apoſtel Paulus zu den Aelteſten der Gemeinde Epheſus,
„denn ihr wiſſet ſelbſt, daß dieſe Hände mir zu meiner Noth⸗
durft, und derer, die mit mir geweſen ſind, gedient haben.“
(Ap. Geſch. 20, 33. 34.)
Eben dieſer thätige und aufgeklärte Schüler Jeſu eiferte mit
hohem Ernte gegen die Schwärmer, welche ſich einbildeten, man
müſſe gar nicht um ſeine Nahrung bekümmert ſein; es ſei beſſer,
Almoſen nehmen, und alles Eigenthum zu verachten; es ſei
Sünde, ſich Vermögen zu ſammeln, und dem Zeitlichen nachzu—
gehen. „Nein,“ ſprach der edle, wahrhaft in Chriſto wandelnde
Paulus, „wir haben nie umſonſt das Brod genommen von
Jemand, ſondern mit Arbeit und Mühe Tag und Nacht ge-
wirket, (oder gewoben), daß wir nicht Jemand unter euch be⸗
ſchwerlich wären, — damit wir uns ſelbſt zum Vorbild euch
geben, uns nachzufolgen. Wir hören, daß etliche unter euch
wandeln unordentlich, und arbeiten nichts: ſolchen gebieten wir
und ermahnen ſie durch unſern Herrn Jeſum Chriſtum, daß
ſie mit ſtillem Weſen arbeiten und ihr eigenes Brod eſſen!“
(2. Teſſ. 3, 8 — 12.)
Weit entfernt alſo, daß die Sorge um unſer zeitliches Wohl
etwas Verdammliches wäre, iſt fie nach dem Beiſpiel Jeſu unſere
— 332 —
Pflicht. Es iſt die Pflicht des Chriſten, ſich Eigenthum
zu erwerben; es iſt Pflicht des Chriſten, fein Eigen-
thum zu bewahren und zu beſchützen. Der Chriſt ſoll
arbeiten und erwerben, damit er unabhängig ſei, und nicht
Andern durch Armuth zur Laſt falle, damit er die nöthigen Mittel
erhalte, ſich ſelbſt zu vervollkommnen; er ſoll die von Gott ver⸗
liehenen Kräfte gebrauchen, damit er nicht einen Raub an der
Zeit begehe, und mit dem ihm anvertrauten Pfunde wuchern.
Die Sorge um zeitlichen Wohlſtand iſt alſo wohl verträglich
mit der Sorge um das ewige Glück der Seelen; auch iſt leider
nur allzugewiß, daß Armuth und Müßiggang, zumal in unſern
Tagen, die Ouellen viel zahlreicherer Laſter und Sünden ſind,
als der Reichthum ſelbſt.
„Wir ſollen als gute Chriſten uns Eigenthum auf Erden
ſammeln und daſſelbe gegen unrechtmaͤßige Gewalt beſchützen,
nicht nur für uns, ſondern auch zum Beſten derjenigen,
welche Gott uns anvertraut hat. Wir ſind nicht nur uns
ſelbſt Pflichten ſchuldig, ſondern auch unſern Blutsverwandten,
unſern Gatten und Kindern. Wir ſollen dieſen, deren Weh und
Wohl in unſere Hand gegeben iſt, ein angenehmes Loos auf
Erden bereiten, daß ſie das Glück des Lebens, für welches ſie
Gott erſchuf, nicht durch unſere Nachläffigfeit verlieren.
Es wäre demnach ein unverantwortliches Vergehen, wenn
wir unſer Eigenthum und Vermögen verſäumten, und unſere
Nächſten, ja unſere eigenen Kinder dem Elende der Armuth und
Dienſtbarkeit überließen. Es wäre ein unverantwortliches Vers
gehen, wenn wir unſer Eigenthum nicht gegen fremde unrecht
mäßige Angriffe vertheidigen wollten. Denn das hieße zu Gunſten
böſer und habſüchtiger Menſchen unſerm eigenen Blut Unrecht
thun, und die Sünde mit den Räubern theilen.
Daher empfiehlt Jeſus, der gegen das Laſter des Geizes ſo
vielmals warnte, durch fein eigenes Beiſpiel forgfältige Spar—
ſamkeit. Als er Tauſende in der Wüſte geſpeiſet hatte, und
ſah, wie nun alle gefättigt waren, ſprach er zu fernen Juͤngern:
Sammelt die übrigen Brocken, daß nichts umkomme! (Joh. 6, 12.)
Der Verſchwender, der Trunkenbold, der Schlemmer, der
=.
unordentliche Hausvater ift folglich weit von der Nachahmung
Jeſu entfernt; er iſt fträflich in den Augen Gottes und mit Recht
ein Gegenſtand des öffentlichen Tadels unter den Menſchen. Auch
Jeſus, wiewohl er gegen die allzuiängftliche, allzuweit getriebene
Nahrungsſorge eiferte, ſorgte dennoch für die nächſtkommenden
Tage, und für die beſte Benutzung des vorhandenen Eigenthums.
Darum wollte er nichts umkommen laſſen.
Wir ſollen Vermögen und Eigenthum ſammeln, und das
Erworbene bewahren, nicht allein für uns, oder für unſere naͤch⸗
ſten Blutsfreunde, ſondern damit wir von dem Ueberfluß
unſers Eigenthums wohlthätig gegen leidende Mit—
menſchen ſein können, welche nicht in der Lage ſind, ſich
durch eigene Kraft ihres Lebens Unterhalt und Nothdurft zu ver⸗
ſchaffen. Ein Jeglicher arbeite und ſchaffe mit den Händen etwas
Gutes, auf daß er habe zu geben den Dürftigen! ſpricht die
heilige Schrift. (Epheſ. 4, 28.)
Gibt es auch auf Erden eine himmliſchere Wolluſt, als die⸗
jenige iſt, welche wir bei Erquickung wahrhaft Hilfsbedürftiger
empfinden? Gibt es auch eine fchönere Menſchenpflicht, als die⸗
jenige, wo wir durch Unterſtützung und Erfreuung der Leidenden
gleichſam Gott ähnlich werden, der uns Alle unterſtützt und er⸗
freut? Aber wie wollen wir dieſen edeln Beruf übernehmen, wenn
wir uns nicht durch Sorge und Arbeit in den Beſitz der dazu
nöthigen Mittel geſetzt haben? Warum alſo wollten wir den⸗
jenigen verurtheilen, als ſei er kein wahrer Chriſt, der fein Ver⸗
mögen auf anftändige Weiſe vergrößert? Thut er etwas Anderes,
als Jeſus und feine Jünger ſelbſt für ihre Verhältniffe gethan?
Thut er etwas Anderes, als Jeſus und ſeine Jünger ſelbſt billig⸗
ten? Nirgend haben ſie den Reichthum verdammt, wohl aber den
Mißbrauch des Reichthums.
Nicht die Gaben Gottes, welche wir ſammeln zu unſerm und
der Unſrigen Wohl, nicht die Umſtände und Verhaͤltniſſe, worin
die Weisheit des Weltregierers uns zu ſetzen für gut hält, find
an ſich böfe und tadelnswürdig, ſondern nur der Mißbrauch der⸗
ſelben. Nicht aber der Reichthum allein, auch die Armuth kann
gemißbraucht werden. Sie wird von denen gemißbraucht, welche,
a
obwohl ſie arbeiten und Eigenthum erwerben könnten, doch lieber
den Müßiggang vorziehen, und dann mit ihrem Lebensunterhalt
Andern beſchwerlich werden, wie Paulus (2. Theſſ. 3, 9.) ſagt.
Denn ſo Jemand nicht will arbeiten, der ſoll auch nicht eſſen.
Die Sorge um irdiſchen Wohlſtand iſt für den Chriſten eine
ernſte Pflicht, welche ihm Gottes Wort und eigene Ueberzeugung
laut gebieten. Er iſt nicht nur ſich, feinen Kindern und Ange⸗
hörigen, er iſt auch unglücklichen Mitmenſchen ſchuldig, ſein
Eigenthum auf gerechte Weiſe zu vermehren und zu bewahren;
er iſt es auch überhaupt dem Staate ſchuldig, in welchem
er als Bürger lebt. Er muß, dies iſt göttliches Gebot, nach
allen Kräften das Seinige zum Wohlſein der großen Geſellſchaft
der Mitbürger beitragen, in welcher er wohnt. Dies kann er aber
nicht, wenn ihm dazu die nöthigen Hilfsmittel fehlen. Er kann,
ohne ſelbſt gehöriges Eigenthum zu haben, Andern keinen Ver⸗
dienſt, keine Arbeit, keinen Wohlſtand verſchaffen. Er kann, ohne
ſelbſt Vermögen zu beſitzen, der Obrigkeit nicht die erforderlichen
Abgaben entrichten zur Aufrechthaltung der Geſetze, der gemein—
nützigen Stiftungen, der öffentlichen Sicherheit. (Röm. 13, 7.)
Trägt er aber nicht das Seinige zur Erhaltung des Ganzen bei:
ſo iſt er ein unnützes Mitglied der bürgerlichen Geſellſchaft, ein
läftiger Koſtgänger feines Vaterlandes; er lebt durch die Gnade
Anderer, und muß ſich ſelbſt noch mehr verachten, als er ver⸗
achtet wird. Denn er hat weder göttliche noch menſchliche Ordnung
geehrt, weder göttliche noch menſchliche Gebote pflichtmäßig erfüllt.
Die Sorgfalt des Chriſten um Erwerbung zeitlichen Eigen—
thums und Vermögens iſt göttlicher Wille; jeder Sterbliche ſoll,
ſo lange er auf Erden lebt, Antheil an den Gütern dieſer Erde
haben, die der Schöpfer zum Genuß Aller ſchuf und mit wunder—
barer Fülle des Reichthums ausſtattete. Jeder gewinnt davon
etwas, je nach Maßgabe ſeiner Kräfte und des göttlichen Willens,
der die Schickſale und Verhältniſſe der Menſchen anordnete.
Aber dies Erwerben und Beſchützen des wohlerwor—
benen Eigenthums muß auf gerechte Weiſe geſchehen,
und nicht durch verbotene Mittel. — Gottheit und Menfch-
heit verahſcheuen den gewaltſamen Räuber; den Dieb fremden
— 335 —
Vermögens; den hartherzigen Wucherer, der ſich unter den Thraͤ⸗
nen derer, die er drückt, Schätze ſammelt; den hinterliſtigen Be⸗
trüger, welcher mit falſchem Maß und Gewicht ſpielt, oder fremde
Erbſchaften auf Umwegen erſchleicht und den rechtmäßigen Erben
entzieht.
Segenswürdig iſt die Frucht, welche wir endlich im Schweiße
unfers Angeſichts gewinnen, und an welcher die Thräne keines
Betrogenen klebt; ſchätzbar find und mit Segen empfangen wer-
den die Glücksgüter, welche auch ohne unſer Zuthun Gottes
Gnade uns ertheilt. Aber Fluch haftet und Unſegen am unge—
rechten Gute, welches wir durch Hinterliſt und Gewaltthätigfeit
zuſammenſcharrten; es gedeiht ſelbſt in der Hand der Kinder und
Enkel nicht. Wer das irdiſche Wohl mit Sünden erwirbt, der
hat ſein Höchſtes für das Schlechteſte, die Unſchuld und Würde
ſeines Gemüths für vergänglichen Raub dahin gegeben. Schon
dies Gefühl iſt ein Fluch in der Bruſt des Ungerechten. Er muß
zittern, daß er früher oder ſpäter mit Schande einbüße, wie er
mit Schande erwarb.
Das Erwerben des zeitlichen Vermögens geſchieht
durch den Chriſten auf eine gemeinnützige Art. Er kann ſich
nicht damit beruhigen, daß er ſeinen Wohlſtand auf gerechte Art
vermehrt; nein, es muß auch ſo geſchehen, daß er durch die Arbeit,
die ihm Vermögen verſchafft, andern Menſchen wahre Dienſte
leiſtet. So wird ſeine Arbeit, die er gibt, nur ein Tauſch von
nützlichen Dingen gegen das Nützliche, ſo er dagegen von Andern
erhält. Er treibt keine liederliche, ſittenverderbende Gewerbe, wo—
durch er fremde Leidenſchaften aufregt und zu ſeinem Vortheil
benutzt; er haßt die Werke der Finſterniß, und würden ſie ihm
noch ſo ſehr belohnt. Was er thut und leiſtet, iſt nicht nur des
Lohnes, ſondern auch der Hochachtung aller guten Menſchen werth.
Endlich vergißt er auch niemals, daß zuletzt doch aller Reich-
thum, aller irdiſche Wohlſtand, jo nützlich er auch ſei, nur ver-
gänglich iſt, und daß ihm nur unſere kleinere Sorge, aber
| daß der Heiligung unserer unſterblichen Seele die
| höͤchſte Sorge gebühre. Er ſieht in dem zeitlichen Vermögen
nicht den Hauptzweck ſeiner Erſchaffung, ſondern nur nützliche
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Mittel an ſich und Andern, die Abſichten Gottes zu erfüllen.
Der Zweck feines Lebens iſt nicht das Anhäufen eines Vermoͤ⸗
gens, das ihm zuletzt doch nicht bleibt, ſondern gleichſam nur
einſtweilen dargeliehenes Gut iſt. Sein wahrer Schatz iſt im
Himmel. Sein höchſter Zweck iſt die Veredelung des Herzens,
die Heiligkeit ſeines Geiſtes, mit welchem er beſſern Welten und
erhabenern Schickſalen entgegenreift.
Darum überläßt er ſich nicht allzuweit getriebener Angſt und
Sorge um das Zeitliche; er iſt vielmehr um das Loos ſeiner Seele
bekümmert. Und wie Gott ſeine Arbeiten für Erwerbung irdiſcher
Bedürfniſſe ſegnet, ſo ſegnet Gott auch ſein Bemühen um Er⸗
werbung höherer Vollkommenheiten und unvergänglicher Schaͤtze.
So will ich nun mit Fleiß und Redlichkeit die mir von Dir,
o himmliſcher Vater, verliehenen Krafte anwenden, um meinen
irdiſchen Wohlſtand zum Beſten meiner und derer, für die ich zu
ſorgen habe, zu vermehren. Denn auch mir haſt Du, Allgütiger,
meinen Antheil zugeſichert an den herrlichen Gaben, mit welchen
Deine reiche Vaterhand dieſe Erde ſchmückte. Ich ſoll ſie An⸗
dern ertheilen helfen. Gib Du meinen frommen Bemühungen
Deinen Segen, und laß mich mit Mäßigung und Weisheit das⸗
jenige brauchen, was du mir zutheilteſt.
Aber bei der Sorgfalt um mein irdiſches Wohl laß mich nie
gleichgültig werden in der Sorge um das Ewige! Selbſt in der
Erwerbung meines zeitlichen Vermögens ſoll ich in mannigfal⸗
tigen Tugenden mein Streben nach jenem unvergänglichen Heil
offenbaren. Denn was ich hienieden empfangen, iſt Staub. Das
Irdiſche alles bleibt im Irdiſchen einſt zurück; die Ewigkeit,
Deine herrliche Geiſterwelt, fordert nur das Geiſtige; nur dies
nehme ich mit mir hinüber. — O wie mancher Fürſt dieſer Welt,
der dies vergeſſen, ſtirbt mitten unter Gold und Pracht und
Schätzen, die er verlaſſen muß, als ein beklagenswerther Armer;
wie mancher Bedürftige, deſſen Sterbetuch nichts als ein grobes
Linnen iſt, ſtirbt als ein Reicher, wenn er ſeine Seele mit Tu⸗
genden ſchmückte; denn er iſt der beglückte Erbe des beſſern Les
bens und eines erhabenern Looſes in der Ewigkeit!
Be ,
| 38.
Abnahme des häuslichen Wohlſtandes.
f Phil. 4, 12.
Schon lange wachten bange Sorgen
In meiner Bruſt!
Schon lange führte mir kein Morgen
Zurück die ſonſt empfund'ne Luft.
Ich ſehe meinen Wohlſtand ſinken,
Mein Glück entflieh'n: N
Und Armuth mir und Kummer winken,
Und keine einz'ge Hoffnung blüh'n.
Willſt Du mich, Gott, mein Gott, verlafien?
Und ſoll ich denn
Spott werden Derer, die mich haſſen?
Gemieden von den Glücklichen?
Ach, hätt' allein nur ich zu weinen —
Ich trüg' es noch!
Doch Armuth droht nun auch den Meinen —
Dies macht zu ſchwer des Kummers Joch!
Es iſt in unſern Tagen gar nichts Ungewoͤhnliches, die ange—
ſehenſten Familien plötzlich in Verfall gerathen zu ſehen. Wie
viele der reichſten Häuſer find gezwungen worden, ſich einzu⸗
fehränfen! Wie viele bemittelte Perſonen find in ihren Glücks⸗
umſtänden jo weit zurückgekommen, daß ihnen faſt nicht mehr
blieb, womit ſie ſich und die Ihrigen ernähren konnten!
| In der That, es ift für einen würdigen Hausvater ſchmerz⸗
voll, ſich einer dürftigen Lage preisgegeben zu ſehen, waͤhrend
man vorher vieler Lebensannehmlichkeiten gewohnt geweſen. Es
iſt ſchmerzvoll, oft in wenigen Tagen nun die ganze Frucht ſeines
Lebensfleißes vernichtet, und was der Gewinn langer Arbeiten,
vieler Sorgen, großen Kummers geweſen, ohne Rettung wieder
verſchwunden zu ſehen. Es iſt noch ſchmerzvoller, wenn ſolch
ein hartes Schickſal erſt in ſpätern Jahren eintritt, wo der unter-
nehmende Muth fehlt, und eine mühſelige, arbeitvolle Jugend
mit einem dürftigen Greiſenthum vergolten wird. Es iſt noch
ſchmerzvoller, wenn mit der Abnahme des Vermögens zugleich
| III. 15
— 338 —
die goldenen Hoffnungen abnehmen, welche man für ſeine Kinder
hatte, für die man es ſich unendlich ſauer werden ließ.
Mit dem Augenblick, da es bekannt wird, wie eine Familie
in ihren Glücksumſtaͤnden zurückgekommen iſt, ändert ſich auch
für ſie die ganze Welt umher. Die Menſchen, wie ſie nun ge—
wöhnlich ſind, nehmen einen andern Ton gegen die Unglücklichen
au. Zwar die edlern unter den Mitbürgern bleiben auch dann
noch edeldenkend, und ſuchen mit zarter Schonung und Liebe das
Schickſal der Leidenden zu mildern. Ihre alte Hochachtung ver-
mindert ſich darum nicht, daß nun weniger Reichthum vorhanden
iſt. Nun tritt der Dankbare freudig hervor, und ſucht würdig
zu vergelten, was ihm einſt von den jetzt Geſunkenen Liebes ges
ſchah. Nun tritt der hervor, welcher einſt, weil er gering war,
überſehen ward mit feiner ſtillen Anhänglichfeit; er tritt hervor,
um ſich als wahrer Freund zu zeigen. Aber hundert andere ehe⸗
malige Freunde wenden der verarmten Familie in gleicher Zeit
den Rücken. Die, auf welche man am ſicherſten zählte, find jetzt
am treuloſeſten. Die, gegen welche man ſonſt am uneigennützig⸗
ſten handelte, ſind jetzt die ſchnödeſten, und vermehren hartherzig
das Uebel durch ihre Selbſtſucht. Andere, ehemals neidiſch, prah⸗
len jetzt ſchadenfroh, und freuen ſich heimlich oder laut des Un⸗
falls; bedauern vielleicht, daß er nicht noch größer iſt, und werfen
giftige Pfeile aus mit ihrem verleumderiſchen, bühne Ge⸗
ſchwätz gegen die Geſunkenen.
Nicht Jeder iſt ſtark genug, ſolch ein Verhaͤngniß mit chriſt⸗
licher Faſſung zu ertragen. Viele haben ſich in ſolchem troſtloſen
Zuſtande der Verzweiflung zum Raube hingegeben. Andere haben
den Reſt ihres Lebens kleinmüthig mit Gram und vergeblicher
Sorge verbittert, ihre Geſundheit geſchwächt, und damit zum
Nachtheil ihrer Angehörigen unmerklich ihr Leben verkürzt.
Aber was iſt in ſo traurigen Fällen Weisheit, wenn man
vor den Trümmern feines Vermögens daſteht, und ohne Ausſicht,
jemals das Untergegangene wieder herſtellen zu können? Wo
findet man die verlorne Heiterkeit wieder, wenn man die Sorge
und Mühe eines ganzen Lebens vereitelt ſehen muß? Wie kann
man wieder haͤuslich glücklich, zufrieden, ruhig werden, wenn
„
man doch ſeine Kinder in einer mittelloſen Lage, und ſich ſelber
auf allen Seiten zurückgeſetzt erblickt? — Nein, da iſt's ſchwer,
da unmöglich, wieder des Lebens innig froh zu fein, wie ſonſt.
Da hilft keine Weisheit der Weiſen als Troſt gegen Armuth und
Verachtung; und die beſten Grundſätze werden wirkungslos, wenn
man ſich aus der friedlichen Ruhe in den Sturm, aus dem Para-
dies häuslichen Glücks ins Elend hinausgeſchleudert ſieht.
Wie, kein Troſt? keine Rettung? Unmöglich ware die Wieder-
herſtellung ehemaligen Friedens und der alten Heiterkeit? —
Nein, du irrſt, Unglücklicher, weil die Sprache, welche du jetzt
führſt, beweiſet, daß du noch nie weiſe geweſen biſt vorher.
Du rühmteſt dich ſonſt einer Religion, aber du hatteſt noch keine
Religion. Darum mußte das Unglück kommen, und das Trübjal
mußte dich erſt in die Unterweiſung nehmen: es gebe noch etwas
Höheres, als Geld, Gut und Anſehen! — Du warſt bisher noch
kein Chriſt. Wäreſt du es von Herzen geweſen, würdeſt du heute
mit jener Hoheit ſprechen können, in welcher Paulus zu den Phi⸗
lippern ſprach: Ich kann niedrig ſein und kann hoch ſeinz
ich bin in allen Dingen und bei allen geſchickt, beides,
ſatt ſein und hungern, übrig haben und Mangel leiden.
(Phil, 4, 12.)
Du, den der Verluſt deines Wohlſtandes ohne Unterlaß quält,
Harmvoller, Kleinmüthiger, du warſt noch kein Chriſt, ungeachtet
man dich in Kirchen beten ſah, und voller Ehrerbietung gegen
Gott in deinen Geſprächen. Du warſt noch kein Chriſt, ungeachtet
du dich ſelbſt oft und gern mit dem Regenten des Weltſchickſals
in Andacht unterhalten konnteſt, und die Deinigen zu einem gott⸗
gefälligen Lebenswandel erzogſt und anhielteſt. Du warſt nicht,
was du dir ſelbſt geſchienen haſt, weil du noch einen viel zu großen
Werth auf äußere Glücksumſtände geſetzt haſt, als wenn ſonſt
keine Zufriedenheit, keine innere Seligkeit des Gemüths gedenkbar
ware. Wer nicht im Stande iſt, Alles zu verlieren, und doch
dabei ſeine Heiterkeit und Seelengröße zu behalten, der war noch
nicht in Jeſu Sinn und Geiſt eingedrungen. Es iſt gut, daß ihn
das Schwerſte überfalle, damit er das Vergängliche nicht mehr
hoher ſchätze, als das gefchägt werden muß, was vergänglich iſt.
— 340 —
Andere haben wohl mehr eingebüßt, als du, und ſind ſtärker,
muthiger, Gott ergebener geblieben, als du in deinen Unfällen.
Fürſten ſind von ihren Thronen gefallen, und haben in ruhm⸗
loſer Dunkelheit die Erhabenheit ihrer Denkart bewährt. —
Herren und Große ſind aus ihren Paläſten getrieben und ge⸗
zwungen worden, ihr Daſein durch fremde Mildthaͤtigkeit zu
friſten; in fremden Landen kümmerlich ihren Aufenthalt zu ſuchen;
Verzicht zu thun auf Wohlleben, Glanz, Ruhm und Ueberfluß,
wozu ihre Herkunft, ihr Rang, ihr erworbenes und reich ererbtes
Vermögen ſie zu berechtigen ſchien. Aber mit hohem Sinn haben
ſie getragen, was ſich nicht ändern ließ. Sie haben gelernt: es
waltet über die Ordnungen der Welt eine unſichtbare, mächtige
Hand, die den Reichen ſtürzt, den Armen begütert, die den Hohen
in den Staub ſchleudert und den Niedrigen erhebt.
Ich kann niedrig ſein und kann hoch ſein; ich bin in allen
Dingen und bei allen geſchickt, beides, ſatt ſein und hungern,
übrig haben und Mangel leiden! So ſpricht und denkt der Chriſt,
erhaben über alle Spiele des irdiſchen Glücks, und beweiſet, was
er denkt, im Thun ſeines Lebens. So geh' denn hin und werde
desgleichen.
Faſſe Muth. Gewöhne dich vor allen Dingen, deinem Un⸗
glück, es möge nun fern her drohen, oder ſchon vor dir ſtehen,
zu allen Zeiten unerſchrocken in's finſtre Antlitz zu ſchauen. —
Mache den Anfang damit, den Zuſtand deines zerrütte-
ten Vermögens in allen Verhältniſſen zu erkennen,
und zu erforfchen, was dir bleibt, wenn du Alles ver-
lierſt und hingibſt, was nicht dein Eigenthum iſt.
Es hat Viele in großes Verderben geſtürzt, daß ſie keinen
Muth beſaßen, ſich mit ihrer wahren Lage zur rechten Zeit
bekannt zu machen; daß fie immer über ihre Glücksumſtaͤnde im
Dunkeln zu bleiben und ſich und Andere mit falſchen Hoffnungen
zu täufchen ſuchten. Dies Schwanken verlängerte nur ihren qual⸗
vollen Zuſtand, ftatt ihn zu mindern. Sie verloren alle Heiter
keit, und mußten doch in ihren Geberden eine ſolche vor Andern
heucheln. Sie waren ſchon ſehr unglücklich und mußten doch auf
Mitleid und Hilfe Verzicht thun. Sie griffen nach Rettungs-
.
mitteln umher, aber verſchlimmerten mit denſelben ihren Zuſtand,
und riſſen andere, rechtſchaffene, unſchuldige Familien mehr oder
weniger mit ſich in den Abgrund.
Beſtelle dein Haus. Mache dich mit allem Schlim—
men deiner Lage vertraut. Erſt wenn du weißt, wie weit es
mit dir gekommen iſt, kannſt du mit Sicherheit wählen, wie
größern Uebeln vorzubeugen wäre. Wie es aber auch um dich
ſtehen möge: rette, wenn nichts mehr zu retten iſt, dein Gewiſſen,
deine Ehrlichkeit! Dann iſt der Friede deines Gemüths geborgen
für immer. Du darfſt muthig jedem Rechtſchaffenen in's Auge
ſehen. Denn Unglück iſt kein Verbrechen, Armuth keine Schande.
Du wirft die Achtung deiner Mitbürger behalten, und des Bei-
falls Gottes ſicher ſein. Siehe, und wenn du nichts mehr haſt:
dies wird dein Segen fein, welcher dir früher oder fpäter wieder
empor hilft; dies der Segen, der deinen Kindern einſt wieder
Wohlſtand bringt.
Verzögere keinen Augenblick nach Erkenntniß dei-
ner Umſtände, dein Hausweſen ihnen gemäß einzurich—
ten. Laß den falſchen Stolz fahren. Noch nie iſt ein Menſch
durch Wahrhaftigkeit und beſcheidenen Sinn elend geworden. Aber
Stolz hat ſchon Manchen zum tiefſten Fall gebracht. Entferne ihn.
Dann wirft du den Glückswechſel mit jener Seelengröße tragen,
die über alle Unbill der Zeiten hinwegſchaut. — Im Schiffbruch
geht der Verzagende am früheſten unter. Der Muthige bewahrt
Beſonnenheit, und erhaſcht das ſchwimmende Brett, welches ihn
im wilden Spiel der Wogen ans feſte Land führt. Wer mit Gott
und Vorſehung iſt, den rettet Gott und Vorſehung.
Schränke deinen bisherigen Aufwand mit weiſem
Ernſt ein, angemeſſen deinen jetzigen Einkünften. Ver—
banne die falſche Scham; denn nicht das einfachere Leben ſchmerzt
dich ſo ſehr, als daß du durch deine Einſchränkungen die Lage
deiner Umſtände verräthft. Aber habe den Muth, gerecht gegen
dich und die Deinigen zu ſein; habe den Muth, ehrlich und wahr⸗
haft zu ſein. — Es iſt keine Schande, in Zeiten, wie die gegen⸗
wärtigen, Vieles zu entbehren, was ſonſt erfreuen konnte. Spar⸗
ſamkeit hat noch nie entehrt, vielmehr ſie erwirbt Achtung und
— 8
Zutrauen; ſie ſtellt das Zerrüttete wieder her. — Deine Vor⸗
fahren gewannen, weil ſie arbeitſam und enthaltſam zugleich ſein
konnten. Ihre Einkünfte mußten ſteigen, da ihre Ausgaben ge⸗
ring blieben. Aber leichtſinnige Fortſetzung eines unverhältniß⸗
mäßigen Aufwandes in Geräth und Kleidern, Speiſen und Ge⸗
tränken, in Theilnehmung an koſtſpieligen Vergnügungen und
Unternehmungen wird dich früher oder ſpaͤter mit gerechten Vor⸗
würfen deiner Hausgenoſſen, mit dem Unwillen deiner en
mit der Verachtung deines Gewiſſens geißeln.
Arbeite und entbehre! Dies ſind die Mittel, mit denen du
dich wieder aufſchwingſt und von Anderer Hilfe unabhängig
machſt. Das ehemalige Wohlleben, welchem du entſagſt, und
dem du endlich in deinen Umſtänden doch einmal entſagen mußt,
wird dir nie ſo innige Freude gewaͤhrt haben, als dir jetzt deine
heldenmüthige Entſchloſſenheit bei kärglicher Koſt und einfachern
Kleidern und Geräthen gibt. ö
Rette, und wenn du Alles verlieren ſollſt, die Rein⸗
heit deines Gewiſſens, eine unbefleckte Redlichkeit!
Dann haft du das Edelſte behalten, du haſt deinen eigenen beſ⸗
ſern Werth nicht verloren.
O, es iſt etwas Großes um den Stolz eines unerſchrockenen,
guten Bewußtſeins! Dies macht uns in der Niedrigkeit erhaben,
im Trübſal heiter, in allen Verfolgungen des Glücks ſtark, und
gibt in den ſchwerſten Lebensſtunden Zuverſicht auf Gott. Mit
welchem Vertrauen darf der gewiſſenloſe Betrüger, der abſicht⸗
liche Verräther fremden Gutes fein Auge zu dem erheben, der
Alles lenkt, der da gerecht richtet und keine Sünde ungeſtraft,
keine Tugend unbelohnt läßt? — Rette die Reinheit deines Ge⸗
wiſſens, dann Chriſt, wirſt du Chriſti Worte verſtehen, als er
ſprach: Was hülfe es dem Menſchen, und wenn er die ganze Welt
(c durch Unredlichkeit) gewaͤnne, und Schaden litte an feiner Seele?
Es kommt die Zeit, da fein Gewinn wieder zerfkiuben und fein
Verbrechen an das Tageslicht treten muß. Was half ihm denn,
daß er für einen Schatten das Letzte und Heiligſte geopfert on
was nie ein Sterblicher veräußern darf!
Rette die Reinheit deines Gewiſſens! Denne Unschuld
— 343 —
wird dich mitten im Unglück ehrwürdig machen; die Schadenfreude
wird erröthen, die Verleumdung verſtummen müſſen. — Es wer-
den Viele, die dich vormals nicht kannten, oder dich, waͤhrend
du noch in beſſern Umſtänden lebteſt, wohl gar mißkannten, dich
nun höher ſchätzen lernen. Sie werden für dich das Wort reden.
Sie werden, unaufgefordert, von deiner Unſchuld, deiner Stand—
haftigkeit bewegt, dir eine hilfreiche Hand zu bieten ſtolz ſein.
Denn — o vergiß es nie! — man kann einen Mächtigen haſſen;
man kann ſich zum Sturz eines Großen verſchwören; man kann
den reichſten Thoren verachten; man kann die ſeltenſte Schön—
heit unliebenswürdig finden — aber der Gerechte zwingt auch
ſeinem Feinde Achtung ab, und die Unſchuld entwaffnet endlich
den Grimm des Unverſöhnlichen. Gott und Vorſehung ſind mit
ihm! Die Siege der Tugend ſind immer unzweifelhaft, und ſollten
ſie erſt über dem Grabhügel des Verkannten vollendet werden.
Es iſt etwas Gewöhnliches in unſerer Zeit, bald hie, bald da
unter unſern Mitbürgern die Abnahme des häuslichen Wohl-
ſtandes wahrzunehmen. — Aber noch gehört es zu den Selten—
heiten, Männer zu ſehen, Chriſten, Chriſtinnen, die beim un—
verſchuldeten Zertrümmern ihres Vermögens getroſt bleiben, und
zu rechter Zeit die nöthigen Anſtalten treffen, daß kein Anderer
durch ihr Unglück leide. Es gehört zu den Seltenheiten,
Chriſten, Chriſtinnen zu ſehen, die ſich mit Gelaſſenheit vom
Glück Alles rauben laſſen, was zu retten außer ihrer Gewalt
liegt, aber hinwegblickend vom vergänglichen Staube, mit hoher
Zuverſicht das Unvergaͤngliche halten; die mit Jeſu Chriſto, ihrem
göttlichen Führer, in edler Weltentſagung Armuth, Schmach und
Hohn tragen; mit Saulus ſagen können: ich kann niedrig ſein
und kann hoch ſein, ich bin bei allen Dingen und in allen ge—
ſchickt, beides, ſatt fein und hungern, übrig haben und Mangel
leiden. Ich vermag Alles durch den, der mich mächtig
macht, Chriſtum!
— 344 —
39.
Vergangenes Leiden.
Hebr. 10, 32.
O Allmacht, Weisheit, Güte,
Erquicke mein Gemüthe;
Biſt Du nicht ſtets Dir gleich?
Gewohnt die heißen Zähren
Der Deinen zu erhören,
Nicht unausſprechlich reich?
Oft thuſt Du über Flehen,
Mehr, als wir Menſchen ſehen,
Und mehr, als wir verſteh'n;
Und jetzt ſollt' ich vergebens
Zum Vater meines Lebens,
Zu meinem Heiland fleh'n?
Nein, ich will Dich nicht verlaſſen,
Im Glauben Dich umfaſſen,
Als ſtändeſt Du vor mir.
Ich weiß, Du hörſt mein Sehnen;
Ich weiß es, meine Thränen
Sind fchon gezählt vor Dir!
O Gott! was wird noch aus uns werden? Welche Schickſale
erwarten mich noch? Wie wird es noch in meiner Familie gehen?
Wie werden wir überſtehen, was uns noch aus der Ferne be—
droht? Wie manchen Verluſt könnte auch ich noch erleben? —
ach, Verluſte, die viel herzzerreißender als alle ſchon gehabten
wären! Ich wage es kaum, daran zu denken. Ich würde einer
der unglücklichſten Sterblichen ſein. Könnte ich, wenn das
Schrecklichſte für mich wahr werden ſollte, könnte ich es wohl
ertragen? würde ich es überleben können?
So frage ich mich, wenn ich an gewiſſe Umſtande in meiner
häuslichen Lage, an das Schickſal mancher Perſonen denke, die
meinem Herzen verwandt und theuer ſind. Ich ſuche Troſt; ich
finde es nöthig, mir Faſſung zu verſchaffen, mich auf die bittern
Hefen eines unbekannten Leidenkelches vorzubereiten, den mir
die Zukunft darreichen könnte, damit ich ihn ausleere. Wohl kann
man ſagen, und ich ſage zu mir ſelbſt: man muß ſich die Ge-
danken an die traurigen Möglichkeiten aus dem Sinn ſchlagen.
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Aber es iſt nicht immer thunlich. Es ift oft wohlthaͤtig, den
Blick auf die kommenden Tage hin zu neigen, und das Herz an
den Empfang ſchwerer Schickſale zu gewöhnen. Wie ſoll ich ſie
aber empfangen? Wo finde ich Troſt für das Traurigſte, das mich
bedrohen mag? wo weiſe Kraft, das Schwerſte zu tragen?
Du, o göttliches Wort, Wundermacht der Religion, ant⸗
worteſt dem fragenden bekümmerten Gemüth: Gedenket aber
an die vorigen Tage, an welchen ihr erduldet habet
einen großen Kampf des Leidens. (Hebr. 10, 32.)
Der Rückblick auf vergangene Leiden alſo iſt es, was mir
Muth, Weisheit und Standhaftigkeit gegen die allfaͤllig noch
bevorſtehenden geben ſoll? Wie wäre dies möglich? Muß nicht
die Erinnerung an das, was ich im Leben ſchon gelitten habe,
mich muthloſer machen? Fühlt nicht mein Herz noch das Nach—
bluten mancher halbgeheilten Wunde? O das Leben, welches
ich gelebt habe, es hatte jo manche ſchreckliche Stunde, die ich
gern aus meinem Gedaͤchtniſſe hinwegwiſchen möchte! Zwar auch
viele heitere Sonnentage ſtrahlten auf meinem Lebenspfad; aber
doch möchte ich ihn um den Preis nicht zurücklegen, daß ich zum
zweiten Mal verlieren müßte, was ich ſchon dort verloren habe;
daß ich zum zweiten Mal die Reue, den Verdruß, die Erniedri⸗
gung, die Todesſchrecken erfahren müßte, die ich ſchon erfahren
habe. Lieber will ich mein Auge weiden an den verfloſſenen Zeiten,
als an den geduldeten Schmerzen. Der Gedanke an ehemalige
Seligkeiten wird mich wenigſtens erheitern.
Gedenket aber an die vorigen Tage, an welchen ihr erduldet
habet einen großen Kampf des Leidens! — Ernſte Gottesſtimme!
Nicht vergebens rufſt du mir die Reihe der ſchwarzen Verhäng-
niſſe zurück, unter denen ich oft alle Luſt und alle Hoffnungen
verwelken ſah. In der That herrſcht in denſelben etwas Großes,
Belehrendes. Auch bemerke ich eine wunderbare Verſchiedenheit
zwiſchen den Freuden und Schmerzen, die mir noch bevorſtehen,
und die ich ſchon genoſſen habe.
Die angenehmen Ueberraſchungen des Glücks, die fröhlichen
Zeiten, die für mich vielleicht noch im Schooſe der Zukunft lie⸗
gen, erwecken meine freudige Hoffnung, und ich fühle ſchon im
— 346 — i
Voraus ein dunkles Vergnügen an denſelben. Allein von ganz
anderer Wirkung ſind auf mich die Erinnerungen längſt vergan⸗
gener Zeiten. Sie erfüllen mich mit leiſer Wehmuth. Es ſind
verblichene Blumen, die hinter mir welkend zuſammenfielen. Ich
frage, wo find die harmloſen Stunden der Liebe und Gefellig-
keit? wo die Freunde meiner frühern Tage, mit denen ich zu⸗
weilen ſo glücklich war? Es iſt nicht mehr, wie ſonſt! Ach, ſo
kommt es zu meiner trauernden Seele nicht wieder zurück. Hin⸗
gegen alle überwundenen Leiden der Vergangenheit, weit entfernt,
daß ſie mich heute noch ſchrecken und quälen ſollten, erfüllen
mich mit einer unnennbaren Zufriedenheit. Die Erinnerung an
überwundene Gefahren iſt eben ſo angenehm, als der Gedanke
an noch zu beſtehende peinigend iſt. Wer erzaͤhlt nicht gern und
mit unverhehltem Vergnügen von den erlebten böſen Tagen; von
Zeiten, da man ſich in der größten Noth befand? Dieſes ſonder⸗
bare Vergnügen entſpringt theils aus dem Gefühl der Sicherheit,
in welcher wir uns jetzt befinden, theils aus dem ſtillen Wohl⸗
gefallen an unſerer Geiſtesgegenwart, an der Entſchloſſenheit und
Kraft, die wir damals bewieſen, als wir uns in Trübſal befan⸗
den, und uns aus der verzweiflungsvollen Lage herausriſſen.
Wir verkennen dabei auch gar nicht, wenn wir nur einigermaßen
aufmerkſam auf uns ſind, daß wirklich Noth und Gefahr uns
mehr genützt haben, als die allerfröhlichſten Tage. Unglück machte
uns entſchloſſener, ſelbſtverſchuldetes Uebel machte uns vorſich⸗
tiger und behutſamer; Noth lehrte uns erſt unſere Krafte kennen;
Gefahr gab uns erſt Herzhaftigkeit und Geiſtesgegenwart. So
haben wir von unſern böſeſten Zeiten vielleicht die ſegensvollſte
Aernte für uns gemacht, während die heiterſten Lebensaugenblicke
in uns nichts als eine ſtille Wehmuth und unfruchtbare Sehn—
ſucht zurückließen. Ohne in frühern Zeiten durch manche Wider—
wärtigfeiten geprüft und geübt zu fein, hätten wir uns viel⸗
leicht nie zu dem entwickelt, was wir jetzt find; wären wir mit
Geiſt und Herz nicht das geworden, deſſen wir uns gegenwaͤrtig
erfreuen koͤnnen. Wohlleben erſchlaffte und laͤhmte unſere beſſern
Eigenſchaften; aber der Kampf des Leidens gab uns Staͤrke, die
Finſterniß draußen erfüllte unſer Inneres mit Licht.
u. U
Alſo iſt der Gedanke an vergangenes Leiden noch jetzt über
uns wohlthuend, ſogar in manchen Fallen vergnügend; gewiß aber
iſt er lehrreicher und auf das Gemüth heilſamer wirkend, als der
Gedanke an die noch bevorſtehenden Uebel.
Gedenket aber an die vergangenen Tage, an welchen ihr er⸗
duldet habet einen großen Kampf des Leidens! Ja, ich will ihrer
gedenken. Der Muth meiner Seele erhebt ſich in ihrer Erinne—
rung, und ich erſtaune über die Macht und Weisheit in An-
ordnung meiner Schickſale, daß ich mehr für mich aus den
ſchmerzlichſten Erfahrungen Gutes gewonnen habe, als aus den
allerangenehmſten Lebensgenüſſen. Den Leiden gab Gott ſüße
Nachempfindungen, den Freuden aber einen mit Bitterkeit ver—
miſchten Nachgeſchmack.
Alle Unnannehmlichkeiten meiner vorigen Jahre waren ent-
weder Folgen meiner eigenen Verſchuldungen, und dann dienten
ſie mir zur Warnung, Lehre und Beſſerung; oder ſie waren von
Gott geſandt, ohne mein Erwarten, ohne mein Verſchulden;
dann mahnten ſie mich an den ewigen Unbeſtand der Dinge auf
Erden, an die Hinfälligkeit jedes ſogenannten Glücks, und lehrten
mich aufblicken zu dem, was ewig dauernd iſt.
Und dies Letzte, ich möchte es mir nicht laͤugnen, iſt auch für
mich eine der ſchönſten Wirkungen vergangener Leiden geweſen.
Ohne frühe und tiefe Schmerzen hatte ich vielleicht niemals mit
Inbrunſt dich, o Jeſusreligion, umarmt, an deren Bruſt allein
ich wieder Troſt und Ruhe gefunden habe.
Ich lerne aus dem Kampf des Leidens voriger Tage, daß
Widerwärtigkeiten jeder Art eine Wohlthat für das
Menſchengeſchlecht ſind; daß ſie am meiſten zur Erhebung
und Veredlung unſers Geiſtes beitragen. Die Noth iſt die vor—
trefflichſte Lehrerin der Sterblichen; ohne ſie wäre keine Kunſt,
keine Wiſſenſchaft entdeckt. Das Unglück und die Hinfaͤlligkeit
des Irdiſchen ſchwaͤcht deſſen verführeriſche Reize ſehr, und macht
die Seele geneigt, etwas Höheres, Bleibenderes zu ſuchen —
das heißt, ihrer wahren Beſtimmung nachzueilen. -
Dienn wie viel tauſend Menſchen leben, die nur das Daſein
empfangen zu haben ſcheinen, um im Schweiße des Angeſichts
— 348 —
ihr Brod zu verdienen, vom Morgen bis zum Abend zu ar⸗
beiten, zu ſchlafen und zu ſterben! Wenn ſie ihren Gaumen mit
einem beſſern Biſſen reizen, ihren Leichnam mit feiner gewebten
Tüchern bedecken, ihren Kindern eine größere Geldſumme hinter⸗
laſſen können, ſcheinen ſie den ganzen Zweck ihres Erdenlebens
erreicht zu haben. Clender Zweck! Und doch würden ſie ſich zu
keiner höhern Anſicht erheben, wenn der einförmige Gang ihres
irdiſchen Treibens nicht durch Stürme unterbrochen würde. Aber
da zerreißt ein Erdbeben ihre Güter; da lodert in Kriegsflammen
ihre Hütte empor; da ſterben ihre Kinder, für die fie Schätze ſam⸗
nelten. Nun beten ſie — nun wird ihr bisheriger Lebenszweck
ihnen ohne Bedeutung — nun fragen ſie: welche Güter ver⸗
nichtet kein ſchreckenvoller Zufall? welches Lebensglück zerftört
kein Krieg? für wen müſſen wir ſammeln, wenn unſere Kinder
noch frühere Todesbeuten ſind, als wir? Und die Religion, welche
für fie bisher nur eine Ehren- und Gewohnheitsbeſchaͤftigung,
eine Nebenſache geweſen, wird ihnen wichtiger! Ihr tiefgebeugter
Geiſt erhebt ſich auf den Flügeln der Andacht aus dem Staube
des Alltagslebens hinauf zum Unvergänglichen und Göttlichen.
Sie waren bisher arbeitſame Laſtthiere, die von der Arbeit zur
Krippe, von der Krippe zum Lager gingen; jetzt werden ſie erſt
Menſchen, da ihnen das Erdenleben nicht mehr Genüge thut,
und ſie eine andere Heimath, ein anderes hoͤheres Ziel ahnen, und
das Unſterbliche in ihrer Bruſt die verlornen Rechte zurückfordert.
Leiden find größere Wohlthaten für den Geiſt, als
Glück und Ruhe. Man liebt, man gewöhnt ſich nur an das,
was man lange hat. Aber der Unbeſtand des Irdiſchen muß noth—
wendig unſer Vertrauen zu demſelben ſchwächen; wir hüten uns,
dasjenige mit allzugroßer Liebe zu umfaſſen, wovon wir voraus
wiſſen, daß es doch nicht unſer iſt und nicht unſer bleibt. Beim
Wechſel des Glücks und des Unglücks wird die oft getäuſchte,
von ſo vielen Freuden ſchmerzhaft losgeriſſene Seele in ſich ſelbſt
zurückgedrängt. Sie fängt an, da fie ſich bisher nur in den Außen»
dingen verlor, in ſich ſelbſt zu leben, und findet endlich eine Ruhe,
eine bleibende Zufriedenheit, die ihr das betrügliche Schauſpiel
des Alltagslebens nie gewaͤhren konnte.
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Leiden ſind Wohlthat. Sie offenbaren uns Gott, zu dem ſie
uns führen. Der Geſunde hält ſich bald für unſterblich; der
Glückliche für allmächtig. Er würde ſeinen Sinn nicht ändern,
wenn der angenehme Traum nicht mit Schrecken endete. Aber
nun zittern ſeine Nerven von den Schmerzen einer Krankheit;
nun ſieht er vom Siechbette herab die Gräber, deren eins ihn er-
wartet; nun ſind mit ſeinem treuloſen Glücke auch die Schmeichler
und Verehrer entronnen, und demüthig ſieht er hinauf zu denen,
die er vorher im Uebermuth manchmal verachtete. Nun erkennt
er, es ſei der Menſch ein ſchwaches Geſchöͤpf, und wie ſehr ſich
auch der Sterbliche brüſte, nichts ſei in ſeiner Gewalt. Nur Gott
herrſcht. Nur Gott iſt der Allmächtige, und jede Kreatur neben
ihm Ohnmacht. Die Noth ſteigt. Menſchen helfen ſelten, und
die da helfen können, empfangen nur von Gott die gehörige Lei⸗
tung und Kraft. Im Schiffbruch aller ſeiner Freuden lernt der
zum erſten Mal beten, der noch nie gebetet hatte, und beugt ſich
vor der höhern Gewalt. So offenbaren uns die Leiden den Aller⸗
höchſten, und führen uns zu ihm.
Gern denke ich an meine kummervollen Tage zurück — in
ihnen offenbarte ſich mir die gütige Vorſehung am
hellſten; ſie brachten mich zu Gott. Denn war gleich oft
die Noth ſo groß, daß ich glaubte, nun könne es in dieſer Welt
nie wieder gut mit mir werden: ſo war doch Gottes Hilfe mir
nicht mehr fern. Er winkte; die ſchwarzen Wetterwolken zertheil—
ten ſich, und Alles ward anders. O wie oft iſt mir dies geſchehen!
Es iſt gut, daß ich zurückſehe auf die vergangenen Widerwaͤrtig⸗
keiten, denn ſie machen meinen Muth groß für die zukünftigen.
Ich lerne aus ihnen feſtere Zuverſicht zu dem rettenden Vater,
der mir auch zukünftig nahe ſein, und eben dann helfen wird,
wenn es zu meinem Wohl der vortheilhafteſte Augenblick iſt.
Aus dem Strom meiner Vergangenheit ſchöpfe ich lindernden
Balſam für die Wunde von heute, und Kraft für jedes noch auf
mich wartende Ungemach.
Auch habe ich in der Schule überſtandener Schmerzen noch
für jede Zukunft die wichtige Wahrheit gelernt: daß dem Men⸗
ſchen kein größeres Uebel begegnet, als er Kraft hat zu
— 350 —
ertragen. Gott, der die Schickſale ordnet und die Kräfte ver⸗
theilt, hat mit unendlicher Weisheit jene gegen dieſe abgewogen.
Wer nur dieſen Glauben feſthält, wer nur nicht kleinmüthig an
ſich ſelbſt verzweifelt, nicht ſeine Zuverſicht auf den Herrn des
Lebens verläßt: der kann unmöglich untergehen. Er kann das
Schwerſte tragen. Auch der gewaltigſte Schmerz iſt zu beſtehen,
denn er geht zuletzt in Betäubung über. Je größer, je empfind⸗
licher der Schmerz, deſto bälder eilt er vorbei. Nur erträgliche
Leiden halten langere Zeit an.
Dreierlei Uebel ſind für den Menſchen die bitterſten: wenn
er nämlich die tiefen, entehrenden Folgen ſeiner Vergehungen
duldet; oder wenn er ſieht, wie ſein bisheriger Wohlſtand immer
abnimmt; oder wenn ihm der Tod die Lieblinge aus den Armen
reißt. Aber eben dieſe Uebel find auch diejenigen, welche am
meiſten zu feiner Gemüthsveredlung wirken, es wäre denn, daß
er ganz zur Thierheit geſunken. In ſolchem Falle geht er mit
Verzweiflung in den Abgrund nieder; die Religion hat keine
Stimme für ihn, weil die Thierheit keinen Sinn für Religion
hat. Das vernunftloſe Weſen krümmt ſich unter dem Schmerz,
und ſtirbt. Böſe Folgen unſerer Vergehungen ſind Zuchtruthen
in der Vaterhand Gottes. Wir tragen die Strafen nicht unver⸗
dient; aber nicht zu unſerm bleibenden Elend, ſondern zu unferen
Beſſerung. Eben weil es Strafen ſind, verwunden ſie uns am
tiefſten. Das Gewiſſen legt zu allen Unannehmlichkeiten noch
die Dornen des Vorwurfs. Eben weil es Strafen ſind, veredeln
ſie uns am meiſten: fie ſchaͤrfen unſere Vorſichtigkeit, ſie machen
uns das Laſter verhaßt, und lenken uns der Tugend zu. Es iſt
um Rettung unſerer unſterblichen Seelen, es iſt um den Genuß
einer Ewigkeit, um das Aufſteigen aus dem Staube der Vollen⸗
dung zu thun.
Abnahme unſers Wohlſtandes, eintretende Duͤrftigkeit iſt ein
großes Uebel. Viele Bequemlichkeiten, in denen wir uns bisher
gefielen, nehmen ein Ende. Wir müſſen uns manches Vergnügen
verſagen, das bisher unſere Tage erheiterte. Wir ſehen voraus,
daß wir bei Menſchen, die nur den Werth des Menſchen nach
feiner Wohlhabenheit ſchatzen, viel an der vorigen Achtung und
- 351 —
Freundſchaft einbüßen, daß wir uns endlich ganz ſelbſt überlaſſen
ſein werden. Aber eben dieſes Uebel iſt ein großes Mittel Gottes
zu unſerer Erhebung und innern Beſeligung. Nun erſt, entkleidet
von äußerlichem Schmuck, werden wir gewahr, was wir ſelbſt
werth ſind. Nun erſt lernen wir die wahren und falſchen Güter
des Lebens, ſo wie die wahren und falſchen Freunde kennen.
Nun erſt halten wir feſter an Gott, da uns eine treuloſe Welt
und ihr Glück verläßt, und ſaugen aus Kleinigkeiten Freuden,
die wir vormals oft in der glänzendſten Fülle nicht fanden. Wir
ſind ſchon durch den Augenblick edler geworden, da wir das ver—
loren, was bisher unſere Kräfte einſchlaͤferte. Vernichteter Wohl-
ſtand iſt eine zerbrochene Geiſtesfeſſel; die Seele ſchwingt ſich
freier und achtungsvoller zu Dem auf, dem Alles gehört, und
ſammelt ſich Schätze, die kein Roſt verzehrt, kein Dieb raubt, ſon—
dern welche durch die Ewigkeit fortdauern. Verarmung an äußern
Gütern wird der Anfang zum Sammeln innern Reichthums. Und
der kann wohl eine Welt vergeſſen, der einen Gott gewonnen hat.
Das Abſterben eines treuen Freundes, einer zaͤrtlichen Freun—
din, eines geliebten Kindes, oder hochverehrter Aeltern, iſt ein
zermalmender Donnerſchlag, der uns betäubt, entkraͤftet, und in
unſerer Denkart irre macht. Ein treues, geliebtes Herz verloren,
Alles verloren! Das Leben wird zur Einöde. Ach, wie gern
hätten wir Armuth und Schmerz übernommen, wenn der Tod
uns um dieſen Preis die ſchöne Beute zurückgegeben hätte, —
Aber jener verwüſtende, lähmende Wetterſtrahl durchs Leben, er
iſt die höͤchſte Wohlthat. In feinen Flammen ſteht geſchrieben:
Gott iſt der Herr! Du biſt Staub! In ſeinem nachrollenden
Donner tönt die Stimme: Du bleibſt nicht auf der Erde — hier darf
nichts weilen! — Alles eilt davon, zur Ewigkeit! zur Ewigkeit!
Wer nie einen geliebten Todten zu beweinen hatte, der hat
auch nie das Glück der Unſterblichkeit tief gefühlt, und nie die
Seligkeit ſeiner Menſchenwürde erkannt in ihrer ganzen Größe.
In allem, was Gott thut, iſt Erhabenheit; ſelbſt in den Zügen
eines geliebten entſeelten Leichnams liegt unausſprechliche Maje⸗
ſtät, die uns predigt: Ich bin des Schöpfers! Ich bin ein ver-
— 352 —
laſſenes Haus; mein edler Bewohner lebt in ſeligern Welten. Er
kennt dich noch; er liebt dich noch; er winkt dir aus den Fernen!
Jeder unſerer verſtorbenen Geliebten zieht unſer Herz mit
feſten, zarten, unſichtbaren Banden an die Ewigkeit; und das
Wort, welches uns oft ſonſt gleichgültig am Ohr vorübergau⸗
kelte, wird von nun an bedeutungsvoller: Wir ſind unſterblich,
darum iſt auf Erden kein wahres Leiden, als die Unvollkommen⸗
heit und Sünde. Wir ſind unſterblich, darum ſollen wir nicht
weinen um vergängliche Dinge. Wer wird auch um Träume
weinen! Aber Ehre, Wohlſtand, Gewalt, Armuth, Verachtung,
Krankheit, ja das Leben ſelbſt iſt nur ein bildervoller, flüchtiger
Traum. | |
Im Tode unſerer Geliebten fühlen wir vielleicht den tiefſten
Schmerz, aber auch die höchſte Wonne, deren der Menſchengeiſt
fähig iſt — unſer Einsſein mit Gott, unſere Verwandtſchaft mit
dem Jenſeits, unſer Bürgerthum mit dem Ewigen.
Schweigend und ernſt werfe ich den Blick auf den Kampf
des Leidens, welchen ich in vorigen Tagen gekämpft habe. Nicht
immer dachte ich erhaben genug, daraus die größten Vortheile zu
ziehen. Wenn ich oft ſchon viel verloren hatte, warum behielten
die vergänglichen Güter des Lebens noch immer jo übermäßigen
Werth für mich? Warum hing ich mich an ſie, als könnten ſie
mir genommen werden? Warum jagte ich doch immer wieder mit
ſo heißer Begierde nach Ehre, nach Vermögen, nach Vorzügen
vor Andern im bürgerlichen Leben, da ich weiß, wie wenig dazu
gehört, um deſſen Alles verluſtig zu ſein? Warum verzage ich
noch zuweilen ſo ſehr, wenn mich Sorgen der Noth umringen,
da ich doch weiß, daß Gott, mein Vater, mir jedesmal geholfen
hat, und mir ferner helfen wird? Warum falle ich doch noch ſo
oft in den alten Fehler zurück, da ich weiß, wie viele Leiden mir
daraus ſtrafend zugewachſen ſind? Warum zittere ich, bleich und
troſtlos, wenn ich denke, daß mir vielleicht eine meinem Herzen
theure Seele unvermuthet durch den Tod entführt werden könnte?
War denn die Leidensſchule ſo ganz vergebens, durch die du
mich, o gütige Vorſehung, geführt haſt? Wo iſt denn die hohe
Gleichmüthigkeit des Chriſten, welche ich gegen den Wechſel des
mn —
— 3353 —
Glucks haben ſollte? Und doch empfing ich fo ernſte Lehren von
dir, o Schickſal! — Wie ſteht es denn mit der weiſen Behand⸗
lung meiner Gegenwart, da ich durch vergangene Noth endlich
genug gewitzigt ſein ſollte? Wo iſt denn meine Ruhe wegen der
Zukunft, da hundert traurige und frohe Erfahrungen, mir Zus
verſicht auf Dich, o Vater, o Weltregierer, hätten einflößen
ſollen? Ich will mich in die Stille der Einſamkeit begeben; ich
will mich meiner vergangenen Tage und Trübſale erinnern; ſie
ſtehen wie warnende, liebende Engel hinter mir in der Ferne, und
rufen: Wir kamen; Gott ſandte uns zu dir, dich Weisheit zu
lehren; wir gingen, du haſt uns vergeſſen. Unglücklicher, wenn
wir vergebens auf Erden gelebt! — Wir ſagten dir, es iſt im
weiten Weltenreich kein Herr, als Gott, der Heilige, der Liebende;
kein Unglück als das Laſter; keine Ehre, als Seelengröße; kein
Reichthum, als Gemüthsvollkommenheit; kein Unſterbliches, als
der Geiſt; kein Leben, als die Ewigkeit. — Aber du wandelſt
und ſorgeſt, als regierteſt du die Schickſale mit eigener Kraft, und
feſſelſt dich an das Zeitliche an, als wäre es ein ewiges Geſchenk.
Die Stimmen vergangener Trübſale, Vater im Himmel, ſollen
mir nicht vergebens rufen; denn Du gabſt ſie mir, nicht mich zu
quälen, ſondern zur Wohlthat. Jedes Unglück, welches mir be⸗
gegnet iſt, und noch begegnen wird, iſt ein ernſter Bote von Dir,
der mich zu Dir mahnt; jeder Verluſt im Irdiſchen ein Wink zum
Gewinn der beſſern Schätze; jeder Todesfall eine feierliche An⸗
kündigung der Ewigkeit, in der auch meine Stelle bereitet iſt.
O mein Gott, Du Gnadenreicher, der Du auch in das, was
ich Leiden nenne, einen Segen für mich legſt, endlich werde ich
mich ermannen, durch Jeſum Chriſtum Dein zu fein! — O wenn
meine Kraft fehlen will, Vater, erhebe mich. Amen.
40. f
un verſchuldetes Leiden.
Hebr. 12, 11.
Was mir noth thut auf der Reiſe
Durch die Welt, N
Was mir fehlt,
Weiß er, der Allweiſe.
Sollt' er meiner je vergeſſen?
Er mein Heil,
Hat mein Theil
Längſt mir zugemeſſen.
Nährt den Vogel in den Lüften
Nicht der Herr? 5
Weidet er
Nicht das Thier auf Triften?
Kleidet er des Graſes Blume
Nicht mit Pracht,
Seiner Macht,
Seiner Huld zum Ruhme?
Rur auf mich ſollt' er nicht achten?
In der Noth N
Ließe Gott
Hilflos mich verſchmachten?
Ich bin ſein; mir ſoll en grauen!
Väterlich
Liebt Gott mich,
i par wil ich vertrauen.
Wenn das arme Menſchenherz hoffnungslos leiden muß —
wenn es Alles einbüßen muß, was ihm durch langen Beſitz theuer
geworden war, Alles, was ihm das Leben auf Erden verſüßen
konnte: ſollte es dann nicht trauern? — Wer gebietet im durch-
dringenden Schmerz feinem Auge, daß es die Thraͤnen zurück-
halte, oder der friſchen Wunde, daß ſie nicht blute? Euer Troſt,
ihr Glücklichen, iſt dem Unglücklichen vergebens. Ach, ihr gebet
nur Worte. Ihr habet den mitleidigen Verſtand, aber der Tief—
betrübte hat das blutende Herz. Gebet ihm nicht Worte, ach,
gebet ihm ſein altes verlorenes Glück wieder, und dann könnte
er euch danken, denn ihr hättet ihn wahrhaft getröͤſtet.
Iſt es nicht Gott ſelbſt, der uns allen gleiches Recht zum
Genuß der wenigen Lebensfreuden gab? Warum müſſen Tauſende
— 3833 —
froh fein können, während ich allein unter Tauſenden in meiner
Bruſt den Gram und die Sorge beherberge? Der Aublick deſſen,
was ihr Glücklichen beſitzet, kann nur meinen Kummer um das
vermehren, was ich verloren habe. Oder verdiente ich denn
weniger, beglückt zu fein, als ihr, als Tauſende? War ich laſter⸗
hafter, als Tauſende neben mir? Hat Gott nicht uns ſelbſt das
Herz, dieſes für jede Lebensluſt empfängliche Herz, in die Bruſt
gelegt? Warum muß ich für das empfänglich ſein, was zuletzt
mein Elend werden ſoll? Warum muß ich mich mit Liebe an das
hangen, was ich beſtimmt bin, ſchmerzlich zu verlieren? Warum
dies Gefühl für alles Gute und Schöne, wenn es nur geweckt
wird, um für mich eine neue Quelle des Grams zu werden?
Wäre mir nicht wohler, wenn ich unempfindlich wäre, wie ein
Felſenſtein? Da würde ich freilich viele Freuden nicht empfinden,
aber ich würde ſie nicht entbehren, weil ſie mir ganz unbekannt
blieben; hingegen würde ich auch dafür von allen Leiden befreit
bleiben.
Iſt nicht das Gefühl von gebensluſt das ae, was bei dem
Kinde wach wird? Es reift und wächſt, und bildet ſich aus mit
den wachſenden Jahren des Kindes. Es iſt weit eher vorhanden
in feiner ganzen Starke, als alle Einſicht, Erfahrung und Ver—
nunftüberlegung. Es wird dem Menſchen zum Bedürfniß, und
wenn es das geworden, dann fordert ihr, man ſolle ſich wieder
davon entwöhnen? Warum muß ich das grauſam verlieren, was
der Schöpfer mich erſt lieben lehrte?
Ihr wollet den Leidenden tröften, Er kennt eure Troſtgründe;
boch beruhigen ſie ihn nicht. Hat er ſein Glück durch eigene Schuld
verloren, wohlan, jo möge er ſich abfinden mit ſich ſelber, und
ſprechen: ich habe Niemanden Vorwürfe zu machen, als mir
ſelbſt. Allein, wie wird es, wenn wir ohne unſer Zuthun das⸗
jenige einbüßen müſſen, was das Glück unſers Lebens aus⸗
machte? — wenn heilloſe Böſewichte den Frieden unſers haͤus⸗
lichen Wohlſeins zerſtören? — wenn des Krieges Gräßlichkeit
unſer Vermögen vernichtet, allen Fleiß vergangener Jahre um⸗
ſonſt macht, uns in Bettler verwandelt, in Wittwen und Wai⸗
ſen? — wenn allgemeine Umwälzungen der Dinge uns Stand,
— 356 —
Beruf und Nahrung rauben? — wenn die Hand des Todes uns
dasjenige geliebte Herz am erſten entreißt, an welchem wir am
zaͤrtlichſten hingen? — wenn ſchlechtdenkende Menſchen durch
Spott und Verleumdung uns aus der Achtung unſerer beſſern
Mitbürger und Lebensgenoſſen verdrängen? — wenn uns Mancher⸗
lei niederdrückt und zu Boden reißt, was das Auge keines Sterb⸗
lichen vorausſehen konnte?
Halt ein, Unglücklicher! — Dein Schmerz kann groß, kann
gerecht ſein; aber ſeine Klagen ſind weder groß noch gerecht. Der
Schmerz iſt, wie die Freude, eine Frucht der irdiſchen Natur
deines Weſens, aber das Urtheil darüber ſoll eine Frucht deines
darüber erhabenen Geiſtes ſein. Du kannſt nicht dem Auge die
Thräne, der Wunde nicht das Blut verbieten; doch aber deinem
Geiſte, nicht ſeiner ſelbſt unwürdig zu werden, und dieſem
Schmerze ganz zu unterliegen. Darin beſteht die Kraft eines
weiſen Gemüthes, daß es zuerſt bedenke, wie das Geſchehene
nun einmal geſchehen und nicht mehr zu ändern iſt, — ſo wollte
es Gott! — dann, daß es bedenke, wie aus dem großen Unglück
noch ein größeres Gute zu gewinnen ſei; denn vergebens hat die
Vorſehung nicht über uns verhängt, was geſchah.
Biſt du aber ſo ganz und gar in dein bloß irdiſches, halb⸗
thieriſches Sein verſunken, daß du dich nicht als ein Gottmenſch
zu höhern Geſinnungen erheben kannſt: ſo verdienſt du in der
Fülle deines Jammers unterzuſinken, wie das Thier, welches
ſich nicht über den Schmerz durch Seelenſtärke emporſchwingen
kann. Du beſtimmſt dich ſelbſt, noch elender zu werden, als du
durch dein äußeres Schickſal geworden biſt; denn du beraubſt dich
ſelbſt der Fahigkeit, aus dem Unglücke, fo dich traf, das bleibende
Glück zu ziehen, wie aus der bittern Schale den ſüßen Kern.
Alle Züchtigung, wenn ſie da iſt, dünkt ſie uns nicht Freude,
ſondern Traurigkeit zu ſein; aber darnach wird ſie geben eine
friedſame Frucht der Gerechtigkeit denen, die dadurch geübt ſind.
(Hebr. 12, 11.)
Wer in keinem Andern Troſt finden will, als darin, daß er
fein altes, verlornes Glück zurück erhalte, gibt damit zu erkennen,
ſeine Weisheit ſei höher, als die Weisheit der Vorſehung; denn
ne
dieſe war es, welche ihm, was er hatte, nahm, um ihn in ſchau⸗
derhaften Stunden, darin ſein irdiſches Glück zertrümmern mußte,
von dieſem Leben ab und hinauf zu einem höhern Leben zu ziehen.
Sie war es, welche ihn in ſchrecklichen Augenblicken lehren wollte,
was der Menſch und alles Menſchliche ſei, um ihn feſter an Gott
und das Göttliche zu ziehen. Sie war es, welche ihm das Glück
und Unglück und das ganze Spiel des Erdenlebens zum ſeelen⸗
belehrenden Traum machen wollte, um ihn auf einen höhern
Standpunkt zu heben, von welchem aus er die Nichtigkeit alles
deſſen, was unter dem Monde wohnt, beſſer beurtheilen könnte,
damit fein Geiſt ſich weiſer dem weihe, was unvergänglich iſt,
wie er ſelbſt.
Jedem auf Erden gab Gott das Recht der Freude; er gab es
auch dem kleinſten Gewürme, deſſen Lebenslauf nicht länger als
vom Sonnenaufgang bis zum Abend dauert. Und wem er das
Recht verlieh, dem gab er auch den Genuß. Doch zum Licht ges
ſellte die göttliche Weisheit auch den Schatten, und zu jeder Freude
auch den Schmerz, damit der Sterbliche ſich immerdar erinnere,
daß nicht die vorübergehende Erdenfreude das höchite Lebensziel
ſei, ſondern daß es auch etwas Höheres gebe. Licht und Schat-
ten, Freude und Schmerz wurde aber mit der wunderbarſten Ge»
rechtigkeit und Genauigkeit unter den Menſchen vertheilt, alſo
daß jeder davon gleichviel empfing. Es iſt daher ſchwer zu ſagen,
wer glücklicher oder unglücklicher von uns ſei. Wer am reizbar⸗
ſten für die Freude iſt, der fühlt auch den Schmerz tiefer. Der
Unempfindſamere wird von der Luſt, aber auch von der Unluſt
weniger ergriffen. Was dem Einen viel werth iſt, ihn entzücken
kann, läßt den Andern ganz gleichgültig. Darum ſoll man
ſchlechterdings nicht die Glückſeligkeit der Menſchen nach bloßen
Außendingen berechnen, wenn man nicht in großen Irrthum
gerathen will. Was zuweilen Einer am Andern beneidet, iſt oft
dem, der es beſitzt, eine wahre Laſt und die Quelle alles Leidens.
Nur der ächte Weiſe, der wahre Chriſt iſt im Genuſſe einer
hoͤhern innern Glückſeligkeit, als andere Menſchen. Er iſt es in⸗
zwiſchen nicht ſo ſehr durch äußerliche Güter, die ihm zu Theil
werden, als vielmehr durch die richtigere Anſicht ihres Werthes,
— 358 —
und daß er ſie nie zur Grundlage ſeiner Zufriedenheit macht.
Wer ſchon durch ſein Temperament verhindert wird, das ihm
widerfahrne Unglück allzuſchmerzlich zu fühlen, hat freilich hierin
einen Vorzug vor dem Gefühlvollern, den das gleiche Unglück
faſt untröſtlich macht. Dieſer Vorzug aber wird von der andern
Seite dadurch wieder aufgehoben, daß eben jener Unempfindliche
weniger beglückt durch die Freude wird. Je tiefer du dich alſo
gebeugt fühlſt, je ſicherer erwarte deine Wiedererhebung durch
die Macht der Vorſehung. Je inniger, je herzzerreißender dein
Schmerz, je innigere, ſeelenvollere Freude erwartet dich.
Gott gab dir das empfänglichere Herz, aber nicht für die
Lebensluſt allein; auch für die Noth des Daſeins ſollteſt du es
haben, damit dein Geiſt um fo ftärfere Schnellkraft dadurch er⸗
hielte. Wer eines ruhigen, minder reizbaren Temperaments iſt,
der iſt im Glück und Unglück leichter der Beſonnenheit faͤhig.
Wer von ſeinen Empfindungen allzulebhaft hingeriſſen wird,
bedarf größern Zwanges, ſich über die Macht derſelben zu ers
heben; aber kann er es, dann genießt er auch einer tiefern Fülle
wahrer Seligkeit.
Allerdings iſt der Hang nach Lebensluſt und Wohlſein ſchon
dem Kinde verliehen. Dieſer Hang reift und wächſt mit dem Kinde
auf; das Streben nach Glück wird dem Menſchen Bedürfniß.
Du fragſt: warum müſſen wir das wieder verlieren lernen, was
der Schöpfer uns erſt lieben lehrte? — Aber lehrte er nicht auch
ſchon den Säugling in der Wiege verlieren, was derſelbe liebt?
Hat das Kind nicht feine Thränen, wie der Greis? Iſt das längſte,
wie das kürzeſte Leben von der Wiege bis zum Sarge nicht ein
fortwährender Unterricht in der ewigen Wahrheit: daß auf Erden
keine Luſt, aber auch kein Schmerz von beſtändiger Dauer ſei? —
daß wir zwiſchen beiden dahin wandern, um aus ihrem Wechſel
fie belde gering achten zu lernen? — daß wir, indem uns end⸗
lich beide keine wahre Genugthuung ſchaffen, auf den Gedanken
hingelenkt werden: es müſſe der Geiſt für ganz andere Dinge ge—
boren ſein, als für das wandelbare Spiel irdiſcher Zufaͤlle, und
die wahre Glückſeligkeit muͤſſe in hoͤhern Genüſſen beſtehen, als
in denen welche unſere Umgebungen auf der Erde gewähren?
— 359 —
Wo aber ſollen wir nun dieſe höhern Genuͤſſe, dieſe unzerſtör⸗
bare Heiterkeit und Ruhe des Gemüths aufſuchen, wenn ſie nicht
aus unſern Umgebungen hervorgehen kann? Wir müſſen ſie end⸗
lich in uns ſelbſt, in unſern religiöfen Verhaltniſſen zum Weltall,
zum Hierleben und zur Ewigkeit, zu Chriſtus, zum Vater im
Himmel ſuchen. Wir müſſen fie in unſerer Ueberzeugung von
der namenloſen Weisheit und auch namenloſen Güte Gottes fin⸗
den, der Alles führt; wir müſſen fie in der ſtrengen Vollziehung
unſerer Lebenspflichten aller Art, in der Ausübung jeder Tugend
finden, deren der Menſch fähig iſt. — Nur aus dem erhabenen
Selbſtgefühl unſerer Unſchuld und Tugend mint die reinſte, die
bleibendſte aller Glückſeligkeiten.
Es iſt daher eine gröbliche Vertrrung des Verſtandes, wenn
man geneigt iſt, ſich einzubilden, über ein Leiden, das man ſich
durch eigene Schuld zugezogen, könne man ſich leichter troͤſten,
als über ein unverſchuldetes. — Weißt du nicht, daß es kein
ſchrecklicheres Uebel auf Erden gibt, als dasjenige, welches den
Menſchen zwingt, gegen ſich ſelbſt mit Haß und Verachtung zu
wüthen?
Wer feine Geliebten durch den Tod, feine zeitlichen Glücks⸗
umftände durch Krieg und Stillſtand des Gewerbes, feine Ach—
tung und Ehre durch menſchliche Bosheiten entriſſen ſieht, hat
viel verloren, aber noch nicht die Achtung für ſich ſelbſt. Er
empfindet dies, und einen heiligen Stolz in der Bruſt, ſein
Schickſal unverdient zu tragen. Ihn erquickt die Thraͤne fremden
Mitleids; er erkennt darin noch die Liebe Anderer, wenn gleich
keine Hilfe. Seine Armuth, ſeine Verlaſſenheit wird gewiffer-
maßen ihm um jo mehr zum Triumph, je weniger er ſolche Un—
faͤlle ſich durch eigene Nachlaͤſſigkeit zugezogen hat. Er ſpricht
in ſich mit Ruhe: das war Gottes Wille. — Alle Noth, wenn
ſie da iſt, dünkt fie uns nicht Freude, ſondern Traurigkeit zu fein;
aber darnach wird fie geben eine friedſame Frucht der Gerechtig-
keit denen, die dadurch geübt find. (Hebr. 12, 11.) Der äußere
Menſch kann durch das Unglück tief gebeugt werden; aber der
innere Menſch wird nur ſtaͤrker aufgerichtet, höher, als er je vor⸗
„
her war; er hört endlich auf, vor dem Schickſal zu zittern. Er
fühlt es: Gott iſt mit ihm!
Wir pflegen wohl im gewöhnlichen Leben diejenige Perſon
zaͤrtlicher zu bemitleiden, welche unverdiente Leiden duldet, und
hingegen den weniger zu beklagen, der ſich ſein Unheil ſelbſt an⸗
gerichtet hat. Auch dies hat einen ſehr natürlichen Grund. Wir
empfinden dort noch Liebe, wo hier ſich in das Mitleiden ſchon
Verachtung und Vorwürfe miſchen. Wir ſind in unſern Urtheilen
gern richterlich, und halten ein Leiden für gerecht, wo es uns als
wohlverdiente Strafe erſcheint; hingegen jammert uns die Noth
deſſen, der, wenn das Schickſal immer Lohn und Strafe wäre,
was es doch nicht iſt, wohl ein beſſeres Loos verdient hätte. Doch
wenn der Grad unſers Mitleidens ſich nach dem hoͤhern oder
tiefern Grad des Unglücks der Nebenmenſchen richtete, würden
wir denjenigen gewiß mehr beklagen, der unter ſelbſt verſchuldeten
Leiden ſeufzt. Er iſt immer und immer der Unglücklichere!
Denn ungerechnet ſein äußeres Leiden, quält ihn noch ein
innerer Schmerz, jene Qual des böſen, wider ſich ſelbſt empörten
Bewußtſeins, wovon der Unſchuldige nichts empfindet. Er hat
draußen, was ihm theuer geweſen, verloren; aber nicht dies
allein — er könnte es bei reinem Gewiſſen noch muthig ertragen —
er hat ſeinen eigenen Werth, gleichſam ſein beſſeres Selbſt, ver⸗
loren. Dies iſt der tiefſte Schmerz. Er ſieht ſeine Leiden nicht
als einen Triumph an, ſondern als eine Strafe eigener Schlech⸗
tigkeit; er kann keine Seelengröße zeigen, ſondern die Verachtung
der Schmerzen kann er nur noch durch Frechheit und ſchamloſes
Weſen erkünſteln. Doch dieſes Künſteln iſt ein bitterer Zwang
und ein neues Leiden. In jedem Mitmenſchen, von welchem er
muthmaßt, daß derſelbe von ſeinem Schickſale wiſſe, erblickt er
auch einen Richter, der das gerecht und gut findet, was ihn zu
Boden drückt; und wenn ihn auch ſeine Freunde bedauern, ihr
Mitleiden, ihr Troſt iſt ohne Erquickung für ihn. Immer ruft
es in ihm: ich habe mein Loos ſelbſt verſchuldet; ich könnte glück—
licher fein, wäre ich beſſer geweſen. Sogar die Seelengüte, welche
ſich in dem Mitſchmerz feiner Freunde äußert, muß ihm oft qual—
voll werden, weil er nicht unterlaſſen kann, zu denken, daß ſie
= 361 —
beſſer find als er ſelbſt; oder daß fie eigentlich weniger fein aͤußeres
Unglück, als ſeinen Verſtand und ſein Herz beklagen ſollten.
Darum erhebe dich, o tiefgebeugte, leidende Seele; das ſei
dein Stolz, daß das, was geſchah, nicht die Frucht eines Ver⸗
gehens war. Deine Noth iſt Gottes Werk; du konnteſt ſie nicht
abwehren. So faſſe Muth, deine Noth wird auch Gottes Sache
bleiben! Er iſt reich an Macht und Hilfe. Er wird dir Segen
entſpringen laſſen aus dem, was du für die unverſiegbare Quelle
von Gram hielteſt.
Er will dich nicht verlaſſen noch verfäumen. Das wahre
Gute hat er dir nie entzogen. Aber verlaſſe du jetzt Gott nicht,
verſaͤume du ihn nicht. Halt’ an ihm, dann erſt wird er dich auf-
recht halten mit ſtarkem Arm. Achte gering, was du im Irdi⸗
ſchen verloren; erſt dann wirſt du gewahr werden, wie viel dir
des Guten noch in deinem Innern geblieben iſt. Der Tag, der
ſchreckliche Tag deines Unglücks ſollte für dich der Anfang einer
innern Verklärung werden. Denn das Irdiſche, das Vergäng—
liche oder doch ein Theil deſſelben, das dir bisher nur allzulieb
geweſen, fiel von dir ab, um dir zu zeigen, wie wenig dauerhaft
Alles hienieden ſei. So wird in deiner letzten Lebensſtunde end-
lich Alles von dir abfallen, um deine Verklärung zu vollenden. —
Beginne ſie alſo jetzt, damit der Todesengel etwas zu vollenden
finde. Heilige dein Gemüth in Redlichkeit, Wahrheit, Muth,
Menſchenliebe und allen göttlichen Geſinnungen. Streife deine
letzten Fehler von dir ab, die deine Verbeſſerung hindern. Wirſt
du ein Gotteskind, dann wirſt du nicht untergehen, wenn der
Allmächtige, der Herr des Himmels und der Erde, dein Vater
ſein will.
Und er iſt es! Und was wir Irdiſches einbüßen, vergilt er
himmliſch unſerm unſterblichen Geiſte. Was iſt das ganze Leiden
dieſer Zeit gegen die Herrlichkeit, die er uns bereitet hat in einem
andern Leben? Dort findeſt du zwar das irdiſche Gut nicht wie-
der, das dich hier verließ, aber einen neuen Reichthum ſeiner
Gnade; und die Seelen, die du hienieden liebteſt, o, fie find un-
ſterblich, wie du ſelbſt; ſie vereinigen ſich dort wieder liebend zu
dir. Alles, was wir auf Erden hatten, geht verloren, aber die
III. 16
— 362 —
uns theuern Geiſter finden wir dort wieder, wo der Geiſt der
Geiſter wohnt.
41.
In der Gegenwart leben.
g Matth. 6, 34.
Sei froh des Tags, den Gottes Hand
Dir reicht vom Lebensbaum.
Was morgen kommt, iſt unbekannt;
Was geſtern war, ein Traum.
Iſt es nicht ſeltſam, daß von ſo vielen Lebenden nur wenige
verſtehen, wirklich zu leben? Sie glauben zu leben, weil ſie
wachen, ſchlafen, eſſen, trinken, reden, denken. Aber, genau be⸗
trachtet, leben ſie den geringſten Theil der Zeit, in der ſie da ſind,
ſondern ſie haben gelebt, oder wollen noch leben.
Wir leben freilich auch, wenn wir ſchlafen. Aber wir ſind
uns im Schlafe deſſelben unbewußt. Wir ſind da gewiſſermaßen,
als wären wir nicht. Man kann von demjenigen erſt ſagen, er
lebe ganz, der, was da iſt, mit vollem Bewußtſein erkennt und
genießt. i
Wir leben nicht eigentlich mit dem Leibe, ſondern mit dem
Geiſte, der den Körper beſeelt. So ſind wir im ſtrengen Sinn
des Wortes auch nicht eigentlich an derjenigen Stelle, wo ſich
der Leib befindet, ſondern da, wo unſer Geiſt iſt. Daher können
wir dem Leibe nach in großer Geſellſchaft und dennoch abweſend
ſein, nämlich mit dem Geiſte. Und wir ſagen mit Recht zu einem
geliebten, von uns getrennten Freunde, ich bin faſt befinden a nur
bei dir, und nie bei meinen Gejchäften.
Wer den größten Theil ſeines Tages mit den Gedanken in
der Zukunft lebt, ſich immer voraus mit dem beſchäftigt, was er
in den nächſten Stunden thun will, oder was in den folgenden
Tagen geſchehen wird, vergißt darüber wirklich den Augenblick
der da iſt, und lebt zwar mit dem Leibe in ihm, aber nicht mit
dem Geiſte. Für ihn iſt die Gegenwart wie verloren, wie gar
— 363 —
nicht vorhanden geweſen. So kann man, indem man darüber
mit voller Aufmerkſamkeit nachdenkt, Ort und Umgebung ver⸗
geſſen, wo man ſich befindet. Man ſieht, man hört nichts um
ſich her; die äußern Sinne find gleichſam verſchloſſen, wie vom
Schlaf. |
Es iſt nun freilich wohl als eine Erweiterung des Lebens an⸗
zuſehen, wenn man vermittelſt der Erinnerung oder Voraus⸗
ſehung ſowohl in der längſtverfloſſenen oder zukünftigen Zeit,
wie in der Gegenwart leben kann. Dies iſt ein hoher Vorzug
des Menſchen, und ein Beweis von der Erhabenheit der menſch—
lichen Natur. Denn die Eiche, welche ein halbes Jahrtauſend
lebt, weiß weder von der Vergangenheit, noch Zukunft, noch
vom gegenwärtigen Augenblick. Sie lebt im Grunde gar nicht,
wenn wir ihr Daſein mit dem bewußtſeinvollen des Menſchen
vergleichen. Das Thier ſieht weder in die kommenden Tage hin⸗
aus, noch in die verſchwundenen zurück. Es genießt nur den
kleinen, engen Augenblick des Gegenwärtigen, und mit dem
Augenblick iſt, wie er verſchwindet, deſſen Daſein auf immer für
das Thier vernichtet, als wäre er nie geweſen. Es lebt daher,
auch wenn es hundert Jahre alt würde, eigentlich nur einen
Augenblick. Für Pflanzen iſt das Daſein eine ewige Nacht; für
Thiere ein ſchwach erleuchteter, geringer Punkt um daſſelbe, wo
es ſich eben befindet; für den Menſchen ein ſonnenheller Tag,
in welchem er überſieht, woher er auf ſeiner Straße kommt, und
wohin er noch geht.
Unterdeſſen kann doch, wie alles Gute, auch dieſer Vortheil
der menſchlichen Natur gemißbraucht werden. Es kann geſchehen,
daß wir mit dem Geiſte mehr im Vergangenen und Künftigen,
als im Gegenwärtigen leben; daß wir darüber den beſten Theil
des Lebens ſelbſt verlieren, ihn gar nicht haben. Denn das
menſchliche Daſein beſteht aus einer langen Reihe gegenwärtiger
Augenblicke. So viel wir derſelben über das vergeſſen, was war
oder ſein wird, ſo viele haben wir nicht gehabt. Denn was wir
nicht empfinden und genießen, das haben wir auch wirklich nicht.
Nun aber leben in der That die meiſten Menſchen ſelten in
der Zeit, die da iſt, ſondern mit ihren Planen, Wünſchen und
— 364 —
Sorgen, Hoffnungen und Gedanken in dem, was noch nicht iſt.
Und ſind ſie endlich zu dem Tage, zu der Stunde gekommen, der
ſie ſchon ſo lange entgegenſahen, haben ſie wieder neue Entwürfe
und Beſorgniſſe für das Folgende, und vergeſſen darüber, was
ſie ſo lange erwarteten. Die meiſten Leute ſind einem Spazier⸗
gaͤnger ähnlich, der ſich vornimmt, zu feiner Erheiterung eine
angenehme Gegend zu darchwandern. Gleich anfangs denkt er,
wie weit er gehen wolle, und beachtet bei ſeinen Ueberlegungen
nicht, was beim Anfange des Weges ihn freundlich umringt.
Er geht weiter, neugierig, zu wiſſen, was hinter einem Hügel
ſein wird, der ihm die Ausſicht verdeckt; er kommt dahin, achtet
aber nicht auf die neuen Umgebungen, ſondern auf einen Bach
in der Ferne, den er fürchtet, nicht durchſchreiten zu können, weil
er ohne Brücke iſt. Aber das Waſſer iſt nicht tief; darum macht
ihm dies minder Sorge, als ein ſteiler Fußweg, der über eine
Höhe ſchlüpfrig emporgeht. Sein Wunſch iſt, nur dort oben zu
ſein. Nur dahin iſt ſein Auge gerichtet, nicht auf die liebliche
Wildniß um ihn her. Er kommt zur Höhe, und muß in einen
Wald treten, wo der Pfad nicht recht kennbar iſt. Sein einziger
Gedanke wird: ware ich nur erſt durch das Gebüſch, damit ich
mich nicht darin verirrte. Er durcheilt es mit ſchnellen Schritten,
und ermüdet ſucht er nun den kürzeſten Heimweg zu ſeiner
Wohnung. Er freut ſich voraus, wie er dort der Ruhe pflegen
will. Darum bekümmert er ſich wenig um das, was rechts und
links bleibt. Er iſt im Geiſte ſchon zu Haufe. Er kommt dahin,
und findet Nachrichten, die ihn ſchon wieder um das bedacht
machen, was er thun müſſe. So hat er einen Spaziergang voll—
endet, ohne denſelben zu genießen. Es bleibt ihm nur eine ganz
dunkle Erinnerung von den dort bemerkten Gegenſtänden. Er
war niemals da, wo er war.
Dieſes Leben außer der Gegenwart iſt eine wahre
Geiſteskrankheit; es kann zur Gewohnheit, zur andern Natur
werden. Als ein hoher Grad derſelben kann die Zerſtreutheit des
Gelſtes angeſehen werden. Die meiſten Menſchen leiden an dieſer
Krankheit, und verlieren über das Vorausſorgen für den Genuß
des Lebens den Lebensgenuß. Sie leiden beſtändigen Hunger,
weil fie das Eſſen vergeſſen über das, was fie eſſen wollen. Diefe
Krankheit des Geiſtes raubt uns die reinſten Freuden, welche
Gott uns darbietet, weil wir über ſie weg nach denen ſehen, die
wir noch nicht haben. Sie vermindert auffallend die Summe
unſers haͤuslichen Glückes, weil wir nie im vollen Maße und
mit ganzer Seele bei den lieben Unſrigen ſind, und unbefangen
ihre Freuden, und was eben die erſte Stunde Schönes bringt,
mit ihnen theilen. Darum kann man wohl ſagen: Wirklich zu
leben iſt eine Kunſt.
Jeſus Chriſtus, dieſer göttliche und erhabene Lehrer der
wahrſten Lebensweisheit, ließ dieſen großen Fehler vieler Sterb-
lichen keineswegs unbeachtet. Er mahnte ſehr dazu, man ſolle
in der Gegenwart leben lernen. Sorget, ſprach er, ſorget doch
nicht für den andern Morgen; denn der morgende Tag wird für
das Seinige ſorgen! (Matth. 6, 34.) Fürchtet doch nicht, welches
Ungemach euch der künftige Tag bringen werde, und vermehret
damit nicht das Ungemach, welches ihr allenfalls ſchon habet.
Es iſt genug, daß ein jeglicher Tag ſeine eigene Plage habe.
Gewiß, es iſt nicht unſere eigene Vortrefflichkeit, die uns den
Genuß des Lebens verbittert, ſondern unſere Schwäche. Eben
darum ſprach Jeſus wider die Sucht, das, was wir haben, weg⸗
zugeben für das, was wir nicht einmal wiſſen, ob wir es be⸗
kommen werden. Darum ſorget nicht für den andern Morgen;
genießet den gegenwärtigen Augenblick, und vertauſchet nicht das
Gewiſſe für das Ungewiſſe.
Nie ſchmecken wir das Daſein in vollerm Maße, und die
Gegenwart in ihrer ganzen Kraft ſo ſehr, als in unſern Jugend—
tagen. Das Kind gehört ganz dem Eindruck und der Gabe der
eben vorhandenen Stunde. Es bekümmert ſich um das Ver-
gangene wenig, obwohl es auch daran denkt; betrübt ſich auch
um eine verlorne Freude nicht ſtark, weil es vom anweſenden
Augenblick Erſatz und Entſchädigung annimmt. „Glücklicher
Leichtſinn!“ ſprechen die Bejahrten, wenn fie ſehen, wie das
junge Herz den Schmerz vergißt, ſobald er vorbei iſt; „beneidens⸗
werther Frohmuth!“ rufen ſie, wenn ſie ſehen, wie das Kind
ſich mit einer Kleinigkeit erheitert, und wenig um das harmt, was
— 366 —
noch nicht da iſt, und von dem die Bejahrten in ihrer Weisheit
ſelbſt noch nicht wiſſen, ob und wann und wie es kommt. Er⸗
ſcheint dem Kinde aber die böſe Stunde, ſo zollt es ihr ſeine
Thräne, um von der nachfolgenden wieder Troſt zu nehmen.
Mit dem Aufwachen der Leidenſchaften verfliegt der Frohſinn
der Jugend. Volle Heiterkeit des Gemüths iſt nur Geſellin der
Unſchuld. Der Jüngling und die Jungfrau, auf der Grenze
zwiſchen Kindheit und Männlichkeit, empfinden noch vom Glück.
der erſten, aber auch von der Thorheit der andern. Sie wollen
eigentlich für die Zukunft leben, aber ſie leben ſchon in der Zu⸗
kunft; bauen Plane, und denken, hoffen, fürchten, ſorgen,
wünſchen, können die Zeit nicht erwarten, der ſie entgegenſehen,
und vergeſſen, in vollen Zügen den Becher der Freude zu trinken,
welchen ihnen der Morgen und der Frühling ihrer Lebenszeit
darbietet.
Man wird älter; das Sorgen iſt mit den Jahren zur Ge⸗
wohnheit geworden. Man hat nun auch für Andere zu denken.
Die Verhältniſſe find mannigfaltiger geworden. Nun find andere
Leidenſchaften da, nun die Unruhe des Ehrgeizes, die Begierde
der Habſucht, die Qual des Neides, die Angſt vor Krankheit,
der Kummer um das Alter. Man iſt mit den Gedanken ſchon
immer da, wo man noch nicht iſt; und wo man iſt, findet man
gar nicht das Angenehme, was die Einbildungskraft einſt davon
vorgeſpieglt hatte. Fliegt der Geiſt nicht in die Zukunft hinaus,
ſieht er gern wehmüthig in die verlebten Tage zurück, preiſet die
glücklichen Zeiten einer zu früh verſchwundenen Jugend und den
Verluſt geliebter Geſpielen. Er lebt überall, nur nicht in dem,
was iſt; und die Jahre des Greiſenthums ſind da, ehe man der
Tage männlicher Kraft recht gewahr geworden. |
Der Greis nun beklagt die Flüchtigkeit des Lebens, die Hin⸗
fälligkeit des Menſchen. Alles, was er hatte, gleicht ihm einem
dunkeln Traum; er weiß wenig davon. Aus ſiebenzig Jahren
haben vielleicht kaum ſiebenzig Stunden einen lebhaften, deut—
lichen Eindruck bei ihm hinterlaſſen, weil er in den übrigen
wenig oder gar nicht ihnen ſelbſt, ſondern denen lebte, die noch
nicht waren. Daher weiß er von ſeinen Tagen nichts Anderes
m
zu ſagen, als: fie waren voller Sorgen, und die meiſten derſelben
ganz vergeblich. b
Das iſt die Lebensgeſchichte der meiſten Sterblichen. Sind
wir nicht zu bedauern? Iſt das nicht die Summe der Weisheit,
froher und glücklicher Zeiten theilhaftig zu werden, wirklich zu
leben, was in dem Lehrſpruche Jeſu liegt: Darum ſorget nicht
für den andern Morgen, denn der morgende Tag wird für das
Seine ſorgen! 114
Viele Menſchen wiſſen von ihrem Leben gar nichts
zu erzählen, aus dem natürlichen Grunde, weil ſie es
nicht gelebt haben. Höchſtens wiſſen ſie noch von einzelnen
Vorfällen zu ſagen, die ihnen lebhafter als andere im Gedächt⸗
niſſe blieben. Dieſe Vorfälle find nicht einmal immer die aller⸗
wichtigſten, ſondern oft an ſich ganz unbedeutend. Und doch
denken ſie mit Vergnügen an dieſelben zurück; ſie ſind ſich ſolcher
aber beſonders darum ſo deutlich bewußt, weil ſie damals mit
vollem Bewußtſein und ohne alle Rückſicht auf Anderes dem
damaligen Augenblicke gänzlich angehörten. Auch aus dieſer
Urſache erinnern wir uns aus den Kinderjahren her mehrerer Er—
eigniſſe und Sachen, als aus ſpätern Zeiten, weil wir in der
Kindheit uns ausſchließlich der Gegenwart opferten. Von nach⸗
folgenden Zeiträumen im Jünglings- und Mannesalter haben
nur diejenigen Begebenheiten, oft ſehr geringfügige, die hellſte
Vorſtellung hinterlaſſen, wo wir mit ganzem Gemüthe zugegen
waren, nicht bloß mit dem Körper und getheilter Aufmerkſamkeit.
Weil nicht viele Leute die glücklich machende Kunſt kennen,
das, was der Augenblick gibt, in allen Einzelnheiten zu ſchmecken:
die Kunſt, bei dem mit dem Geiſte gegenwaͤrtig zu ſein, was
gegenwärtig iſt: ſo geſchieht es, das wenige Leute die nützliche
Eigenſchaft der Geiſtes gegenwart bei unerwarteten Ereigniſſen
beſitzen. Gelehrte, und überhaupt Perſonen, die ſich mehr in der
Einſamkeit und mit Gedanken beſchäftigen, weniger mit dem, was
der Augenblick rings um ſie her ſtellt, gerathen daher in der
wirklichen Welt am leichteſten in dieſe Verlegenheit; wiſſen ſich
weder zu rathen, noch zu helfen, und thun oft das Gegentheil
von dem, was ſie hätten thun müſſen. Perſonen hingegen, deren
— 368 —
volle Aufmerkſamkeit das Vorhandene anzieht, die immer für den
Augenblick leben, in dem ſie ſind, zeigen oft von der Geiſtes⸗
gegenwart Wirkungen und Vortheile der bewunderungswürdig⸗
ſten Art.
Es iſt wohl nicht leicht möglich, daß ein Menſch, der es
verſteht, in der Gegenwart zu leben, und, was ſie Gutes hat,
zu pflücken, von Langeweile gequält werde; nur dem wird die
Zeit lang, der die Gegenwart verkennt, weil er weit mehr von
der Zukunft hofft. Kinder haben ſelten Langeweile, weil eine
geringfügige Sache groß genug iſt, fie zu befchäftigen. Eben fo
der Weiſe; nicht weil er ſich Berechnungen und Träumen über-
läßt, oder Hoffnungen und Beſorgniſſen, ſondern weil er in
Allem, was er vor ſich ſieht und hört, noch etwas Vergnügendes
und Belehrendes wahrnimmt. Der Weiſe ſchlürft den Becher
des Lebens in langſamen Zügen tropfenweiſe aus, und wird da=
von durchdrungen. Der gewöhnliche Menſch dürſtet immerfort,
und ſtürzt dann den edeln Geiſtertrank ſtromweiſe hinunter,
ſchmeckt ihn nicht, nene verſchlingt ihn zur Betäubung, nicht
zur Sättigung.
Es hat uns Gott das Gedächtniß gegeben zur Erweiterung
des Lebensgenuſſes, nicht zur Verbitterung deſſelben; zur Nahrung
der Weisheit, nicht der Thorheit. Allein der Sterbliche ſtrebt
nur allzugern das Gegentheil zu verſuchen. Man tödtet die heutige
Wonne mit dem ſchwermüthigen Grämen um die verſchwundene,
und verliert das neu aufblühende Glück in der Sehnſucht nach
dem verlornen. Die gute alte Zeit wird gerühmt, und die gute
gegenwärtige Zeit nicht genoſſen. So beſtiehlt ſich der thörichte
Sterbliche ſelber, und nimmt ſich, was er beſitzt, und gibt es an
ſich ab, wo er nicht mehr iſt.
Lebe für die Vergangenheit, nicht in der Vergangenheit.
Willſt du für ſie leben, ſo mußt du in der Gegenwart ſo
gegenwartig ſein, daß, wenn ſie vergangen iſt, du ihrer immer
noch froh bleibſt. Nur wer die Gegenwart ganz zu genießen ver—
ſteht, dem vergeht ſie nicht gänzlich! Lebe in der Gegenwart, und —
mache fie zu einem Schatze für die Erinnerung. Kannſt du eine
ſchöͤne That hineinlegen, fo lebt der Augenblick, welchen du da—
Be
mit ſchmückteſt, ewig, wenn auch nicht jederzeit in deinen Ge-
danken, doch in ſeiner fruchtbringenden Wirkſamkeit auf deine und
fremde Schickſale.
Lebe für die Zukunft, aber nicht in der Zukunft. Bereite
in der Gegenwart durch Sorgfalt und Vorſicht die Freude für
die noch zu erwartenden Tage. Pflanze und ſaͤe in der Gegen—
wart deine einſtigen Aernten. Du haſt die Freude des Pflanzens;
ob du die Freude der Frucht haben wirſt, kann Niemand wiſſen.
Für den Weiſen hat das Leben gar keinen Winter. Die gegen—
wärtige Stunde iſt für ihn immer Frühling, in welchem er nütz⸗
liche Saaten ausſtreut, und zugleich immer Herbſt, wo ihm
frühere Saaten reif werden. Er nimmt die Sorge, ſie nimmt
ihn nicht. Jede Stunde hat ihr Süßes, ihr Bitteres; jeder Tag
ſeine eigene Plage. Lerne denn, wie die Biene thut, die aus jeder
Blume den Honig zu ſchöpfen weiß, aber das Gift darin zurück—
läßt. Iſt der Tag vorbei, iſt auch ſeine Plage vorüber. Wie
thöricht iſt es doch, fie durch Furcht ſchon aus der Zukunft auf
den heutigen Tag zu bringen, und ſie durch beſtändiges Seufzen
zu verlängern, wenn ſie ſchon der Vergangenheit angehört! Was
aber der gegenwartige Augenblick Böſes bringt, kann nie zu
ſchwer ſein, weil der Augenblick nur ein Punkt in der Zeit iſt.
Nur dann wird ein Augenblick zu ſchwer, wenn man in ihm mit
unnützer Beſorgniß die von Gott auf das ganze Jahr vertheilte
Noth zuſammenfaßt. Gott iſt freundlich und ſchonend; nur die
menſchliche Thorheit iſt grauſam.
Weißt du im Gegenwärtigen für das Vergangene und Künf⸗
tige zu leben, fo. lerne auch im Gegenwärtigen für die Gegen⸗
wart leben. Gehöre ihr mit unbefangener Gemüthlichkeit. Haft
du das Deine gethan wegen der Zukunft, und was zu ordnen iſt,
geordnet: ſo hänge der Sorge nicht weiter nach. Vertraue auf
Gott: er wird zu dem Guten, was du thuſt, den Segen legen.
Erfüllt er deine Erwartungen nicht ſo, wie du ſie hatteſt: gut,
auch das iſt ein Segen für dich! Er hat dir das Beſte gegeben;
aber du kennſt nicht immer das Beſte. Lebe mit harmloſer, Find»
licher Hingebung für die Stunde, die da iſt; für die folgenden
ſorget er weit beſſer, als du. Ringe und ſtrebe doch nicht erſt.
— 370 —
nach Genuß, ſondern genieße. Seufze nicht erſt nach Glück,
ſondern ſei glücklich. Das Glück, welches dir die Stunde ge⸗
währt, in der du lebſt, iſt in derſelben Stunde dir das ange⸗
meſſenſte und beſte. Wenn du es verſchmähſt, haſt du nichts,
und fühlſt dich unglücklich.
Lebe in der Gegenwart, und vergiß dabei, ſo viel du es ver⸗
magſt, was war und was ſein wird. Fürchte nicht, es werde dich
dies allzugeneigt zum Leichtſinn und zu ſchädlicher Sorgloſigkeit
machen. Wahrlich, Vergangenheit und Zukunft drängen uns
ſich von ſelber auf, weil wir unaufhörlich zwiſchen beiden ſtehen.
Um uns ſelber aufrecht zu halten, daß wir nicht ganz in die eine
oder andere verſinken, haben wir genug zu thun, uns ihres
Dranges zu erwehren.
Lebe in der Gegenwart; laß deinen furchtſamen Gram um
das Vergangene, deine vergebliche Furcht und Sorge um das
Mögliche der kommenden Zeiten fahren. Dein Gram belebt das
Todte nicht wieder; deine Sorge löſet das Räthſel der Zukunft
nicht. Freue dich wie ein Kind deſſen, was du eben haſt, wäre
es auch noch ſo wenig. Denn nicht die Sache, ob ſie koſtbar oder
gering iſt, bringt Freude; ſondern das Herz bringt die Freude zur
Sache. Dem Unzufriedenen iſt die ganze Welt leer.
Lerne in der Gegenwart leben, und denke dabei nicht immer
rückwärts und vorwärts, ſondern erheitere dich an dem, was um
dich iſt. Das wird dich genügſam mit dem Wenigſten machen,
und reich, wo die Ungenügſamen arm ſind. Du wirſt mit Er⸗
ſtaunen Freudenquellen finden, wo du ſie vorher in deinem Leben
nie vermuthet hätteſt, und die Thoren verlachen, die nach Ehren
und Gütern, Luſtgelagen und Veränderungen, nach Berühmtheit
und Herrlichkeit rennen, und nirgends finden, was ſie eigentlich
wollen. Denn weil ſie immer in der Zukunft leben und ſuchen,
was doch nothwendig nur in der Gegenwart liegen kann, ſind
ſie gegenwärtig niemals glücklich.
O mein göttlicher Lehrer, Du mein wahrer Seligmacher,
wie oft habe ich das Leben verkannt! Nicht leicht hat mich eine
Betrachtung Deines Wortes ſo tief erquickt, wie die Betrachtung
des Spruches Deiner Weisheit: Sorget nicht für den andern
Rx
Morgen! Ja, oft will ich daran denken, wenn mir eitle Be⸗
kümmerniſſe oder Wünſche das Glück und den Genuß der Gegen⸗
wart entziehen. Amen!
—
42.
Gefahren willkürlicher Träumereien.
Matth. 5, 27, 28.
Wer heilig iſt, der bleib' auch heilig,
Wer fündigt, zittre! — Denn der Herr,
Der uns bereitet hat, iſt heilig,
Und heilig iſt fein Recht, wie er!
Wohl dem, der ſchuldlos, rein und gut,
Sein Bild wird, und was recht iſt thut.
Wer zur Vollendung roher Sünden
Zwar ſeines Körper Kraft nicht leiht,
Gedanken aber und Empfinden
Mit Bildern ſchnöder Luſt entweiht:
Iſt der kein Sünder? und ſteht der
Vor Gottes Auge heiliger?
Gott ſieht, Gott prüft, Gott wäget Alles,
Gedanken, Wunſch, Entſchluß und That,
Der Tugend Werth, den Reiz des Falles,
Der Sünden Keim und ihre Saat.
Wer richtet zwiſchen Finſterniß >
Und Licht, wie Gott, wer fo gewiß?
Mehr oder weniger ſpielt wohl jeder Menſch gleichſam feine
doppelte und dreifache Rolle faſt zu gleicher Zeit. Ein ganz
anderer iſt er im öffentlichen Leben, im Umgang mit Freunden,
Bekannten, Fremden, Vorgeſetzten, Untergebenen. Er ſtellk ſich
ihnen immer, ſo viel er kann, nur von der achtungswürdigſten
Seite dar; iſt begierig, ihnen zu gefallen, eine vortheilhafte
Meinung von ſich beizubringen: ihnen Ehrerbietung einzuflößen.
Er iſt, wenn auch nur dem Scheine nach, beſſer, recht⸗
ſchaffener, liebreicher, ſtrenger in feinen Pflichtverhältniffen. So
wie er, wenn er aus ſeinem Hauſe geht, in ſeiner Kleidung ſorg⸗
fältiger, reinlicher, zierlicher iſt: fo iſt er auch in feinem Betragen
behutſamer, höflicher, in feinen Reden bedachtſamer, überlegter, |
in feinen Handlungen gefälliger und zuvorkommender.
— 372 —
Ganz anders, als außer dem Hauſe, kann der gleiche Menſch
innerhalb ſeiner Wohnung ſein, wo er die Feſttagskleider nicht
trägt, ſondern in der bequemern Haustracht geht. Da iſt er, wie
im Aeußerlichen nachlaͤſſiger, auch in feinen Werken und Worten
weniger vorſichtig. Seine Geſinnungen offenbart er unverhehlter;
gegen ſeine Hausgenoſſen iſt er nicht, wie gegen die Fremden;
oft leider das Gegentheil von Allem, wodurch er Fremden zu ge—
fallen ſucht. Er läßt ſeinen guten und übeln Launen freiern
Lauf; wägt ſeine Worte nicht ab; gibt ſeine Urtheile über Leute,
mit denen er außer dem Hauſe Geſchafte hatte, ohne Rückſicht;
mit einem Worte, er zeigt ſich natürlicher und wie er in der That
beſchaffen iſt, nicht, was er Andern ſcheinen möchte. Wahrlich,
der iſt für einen der edlern Menſchen zu halten, der auch inner⸗
halb ſeiner Wohnung, gegen die allervertrauteſten Theilnehmer
ſeines häuslichen Lebens, nicht anders iſt, als er ſich zeigt; hier
eben ſo dienſtgefällig, freundlich, nachgebend ſpricht und handelt,
als außer dem Haufe; hier in ſeinen Urtheilen und Gefinnungen
über Fremde nicht anders iſt, als er ſich ihnen ſelbſt durch ſein
Benehmen äußerte. — Wie Wenige vermögen dies; wie Wenige
ſind ſo wahr draußen, als daheim bei den Ihrigen!
Aber ſelbſt noch ganz anders, als bei den Ihrigen, ſind end—
lich die Menſchen im Innerſten ihres Gemüths. O, wer iſt rein
genug, ſich in allen Gedanken und Empfindungen feinen ihn um-
gebenden nächſten Freunden, ſeiner Gattin, ſeinem Gatten, ſeinen
Kindern, Geſchwiſtern und vertrauteſten Geſellſchaftern zu offen—
baren! Wer iſt unſchuldig genug, daß er ohne Furcht und Er—
röthen Jedem Alles, was im Verborgenen ſeines Gemüthes zu—
weilen vorgeht, leſen laſſen könnte! Alſo auch gegen unſere mit
uns wohlbekannteſten Geliebten haben wir gleichſam noch eine
verſchönernde Larve nöthig; alſo auch noch Geheimniſſe, die wir
um Alles in der Welt nicht geſtehen würden, gegen die „vor
denen wir dem Anſchein nach gar keine Geheimniſſe mehr haben!
So ſpielt der Menſch, ſelbſt ſogar der beſſere, ſeine Doppel—
rolle. Darum, ſo genau Einer den Andern zu kennen meint,
kennt er ihn doch nie vollkommen. Nur Gott iſt allwiſſend;
darum richtet nur Gott den Sterblichen gerecht. — Nach dem
— 373 —
Leben außer dem Hauſe richtet die Welt; ſie richtet daher meiſtens
nur den Schein; ſie kann nicht wiſſen, aus welchen Abſichten das
Wort und die That kam, die fie beurtheilt. Nach dem zwang⸗
loſern, häuslichen Betragen richtet der vertraute Hausgenoſſe,
und ſchon weit ſtrenger, richtiger, als die übrige Welt. Denn
im Hauſe läßt auch der Schlaueſte oft unwillkürlich die Maske
der Verſtellung fallen, und aus einzelnen Worten und Geberden
ahnen und erſpüren wir ſeinen verborgenſten Sinn. Aber den
innern Menſchen richtet der Allwiſſende. Nur was der Sterb⸗
liche in ſich ſelber iſt, nicht was er von außen ſcheint oder
ſcheinen will, macht feinen Werth oder Unwerth vor dem All-
gegenwärtigen. Aus dieſem verheimlichten Innern hervor gehen
die ausgeſprochenen Urtheile, Befehle, Bitten, Drohungen,
Schmeicheleien, Rechtfertigungen, Klagen. Man vernimmt das
Wort, man ſieht die That, aber die dabei im dunkeln Hinter⸗
grunde des Gemüths verſteckten Abſichten erräth awer Einer
mit Gewißheit vom Andern.
Alſo werde ich von Gott nicht nach meinen für Menſchen hin⸗
geſprochenen Worten, nicht nach meinen äußern Werken, ſondern
nach meinen geheimen Abſichten, nach meinen Geſinnungen, die
kein Menſchenkind erkennt, nach meinen Gedanken gerichtet. Nur
dieſe, welche ſelten andern Perſonen offenbar werden, wie ſie
ſind, können als die wahrhafteſten Aeußerungen meines
Selbſtes gelten. Allwiſſender, der Du die Reihe meiner täglichen
Gedanken klar durchblickſt, Du, vor dem nichts Verborgenes ſein
kann, wie werde ich vor Dir beſtehen!
Ach, wir täuſchen uns nur gar zu oft ſelbſt, indem wir nur
auf unſere Worte und Werke Rückſicht nehmen, wenn
wir in eine Selbſtprüfung eingehen, und unſern Werth und Un⸗
werth vor Gott beſtimmen wollen. Wenn wir einen Tag über
nützlich und arbeitſam geweſen ſind; wenn wir hier einem Armen
Almoſen, dort einem Leidenden Hilfe, einem Andern Troſt,
einem Dritten guten Rath gegeben haben; wenn wir einen unſerer
Gegner gütig behandelten; wenn wir Streit und Zank verhüteten;
wenn wir uns keinen Ausbruch des Zorns, des Hochmuths, des
Neides, der Laſterſucht, des Hohnes vorzuwerfen hatten, keine
= Me.
Lüge ſagten, keinen Betrug begünſtigten: dann ſchon glauben
wir mit unſerm Tagwerk zufrieden ſein zu können! Dann ſchon
erwarten wir von Gott einen huldreichen Richterſpruch! —
Elende Selbſtverblendung! Als wenn das Auge des Allwiſſenden
nur gleich menſchlichen Augen unſere Werke fähe, nicht auch
die Gedanken, welche dabei waren! Nein, Gott richtet das Ge⸗
müth und deſſen ſtille Handlungen, die kein Ohr ſonſt ver⸗
nimmt, kein Auge ſonſt ſieht. — Am allerwenigſten fündigt der
Menſch mit Werken; am allermeiſten ſündigt er mit den ſtillen,
nie ausgeſprochenen Gedanken! i
Inzwiſchen gibt es Viele, die ſich wohl einbilden, was
Andern keinen Schaden thue, ſei auch keine Sünde. Sie er⸗
lauben ſich daher im Stillen Arges zu denken und zu wünſchen;
genug, daß ſie in dem wirklichen Leben keine Hand dazu bieten.
O, die Betrogenen! Sie haben das Verbrechen wirklich verübt,
nicht vor Menſchen (denn fie hatten Scheu verrathen, um be⸗
ſtraft zu werden), ſondern vor Gott, vor welchem ſie ohne Scheu
und Scham waren (als wenn ſie Gottes Gerechtigkeit leichter,
denn die menſchliche, beſtechen könnten!) — Sie haben das Ver⸗
brechen wirklich vollzogen, indem ſie mit ihren Gedanken zwar
Andern kein Böſes in der Wirklichkeit zufügten, aber dagegen
ſich ſelber in ihrem Innerſten mit fündlichen Neigungen und
Gefühlen beſudelten, und dadurch auch zur Ausübung des Böoſen
wirklich reifer machten.
„Ihr habt gehört,“ ſprach Jeſus Chriſtus, „ihr habt ge⸗
hört, daß zu den Alten geſagt iſt, du ſollſt nicht ehebrechen. Ich
aber ſage euch, wer ein Weib anſiehet, ihr zu begehren, der hat
ſchon mit ihr die Ehe gebrochen in feinem Herzen!“
(Matth. 5, 27. 28.)
Es begegnet nicht ſelten, daß man in müßigen Augenblicken,
etwa wenn man allein iſt, auf einſamen Spaziergängen, oder in
ſchlummerloſen Stunden der Nacht, oder ſonſt, ſich den Spielen
feiner Gedanken überläßt. Man findet Vergnügen an den
Gaukeleien ſeiner Einbildungskraft; und ſo wie uns zuweilen
im Schlaf angenehme Träume Ergotzung bringen, ſchaffen wir
—
uns auch wohl wachend willkürliche Träumereien von dem, was
uns gefällig iſt.
Wir pflegen dergleichen Träumereien insgemein für ſehr un⸗
ſchuldig zu halten, nennen ſie Luftſchlöſſer, welche wir bauen,
die uns ſo lange unterhalten, als ſie dauern; wir entwerfen
Plane, die wir im Ernſt nicht ausführen möchten, und halten
Geſpräche in Gedanken mit Perſonen, die wohl nie geſprochen
werden. Weil das Alles ſehr unſchadlich ift, machen wir uns
deswegen kaum Vorwürfe. Von ſolchen Träumereien glauben
wir keine Verantwortlichkeit zu haben; es wäre denn, daß wir
wirklich in unſern Gedanken Entwürfe zum Schaden Anderer
ausſpännen, und fie zu vollſtrecken Sinnes wären. Dieſe
ſcheinen uns allerdings nichts weniger als ſchuldlos zu ſein. Der
böfe Anſchlag, welchen wir faſſen, iſt ſchon die Hälfte der böfen
That, ſie möge nachher erfolgen oder nicht. Hingegen ein bloßes
Tändeln der Einbildungskraft, ohne allen andern Zweck, als
einen Augenblick lang zu vergnügen, eine vielleicht langweilige
Viertelſtunde abzukürzen, möchten wir kaum verdammen. Und
bei allen Prüfungen unſers Herzens am Abend, oder im Gebet
vor Gott, fällt uns vielleicht ſelten bei, auch jener Traͤumereien
zu gedenken; und unter allen guten Vorſätzen, die wir vielleicht
beim Antritt eines Tages, oder im Gebet vor Gott faſſen, iſt
wohl ſelten auch der Vorſatz, in willkürlichen Träumereien, die
wir uns bereiten könnten, aufmerkſamer auf uns ſelbſt zu fein.
Aber dieſe Träumereien beſtehen aus Gedanken; jeder dieſer
Gedanken iſt eine Handlung unſers Gemüthes; jede dieſer in
unſerm Innern hervorgehenden Handlungen beweiſet, wie wir
wirklich beſchaffen ſind, welche Neigungen wir heimlich haben,
und was wir zu thun fähig ſein würden, wenn alle aͤußern Um⸗
ſtände dazu günſtig waͤren. Und dies unſer Inneres, unſer
Ich, wie es wahrhaft iſt, nicht wie es unter der Erlaubniß äußerer
Umſtände erſcheint, dies richtet Gott!
Und iſt es in ſeinen Spielen der Einbildungskraft wohl immer
ſo unſchuldig, als wir gern geneigt waͤren, uns zu überreden?
Wer konnte und möchte wohl das, was er zuweilen bei ſich dachte,
ganz wörtlich, und ohne alle Verhehlung, einer Perſon, vor der
— 376 —
er wahre Hochachtung hat, erzaͤhlen? Wie Mancher wuͤrde, wenn
ſeine nach eigener Willkür gemachten Träume einem Andern ganz
deutlich wären, nicht ſchamroth werden? Wie? und wir werden
nicht ſchamroth vor dem allwiſſenden Gott, der die Gaukeleien
unſerer heimlichſten Gedanken und Wünſche ſah? Wir erröthen
nicht vor uns ſelber, daß wir uns geſtatteten, etwas Unwürdiges
zu denken, uns im Stillen damit ſelbſt zu entehren? Wer die
Achtung für ſich verloren hat, daß es ihn nicht mehr ſchmerzt,
ſich zu entweihen; wer die Achtung vor Gott verloren hat, daß
er ohne Scheu vor ihm Luſt am Sündlichen in Träumereien
zeigt — wahrlich, der iſt nur ein Heuchler vor menſchlichen
Augen, kein Gotteskind; der iſt, was Jeſus von den Phariſäern
ſprach, ein übertünchtes Grab, welches innerhalb voller Moder
und Verweſung iſt.
Ja, auch dieſe leichtfertigen Gedankenbilder, in welchen wir
uns an Gegenſtänden ergötzen, die entweder unerlaubt ſind, oder
unerlaubte Begierden erregen, find ſündlich; dieſe fo unſchaͤdlich
ſcheinenden Träumereien haben ihre Gefahren. Sie machen unſer
Gemüth in der Stille mit dem, was Unrecht iſt, vertraut; ſie
gewöhnen uns an das Anſchauen des Schlechten, und verderben
damit unſern Geſchmack für das Edlere; ſie machen das Schänd⸗
liche allmälig einheimiſch im Heiligthum unſers Gemüthes, wo.
es ein ewiger Fremdling fein ſollte. ö
Man muß nicht erſtaunen, daß junge Leute, welche die aͤußer⸗
lich beſte Erziehung genoſſen hatten, welche von den trefflichſten
Grundſätzen durchdrungen ſind, ſich wirklich die ſchönſten Vor⸗
ſätze gemacht hatten, ganz plötzlich und unerwartet aus der Art
ſchlagen konnten, ſobald ſie ſich ſelbſt überlaſſen waren. Ach,
daß ſie in Ausſchweifungen übergingen, geſchah nicht ſo ſchnell,
als wir glauben: ihre Einbildungskraft war ſchon weit früher
vergiftet; ſie hatten ſchon Vergnügen an Vorſtellungen des Un⸗
anſtändigen genoſſen. Ihr beſſeres Selbſt ſträubte ſich freilich
gegen That und Wirklichkeit, aber — das Herz war auc win,
und die böſe Begierde erwachte. |
Wie der Menſch in feinen verborgenſten Neigungen iſt, ſo
denkt er, ſo ſchafft er ſich auch wachend Traumbilder. Wer in
*
— 377 —
Gedanken an verbotenen Früchten ſchwelgt, die er viel zu redlich
iſt in That und Wirklichkeit zu rauben, macht ſich eine frevelvolle
Freude, und unterhandelt wirklich ſchon mit dem Verbrechen ſelbſt.
Es fehlen nur äußere Umftände und Begünſtigungen, die Schand—
that zu vollbringen. Treten bequeme Gelegenheiten ein, ſo wird
die Begierde eilen, das wirklich zu gewinnen, wovon ihr bisher
in reizenden Einbildungen nur der Vorſchmack erlaubt ward.
So bereiten demnach ſelbſt geſchaffene Träumereien
ſehr oft das Gemüth zur Auübung einer Sünde vor,
der es ſonſt ganz fremd war, und die es erſt in unanſtändigen
Vorſtellungen allmälig lieb gewann. Und wie manche Perſon,
die öffentlich weder des Ehebruchs noch der Hurerei ſchuldig iſt,
aͤußerlich in Keuſchheit und Sittſamkeit Andern als Muſter gelten
könnte, noch vor Zweideutigkeiten erröthet, und ſich ſchamhaft
vom Unanſtändigen wegwendet, iſt zum Verbrechen reif, hat es
in der Einbildung ſchon vollbracht. In ungeziemenden Traͤu—
mereien ward die Reinheit des Herzens befleckt, ging die Unſchuld
des Gemüths vor Gott verloren! — Vertraut mit dem Laſter
durch die Gedanken, befreundet mit ihm in unzüchtigen Vorſtel⸗
lungen, iſt der Abgrund der Schandthat nahe genug, um beim
erſten verleitenden Augenblick hinabzuſchwindeln. „Ihr habt ge⸗
hört, daß zu den Alten geſagt iſt, du ſollſt nicht ehebrechen. Ich
aber ſage euch,“ ſprach Jeſus, „wer eine Perſon anſiehet, ihrer
zu begehren, der hat mit ihr ſchon die Ehe gebrochen in ſeinem
Herzen, iſt Wollüſtling, iſt Verführer, iſt Sünder vor Gott,
von der Unſchuld abgewichen!“
Das iſt die Gefahr jener unſchaͤdlich ſcheinenden Traͤumereien,
in welchen ſich unſere unanftändigen Neigungen erlauben, mit
dem, was Unrecht iſt, zu ſpielen. In dieſem Spiele gewinnen
ſie größere Stärke und Macht über das Herz; in dieſem Spiele
feſſeln fie unmerklich den beſſern Willen, und blenden den Ver⸗
ſtand, daß er die Gefahr ſelbſt nicht mehr wahrnimmt. So ganz
unſchädlich es auch zu fein ſcheint, wenn ſich zum Beiſpiel Je-
mand, der auf ein Amt Hoffnung hat, in müßigen Augenblicken
an den Vorſtellungen von ſeiner künftigen Würde ergötzt, wie
er da Aufſehen erregen, wie er da den Neid von Dieſem oder
— 378 —
Jenem wecken werde, wie er da über ſeine Feinde triumphiren
könne: fo find doch alle dieſe kindiſchen, lächerlichen, oft ganz
vergeblich geſchehenen Einbildungen traurige Uebungen des Stol-
zes, der Eitelkeit und der Schadenfreude. Dieſe Uebungen ſtärken
und reizen nur die ehemals ſchwache Neigung zur Hoffart; und
wenn das Amt und die Würde auch nicht gewonnen wird, bleibt
doch die leidenſchaftliche Lüſternheit nach Aufſehen-Erregen und
Neid⸗Erwecken zurück.
Und wenn man auch ſelbſt über die Spielereien der Einbil⸗
dungskraft ſpottet, und es Luftſchlöſſerbauen heißt; wenn man
eine reiche Erbſchaft oder ein großes Loos in Lotterien, oder einen
andern glücklichen Zufall erwartet, der die Glücksumſtände ver⸗
beſſern ſoll; wenn man ſich da vorträumt, wie man dann ſeine
Wohnung verſchönern, ſeinen Tiſch mit feinen Leckerbiſſen füllen
wolle; wie man in Geräth und Kleidung glänzen, die Bewun⸗
derung aller Bekannten ſein und von hohen Perſonen mit Be⸗
gierde werde aufgeſucht werden: dennoch ſind dieſe und andere
Tändeleien der Phantaſie gefährlich. Sie erfüllen unbemerkt das
Herz mit Wuͤnſchen höchft entbehrlicher Dinge; fie entwickeln die
Luſt an Prachtaufwand, den Hang zum Reichwerden und Geld⸗
gewinnen immer mehr; ſie machen mit dem, was Gott verliehen,
unzufrieden, und rauben uns den ungetrübten Genuß vom Glück
gegenwärtiger Verhältniſſe.
Nicht genug dies; noch andere geidenſchaften werden zuletzt
dadurch erzeugt, die ohne dies vielleicht nicht laut geworden
wären. Wer ſich in feinen Vorſtellungen den Beſitz großen Reich-
thums oder Anſehens vorſpiegelte, der ihm durch Ehrenſtellen,
unvermutheten Gewinn oder anſehnliche Erbſchaften zufallen
könnte, und nachher in feinen Erwartungen jehmählich getäuſcht
ward, wird ſich kaum des Neides und der Schmähung gegen die
erwehren, welchen die Würden oder Loos oder Erbſchaften zu
Theil geworden find; wird ſich kaum enthalten können, mit feinem
eigenen Schickſal zu grollen und wider Gottes allweiſe Vorſehung
zu murren.
Es ließen ſich unzählige Beiſpiele aufftellen, aus welchen
deutlich würde, wie nachtheilig für Unſchuld, Einfalt, Ruhe und
„ U
Zufriedenheit des Herzens ſelbſtgeſchaffene Träumereien find; wie
ſie an ſich anfangs ſchuldloſe Neigungen wecken, und zu einer
verderblichen Herrſchaft über das Gemüth erheben; wie ſie un⸗
ſerer Thätigkeit oft ein Ziel vorſetzen, nach en wir niemals
ſtreben ſollten.
Sei es doch, daß dergleichen ergöͤtzliche Trümmern in müſ⸗
ſigen Augenblicken hundert- und noch hundertmal ohne Folge
blieben, eben ſo ſchnell vergeſſen, als vergangen waren; aber
dieſes hundert- und hundertmal Geträumte hat durch ſeine allzu=
häufigen Wiederholungen beurkundet, daß es ſchon ſeine Macht
auf dich geübt hat; daß ſchon in dir eine unedle Leidenſchaft da⸗
durch zu deinem frühern oder ſpätern Nachtheil genährt worden
iſt, und noch immer mehr geſtärkt wird; daß du nicht mehr in dir
jo frei, jo rein, fo edelmüthig und löblich biſt, als du von außen
ſcheinſt; daß du ſchon oft vor Gott ſündigteſt, wenn dich die
Menſchen noch für gut und laſterfrei hielten.
Gott richtet den Sünder! Gott richtet nicht ſeine äußern Tha⸗
ten allein, ſondern die vor fremden Menſchen verborgenen Tha⸗
tenquellen im Gemüth. Gott richtet den Sünder! Gedanken ſind
ſtille Thaten, die Verbrechen der Einbildungskraft ſtumme Sünden!
Meide alle fruchtloſen, mit Fleiß dir gemachten Täu⸗
ſchungen der Einbildungskraft; alle willkürlichen Träu⸗
mereien vom Glück, das aus geſtillten ſinnlichen Begierden und
Wünſchen hervorſteigen könnte. — Schon ſich ſelber täuſchen
wollen, gehört zu den Thorheiten des Lebens; und das ganz
Unnütze denken, heißt eine Zeit verſchwenden, in welcher das
Nützlichere hätte gedacht werden müſſen; eine Zeit, deren Verluſt
mit keinem Gut der Welt gekauft werden kann.
Meide willkürliche Traͤumereien vom Vergnügen an
erfüllten Hoffnungen und geſtillten Begierden. Eben
dadurch werden deine Hoffnungen dein Verderben, und deine
Begierden dir zum Sporn des Böſen. Vielleicht haſt du ſelbſt
ſchon mehrmals die ſchädlichen Folgen erkannt. Wandelt dich
die Luſt an, dich an Bildern zu ergötzen, die deiner Unſchuld,
deiner Beſonnenheit, deiner Genügſamkeit und Ruhe Gefahr
bringen, — zerſtreue dich! ermanne dich! und verachte es, am
3
bloßen Kitzel der Einbildungskraft Gefallen zu finden; rufe dei⸗
nen Verſtand auf, und erwäge, ſtatt der Luftſchlöſſer Herrlich⸗
keit, die ernſthaften Verhältniſſe deiner wirklichen Umſtände.
Meide willkürliche Träumereien, wenn du deiner
ſelbſt mächtig bleiben willſt. Denn je öfter du dich mit ihnen
beſchaͤftigeſt, je dringender werden fie zu dir zurückkehren; je
mehr die Begierde mit Vorſpiegelungen gereizt wird, je gebiete
riſcher fordert ſie Erfüllung. Du ſelbſt wirſt ihr Sklave, wirſt Ehre,
Unſchuld, frohes Gewiſſen und Lebensruhe ihr hinwürgen müſſen.
Ach, Allwiſſender! ſchamvoll ſenke ich meine Augen vor Dir
nieder. Nur allzuoft überließ ich mich den Spielen ſelbſtgebil⸗
deter Träumereien, die zum Vergnügen eines Augenblicks er⸗
funden wurden, aber ſich mit manchem unreinen Gedanken ver-
miſchten, manchen Hang zum Ungerechten in mir lebendig machten.
Ich war tief genug ſchon geſunken, wenn ich das Unbillige billigte
in meinen Vorſtellungen, und vergaß, daß Du der Allgegen-
wärtige ſeieſt, vor dem kein Geheimniß iſt im ſtillen Handeln
unſerer Leidenſchaften. Herr, wer kann zahlen, wie oft er vor
Dir fehle?
Der geringſte Theil meines Lebens iſt oft derjenige, in welchem
ich meine Denkart durch Handlungen offenbare; den allergrößten
Theil des Lebens füllen dagegen meine Vorſtellungen, ſtillen
Urtheile und die Geſpinnſte der immer thätigen Einbildungskraft
aus. Und ach — bei weitem auf den größten Theil meines Le—
bens verwendete ich bisher die kleinſte Aufmerkſamkeit! O wie
oft mußte ich Dir durch meine Geſinnungen mißfallen! Wie viel
von meinem eiteln und ſchädlichen Geträume habe ich wieder ver—
geſſen! Aber, haſt auch Du es vergeſſen, richtender Gott! Und
hat dies ſcheinbar flüchtige Getraͤume nicht nachher noch feinen
ͤ—— Me Ä n *
verderblichen Einfluß auf meine übrigen Urtheile, Gefühle und
Thaten gehabt, und ihnen eine beſondere Richtung gegeben.“
O Vater, ich habe ſchwer vor Dir geſündigt. Ich komme |
zu einer Erkenntniß von Schulden, deren ich bisher im Leben gar
wenig gedacht habe. Vergib! barmherziger Gott, vergib auch,
was ich vielfältig, allen Menſchen verborgen, im Herzen geſün—
digt habe! Mit Erkenntniß der Schuld verbindet ſich meine auf
en
richtige Reue, und mit der Reue der Eniſchluß, vorfichtiger auf
dieſes Gaukelſpiel ſelbſtgemachter Traͤumereien zu wachen, die
jeden vernünftigen Menſchen entehren, und auch den tugendhaf—
teſten in Gefahr und Sünde bringen können. — Stehe mir,
Gott, bei mit Deiner heiligen Kraft. Amen.
43.
Selbst gef 4 lligkeit.
Tobias 4, 14.
Herr, was ich Gutes habe,
Iſt Deine milde Gabe;
Nichts iſt mein Eigenthum.
Für das, was ich beſitze,
Wodurch ich Andern nütze,
Gebührt nicht mir, nur Dir, der Ruhm.
Sowohl Verſtand als Kräfte
Zum nützlichen Gefchäfte
Hab' ich von Deiner Huld.
Dein iſt's, wenn gute Thaten
Dem Vorſatz wohl geratben.
An Fehlern bin allein ich Schuld.
Sollt' ich mich nun erheben,
Wenn mir in dieſem Leben
Viel Gutes widerfährt?
Was hat Dich, Herr, bewogen,
Daß Du mich vorgezogen?
Bin ich wohl jemals deſſen werth?
Es gibt eine Untugend, welche nicht ſelten das Eigenthum übri⸗
gens rechtſchaffener und verſtändiger Perſonen iſt, und wodurch
ſie, wie wir täglich wahrnehmen, ſich ſelber vielen Schaden
zufügen, ohne es zu wiſſen; ja, es ſind eben nur Perſonen,
welche ſich gewöhnlich durch Geiſtesvorzüge auszeichnen, die in
ſolche Untugend verfallen, und va dieſelbe beinahe allen ihren
Werth verlieren.
Diieſer Fehler iſt von fo a Art, daß man dafuͤr kaum
noch den rechten Namen im Gebrauch hat. Es iſt ein allzuleb⸗
haftes und immer geſchäftiges Bewußtſein von Geiſtesgaben, die
man hat, und eine daraus entſpringende, immer kitzelnde Begierde,
— 382 —
dieſe Vorzüge bei jeder Gelegenheit fühlbar werden und von An⸗
dern anerkennen zu laſſen. Es iſt nicht ſowohl ein Streben, An⸗
dern gefallen zu wollen, als vielmehr ein allzugroßes Gefallen,
was man an ſich ſelbſt hat. Darum möchte ich dieſe Untugend
Selbſtgefälligkeit heißen. f
Dieſe Selbſtgefälligkeit eines Menſchen iſt ſehr verſchieden g
von dem edeln Bewußtſein eigenen Werthes, welches auch
|
3
— A
der Chriſt, der Weiſe haben kann, und fogar haben muß, um
ſtandhaft in der Tugend zu bleiben. Das Selbſtgefühl unſers
innern Werthes beſteht in Ueberzeugung von der Rechtſchaffen⸗
heit unſerer Geſinnungen und Abſichten, wenn fie von der Uun⸗
wiſſenheit oder Bosheit der Menſchen verkannt werden. Der
Weiſe hat keinen Stolz auf ſeine Verſtandesvorzüge, denn er
weiß, daß er die Gaben des Geiſtes nur dem Urheber ſeines Le⸗
bens zu danken hat. Aber in die edelſte, gottgefälligſte Anwen⸗
dung dieſer Gaben ſetzt er einen hohen Werth. Er läßt ſich weder
durch Verachtung und Spott, noch durch Hinderniſſe böswilliger
Menſchen in der richtigen Anwendung ſeiner Kräfte irre machen.
Nicht äußere Vorzüge, nicht glänzende Einbildungskraft, nicht
Scharfſinn, Witz und Geſchicklichkeiten verleihen Werth vor Gott,
ſondern nur frommer Muth und tugendhafter Wandel. |
Wer auf eigene Einfichten und Fähigkeiten allzuhohen Werth
legt, der hat keineswegs das richtige Selbſtgefühl ſeiner innern
Würde, ſondern Stolz, ſo wie derjenige, welcher ſich auf ſeine
äußern Vorzüge zu viel einbildet, nur Eitelkeit hat. Der Stolz
entſpringt aus der übertriebenen Meinung vom Umfange der
eigenen Kräfte, und äußert ſich durch Geringſchätzung derjenigen,
welche weniger haben oder zu haben ſcheinen. Die Eitelkeit thut
ſich auf den Beſitz äußerer Glücksgüter zu gut, auf körperliche
Anmuth und Zierlichkeit, auf Pracht in Kleidern, Wohnungen,
Hausgeräthen, auf gewiſſe erworbene Geſchicklichkeiten, die man
gern zur Schau ausſtellt. |
Man kann ſtolz fein, man kann eitel fein, ‚ohne deswegen
ehrgeizig zu ſein. Ehrgeiz iſt Streben nach großen Auszeich—
nungen vor andern Menſchen, und Unzufriedenheit mit dem Ruhm,
oder Lob, oder Anſehen, welches man wirklich erworben hat. Mit
ſchon gewonnenen Auszeichnungen und Würden ift nur der Hoch⸗
müthige zufrieden. Er wähnt ſich am Ziel, und will nun die
Frucht ſeines Glückes in vollem Maße durch Genuß von Ehrer⸗
bietung haben, die ihm andere Menſchen leiſten ſollen. Der Ehr⸗
geizige kann ſehr beſcheiden ſein; der ER, kann es in der
That nie ſein.
Von allen dieſen unterſcheidet ſich der Selbſtgefaͤllige durch
ſein Thun und Laſſen, ob er gleich von jenen Fehlern mehr oder
weniger mit ſeiner Unart verbinden kann. Er iſt ſich ſeiner Klug⸗
heit und Verſtandeskräfte beftändig bewußt; immer, bald trotzig,
bald ſchmeichelnd, bald offen, bald heimlich, bemüht, ſich bei
Andern angeſehen und gültig zu machen; iſt darin vom Stolzen
verſchieden, daß dieſer ſchon mit dem bloßen Bewußtſein von
Kraft und Geiſtesvorzügen zufrieden iſt, und ſich in Gering-
ſchätzung minder vorzüglicher Perſonen behagt. Der Selbſtge—
fällige hingegen fürchtet immer, zu wenig anerkannt, zu wenig
nach Verdienſt geſchätzt zu ſein. Er will daher herrſchen, Alles
machen, Alles entſcheiden, in Allem das Wort führen, in Allem
der Erſte ſein, um von Andern eben ſo ſehr bewundert zu wer⸗
den, als er ſich ſelbſt bewundert.
Es iſt denkbar, daß er auch eitel fein könne. Aber er will
nicht, gleich eiteln Perſonen, nur durch das Aeußere gefallen.
Er iſt vielleicht weder fehön, noch reich, noch geſchmackvoll genug,
um durch die Außenſeite zu gefallen. Ja, er kann ſogar Geſtalt,
Kleidung und alle Umgebungen vernachläſſigen, um dagegen
ſeine Geiſtesüberlegenheit deſto heller glänzen zu laſſen, in die er
allein verliebt iſt, und die er von aller Welt geliebt ſehen möchte.
Dabei iſt es ihm vielleicht nicht, wie dem Ehrgeizigen, um Er⸗
reichung öffentlicher Auszeichnungen und weit verbreiteten Ruhe
mes zu thun. Er kann Klugheit oder Bequemlichkeit genug haben,
um die Dornen zu ſcheuen, welche gewöhnlich auf der Bahn ir⸗
diſcher Ehren den Wandler verwunden, und die der von Ehr⸗
\ geiz Beſeelte nicht fürchtet. Nein, der Selbftgefällige, ohne des⸗
wegen in albernen Hochmuth zu verfallen, iſt ſchon zufrieden,
wenn ihn nur alle Perſonen, mit denen er unmittelbar zu thun
hat, als den vortrefflichſten Kopf anerkennen; nur was er fpricht,
*
— 384 -
für das Beſte halten; nur feine Leitung annehmen wollen. Er,
in beſtändiger Bewunderung und Hochſchätzung feines Verſtan⸗
des, ſeiner Klugheit und Einſicht, fordert auch von Andern nichts,
als dieſe Bewunderung, und hält dafür, man We ihm dann nur
erſt Gerechtigkeit widerfahren.
Um feinen höchften Zweck zu erreichen, um 9 85 ſeinen Bekann⸗
ten fo glänzend an Geiſteskraſt zu erſcheinen, als er ſich ſelbſt in dem
Spiegel erblickt, welchen ihm Eigenliebe taͤglich vorhält, ſpielt er
alle Rollen, macht alle Umwege. Er iſt bald abſprechend, bald
demüthig, bald vorſichtig; bald für gemeinnützige Gegenftände
in heiligem Eifer, bald deren vornehmſter Gegner; bald frei⸗
geiſteriſch, aufgeklärt witzelnd, des Heiligſten ſpottend, bald frm⸗
melnd, andächtelnd. Er iſt nichts für die Sache ſelbſt, Alles
nur, um Bewunderung zu ärnten von denen, mit welchen er zu
ſchaffen hat. Er thut, was gerecht, gut und ſogar edel iſt, nicht
aber der Tugend willen, ſondern in ſeiner Selbſtgefälligkeit die
Bewunderung der Andern zu ärnten. Dieſe Begierde, ſo gern er
ſie auch verhehlen möchte, wird immer wieder in ſeinen Aeuße⸗
rungen ſichtbar; fie verräth ſich in feiner Vorliebe für die, welche
ſeiner Geiſtesüberlegenheit huldigen; in ſeinem herben Urtheil gegen
die, welche ſich entweder derſelben nicht unterwerfen, oder wohl
gar ähnliche Anſprüche auf Bewunderung machen, wie er ſelbſt.
Er iſt kein groͤßerer Gegner von den Leuten ſeiner Bekanntſchaft,
als von ſolchen, die ihm in ſeiner Unart gleich ſind. Er findet
fie ſelbſtſüchtig, einbildiſch, herrſchſüchtig, ungerecht, und im Um⸗
gang unverträglich.
Der Selbſtgefaͤllige, wo er auch ſtehe, was ihm auch begeg—
. r
nen möge, vergißt ſich niemals über etwas Anderes. Er iſt ſich
ſelber jederzeit der Erſte, der Wichtigſte. Jede Kleinigkeit von
dem, was er hat, denkt, thut, ſcheint ihm bedeutender, als das
Wichtigſte, was Andere angeht. Im Geſpräch wird er überall
gern, wenn gleich mit ſorgſamer Beſcheidenheit, ſein geliebtes
Ich anbringen, von ſich erzählen, von ſeinen Erfahrungen,
feinen Anſichten, feinen Hoffnungen ſprechen, und keinen Um-
ſtand unbenutzt laſſen, um ſein Ich von allen Seiten darzuſtellen,
damit man es eben ſo liebe, ſo preiſe, wie er es in ſeinen Ge—
= Bl =
danken ſelbſt thut. Er wird empfindlich gekränkt, wenn man in
Geſellſchaften irgend einem Verdienſte anderer Perſonen Gerech⸗
tigkeit und Lob zollt, ohne zugleich durch einen Seitenblick auf
ihn zu verſtehen zu geben, daß man feinen höhern Werth voll⸗
kommen zu würdigen wiſſe.
Die unmäßige Selbſtgefälligkeit und thörichte Verehrung
eigener Geiſtesvortrefflichkeit iſt oft der Fehler von Leuten, die
allerdings ſowohl wegen ihres Verſtandes als Herzens ſehr ſchaͤtz⸗
bar ſein können. Aber indem ſolche Neigung, immer nur auf
ſich ſelbſt zu ſehen, immer nur auf Huldigung erpicht zu ſein,
endlich im Gemüthe vorherrſchende Leidenſchaft wird, verdunkelt
und entwerthet fie auch die andern löblichen Eigenſchaften. Leiden⸗
ſchaft, das heißt, eine gewaltige Neigung, welche den beſſern
Willen feſſelt, die Klarheit der Vernunft trübt, und allein Haupt⸗
quelle unſerer Geſinnungen und Beſtrebungen werden will, iſt
Sünde. Denn nur Vernunft, nur das Geſetz Gottes, nur eine
reine Liebe zu Gott und Menſchen, mehr denn Died zu uns ſelbſt,
ſoll uns regieren.
Hoffart laß weder in deinem Herzen, noch in dei—
nen Worten herrſchen, denn ſie iſt ein Anfang alles
Verderbens. (Tob. 4, 14.) So ſpricht warnend die heilige
Schrift.
Sie iſt ein Anfang alles Verderbens; oder wo waͤre jemals
ein leidenſchaftliches Leben der Anfang alles Guten und Be⸗
glückenden geweſen?
Der Selbſtgefällige ſchadet ſich durch die Ueberſchahung ſeiner
Verſtandesvorzüge am meiſten. Das feine Selbſtlob, welches er
ſich gar zu gern zollt, oder welches er Andern abzwingen möchte,
wird anſtößig für die, welche mit ihm umgehen. Sie mögen
feinen Werth erkennen oder nicht, in jedem Falle werden fie ge—
wahr, daß er ſelbſt eine allzuüberſpannte Meinung von demſelben
habe. Da es für ſie keineswegs eine angenehme Empfindung iſt,
| ſich beftändig überſehen, beftändig gedemüthigt zu fühlen, erhebt
| ſich in ihnen Wunſch und Wille, ihn zur rechten Würdigung
ſeiner ſelbſt und zur Beſcheidenheit zurückzuführen. Oft miſcht
ſich damit noch * Oft wird der Neid ſich mit der
III. 17
— 386 —
Schadenfreude vereinigen, und, ſtatt der geforderten Achtung,
Verachtung zurückgeben. ö 8
Wo unläugbare Verdienſte und Vorzüge ſind, wird der Neid
eben ſo geſchäftig ſein, als wo nur zufällige Glücksbegünſtigun⸗
gen glänzen. Der Selbftgefällige gibt ſich alſo muthwillig den
Unannehmlichkeiten preis, welche der Neid der Menſchen herbei⸗
zuführen weiß; ja er fordert dazu auf. Und jo verächtlich ſonſt
die Leidenſchaft des Neides iſt, wird ſie hier Jedem minder ta⸗
delnswürdig dünken, da durch den anmaßenden oder ſelbſtſchmeich⸗
leriſchen, ſelbſtgefälligen Ton Alle gekränkt werden, auch die,
welche vom Neide rein ſind. A eie
Es iſt ſehr gewöhnlich, daß Leute von ausgezeichneten Ver⸗
ſtaudesgaben das allerübelſte Mittel wählen, ſie in Anerkennung
zu bringen — nämlich witzige Spöttelei über Andere. Dadurch
gelingt es ihnen, ſich ſelbſt über ſolche Perſonen eine ſcheinbare
Ueberlegenheit zu verſchaffen, welche ihnen ſonſt an Geiſtesvor⸗
zügen nicht nachſtehen, aber entweder die Leichtigkeit des Witzes
nicht beſitzen oder zu beſitzen verſchmähen. Man liebt freilich in
Geſellſchaft die heitern Einfälle, auch die boshaft ſtechenden; aber
man liebt nicht den, der ſie hat. Denn wer lächelnden Mundes
einen Andern lächerlich machen kann, wird, wenn Anlaß erſcheint,
auch uns ſelbſt nicht ſchonen. Der Selbſtgefallige hat in der
Welt nur einen Einzigen, den er von Herzen bewundert, achtet
und liebt: dieſer Einzige iſt er ſelbſt. Für einen einzigen witzigen
Einfall opfert er jedes andere ſchätzenswerthe Verhältniß auf.
Man klagt wohl oft und mit Recht darüber, daß die geiſt⸗
vollſten Männer am meiſten verkannt und zurückgeſetzt zu werden
pflegen. Doch darf man ſich nicht bergen, daß ſie ſelbſt das Meiſte
dazu beitragen. Der Spotter, hätte er auch das beſte Herz, iſt
der erſte Verleumder deſſelben;z man belacht ſeine Gedanken, aber
haßt ſeine Denkart; und ſchwer wird ihm, zu beweiſen, daß am
beißenden Scherz nur der Kopf, aber nicht das Herz Theil habe.
So erwahrt ſich das Wort der heiligen Schrift: Hoffart iſt
der Anfang alles Verderbens. Der Selbſtgefällige vereinzelt ſich,
ſtößt die Zuneigung Anderer zurück und bringt ſich ſelbſt um die
allgemeine Achtung, nach welcher er geizt. |
u
Aber er beraubt auch feinen eigenen Geift aller Vortheile,
welche ihm die Ueberlegenheit gewähren könnte. Er hindert ſich
ſelbſt, das Gute alles zu ſtiften, was er zu leiſten fähig wäre,
weil er durch ſein Betragen Jedermann mehr oder weniger ge—
reizt hat, ſein Gegner zu ſein. Was er auch unternehme, man
hält ſeine Abſichten nicht für rein; man weiß oder fürchtet, es ſei
ihm nicht um das Gute der Sache, ſondern um die Schauſtellung
der Talente zu thun. Man gefällt ſich ihm zu widerſtreben; iſt
es nicht aus Neid, ſo iſt es aus Schadenfreude, aus Rache der
gekränkten Eigenliebe. Denn ſo beſcheiden auch Jedermann von
ſich ſelbſt denken und ſo willig man immerhin die Verdienſte oder
Vorzüge des Andern eingeſtehen möge, werden doch wenige Men—
ſchen ſein, die damit geſtehen möchten, daß ſie ſelber ohne allen
Werth ſeien.
Was man auch in der Welt Nützliches wirken wolle, man
wird immer Gegner finden, die wegen Mißgunſt, eigenthümlichen
Muthwillens, Eigenutzes, Hangs zum Gewohnten u. ſ. w. Hin⸗
derniſſe in Menge herbeizuſchaffen bemüht ſind. Es gehört bei den
edelſten Abſichten oft der größte Aufwand von Klugheit dazu,
fie ins Werk zu ſetzen. Mit jener anſtößigen Selbſtgefälligkeit
vermehren wir aber die Menge Schwierigkeiten, und alle Geiſtes—
vorzüge helfen nur dazu, daß wir weit weniger ausführen kön-
nen, als der Mann von geringern Kräften und größerer Be—
ſcheidenheit.
Es ſchadet ſich folglich der Selbſtgefällige bei aller ſeiner
Klugheit in der Achtung, die er wünſcht, in der Freundſchaft,
deren er würdig wäre, in den Unternehmungen, die er bezweckt.
Das heißt, ſeine glänzenden Eigenſchaften dienen ihm zum eigenen
Nachtheil. Er handelt bei aller Klugheit unklug. Man hätte
Recht, über dieſen Widerſpruch zu erſtaunen, wenn man nicht
wüßte, daß jede Leidenſchaft eine wirkliche Selbſtverblendung,
ein einſeitiger Wahnſinn wäre. 0
Ein Fehler iſt gern die Quelle von andern. Die Ueber⸗
| ſchätzung eigener Geiſtesgaben und die Sucht, ſich durch ſie be—
deutend zu machen, kann ſelten lange beſtehen, ohne, neben manchen
| Verdrießlichkeiten von außen, manche Verſchlimmerung des Ge-
“u
2
— HE
müths zur Folge zu haben. Niemand ift geneigter, darüber zu
klagen, daß man ihn verkenne, als der Selbſtgefällige. Es ſetzt
ſich bei Niemand leichter Bitterkeit und Verhärtung gegen andere
Menſchen an, als bei ihm, da er ohnehin ſchon geneigt ift, An⸗
dere zu überſehen und gering zu achten. Keiner wird empfaͤng⸗
licher für die Qualen des Neides ſein, als er, wenn er zu ſeinem
Veidruſſe wahrnimmt, daß man bald Dieſem, bald Jenem Vor⸗
züge einraͤumt, die er ſelbſt mehr denn jeder Andere verdient zu
haben glaubt, wenn es nach Recht und Billigkeit gegangen wäre,
Niemand wird ſich williger als er zeigen, blind gegen das Gute
zu ſein, was Andere haben, beſonders wenn es von der Art iſt,
daß es ſeinen eigenen Vorzügen den Rang ſtreitig zu machen
droht — — und ſo quillt eine Untugend aus der andern. Sünd⸗
liche Geſinnungen färben den Willen, und ein unreiner Wille
leitet zum Vergehen. Hoffart iſt ein Anfang alles Verderbens.
Jede Leidenſchaft, die einmal ihre Wurzel tief in unſer Leben
eingeſchlagen hat, iſt ſchwer auszurotten; Vernichtung der Selbſt⸗
gefälligkeit vielleicht mit am ſchwerſten, weil ſie eine ungeheure
Entartung der natürlichen Selbſtliebe des Menſchen iſt. Wer
von ihr eingenommen ward, und fühlt, wie viel er ſich ſchadete,
wird lange Zeit um die rechte Grenzlinie zwiſchen billiger Ach⸗
tung eigenen Werthes und Ueberſchaͤtzung deſſelben verlegen fein.
Ohnedem iſt denen, welche von ſich in hoher Einbildung leben,
eigen, daß ſie zuweilen gänzlich und an allem ihrem Werth mit
großer Niedergeſchlagenheit zu verzweifeln pflegen, wenn ſie durch
einen Anlaß zur Erkenntniß gelangen, daß ſie weniger in Dieſem
und Jenem leiſten, als ſie leiſten zu können glauben. Selten
werden ſie Maß halten.
Ohne ächt⸗religibſen Sinn iſt die Ausrottung dieſer Untu—
gend und ihres Verderbens ungedenkbar. Durch Klugheit zwar
kann man ſich in den Aeußerungen derſelben befchränfen; man
kann ſich zähmen, ſich verſtellen. Aber Heuchelei iſt nur ein Uebel
mehr, und fo wenig die Tugend der Beſcheidenheit ſelbſt, als
roth geſchminkte Wangen eines Sterbenden das Zeichen der Ge⸗
ſundheit find, Heuchelel von Demuth neben geheinter Anmaßung
und innerer Selbſtbewunderung bilden die widerlichſte Verzer⸗
„
rung; verrathen ſich einander, als entgegenſtehende Laſter, bei
den meiſten Gelegenheiten, und geben ſich der Verachtung preis.
Klugheit kann dir ſagen, daß, wer ſich gern vordrängt, ge⸗
wöhnlich den Schmerz erfährt, zurückgeſetzt zu werden. Klugheit
kann dir ſagen, daß du durch die Art, wie du entweder Andere
demüthigſt, oder dich und deine Talente zur Schau ſtellſt, Geg⸗
ner erweckſt und dir ſelber ſchadeſt. Klugheit kann dir Vorſicht
anrathen. Allein dieſe Vorſicht ſteht mit den Zwecken deiner Ber
gierde im Widerſpruch. Du bemühſt dich vergebens, die Art und
Weiſe zu ändern, in welcher fich deine Neigung zu glänzen und
zu denken offenbart — die Neigung ſelbſt mußt du vertilgen.
Aber du kannſt ſie nur vertilgen durch reine Religioſitaͤt, durch
wahren Ehriſtusſinn: Habe Gott vor Augen, nicht Menſchen⸗
beifall! Liebe das Gute, was du ſtiften kannſt, darum weil es
gut und recht iſt, nicht weil du dabei Gelegenheit findeſt, dich zu
zeigen. Verlauge nichts für dich, Alles für Andere. Erwirb
Andern Lob, nicht dir. Verläugne dich ſelbſt, und folge Jeſu
nach, der bei erhabneren Eigenſchaften und unendlich groͤßern
Verdienſten um die Menſchheit dennoch das liebenswürdigſte Bei⸗
ſpiel der Demuth war.
Dieſe Lehren freilich ſind leichter gegeben, die Vorſätze auch
wohl bälder gefaßt, als erfüllt, ſelbſt wenn es wirklich darum
zu thun wäre, einen Fehler abzulegen, der im Leben fo viele trübe
Augenblicke und geheimen Verdruß ſchuf. Aber ſchon der einzige
Gedanke, daß alle deine vortrefflichen Eigenſchaften ihren beſten
Werth verlieren, weil du ihnen Werth beilegſt; daß dich Andere
nicht loben, weil du fie auf feinere oder gröbere Weiſe zum Loben
zwingſt; daß dich Niemand von Herzen lieben kann, weil du dich
ſelbſt mit Unmäßigkeit liebſt und ſchmeichelſt, Andere hingegen
allzulieblos ihren geringern Werth fühlen läſſeſt — ſchon dieſer
Gedanke muß dir auch das Schwerſte erleichtern. So wie eine
Jungfrau minder ſchön iſt, ſobald ſie ihre Schönheit anerkennen
machen will, und die am liebenswürdigſten iſt, welche nicht weiß,
daß ſie es iſt: jo umringt den Beſcheidenen die herzlichſte Freund—
ſchaft, die ungeheucheltſte Hochachtung, der darauf die allerwenig⸗
ſten Anſprüche zu haben glaubt.
— Mi =
Erinnere dich, daß deine Vollkommenheiten keineswegs darum
ſchätzenswerth ſind, wenn du ſie haſt, ſondern erſt, wenn du
Andern damit Nutzen oder Freude bringſt. Erinnere dich, daß
du die falſchen Mittel wählteſt, dir Liebe und Zutauen zu ge⸗
winnen, wenn deine Eitelkeit die Selbſtliebe Anderer verwundet.
Außerdem iſt gewiß, daß jeder Menſch ſeinen eigenthümlichen
Werth hat, Gaben und Eigenſchaften, in denen er dich übertrifft.
Gerecht war Gott in Vertheilung ſeiner Güter; du aber biſt auf
Erden nicht der Begünſtigte. Andere übertreffen dich in dem,
worin du ſchwach biſt. So, bei aller ſcheinbaren Ungleichheit,
herrſcht unter Geiſtern mehr Gleichheit, als du vermutheſt. Es
iſt möglich, daß du ſchnellere Urtheilskraft, durchdringendern
Scharfſinn haſt, als Dieſer oder ein Anderer; er aber übertrifft
dich vielleicht durch ruhigere Ueberlegung, durch Kraft des Ge⸗
dächtniſſes, durch beſſere Ordnung in ſeinen Vorſtellungen. Du
prangſt mit regerer Einbildungskraft und Empfindungsvermögen;
ein Anderer übertrifft dich durch Gründlichkeit der Kenntniſſe.
So haben wir von Gott allerlei Gaben empfangen, nicht Einer
Alles, daß wir uns damit unter einander dienen ſollen. Und
derjenige, welcher nach deiner Meinung dir wohl in allen Dingen
nachſteht, iſt dennoch vorzüglicher, und gerade dadurch Vielen
angenehmer, daß er weniger anſpruchvoll, dünkelhaft und heim⸗
lich ſtolz iſt, als du biſt.
Blicke auf das, wodurch andere Perſonen Liebe und Beifall
erlangen, und du wirſt empfinden, daß dir noch Vieles fehlt.
Sie haben mehr und aufrichtigere Freunde, als du, folglich für
andere Menſchen wahrern Werth als du. Blicke auf deine eigenen
Unvollkommenheiten; und wenn es dir die groben Täuſchungen
deiner Eigenliebe noch geſtatten, einen Augenblick gerecht gegen
dich ſelbſt zu ſein, ſo wirſt du erkennen, daß du nicht vorgezogen
zu werden verdienſt, weil Andere in der That beſſer ſind, als du
biſt; daß man dich nicht allgemein ſchätzen und lieben kaun, weil
du nicht ſo liebenswürdig zu ſein weißt, wie es Andere ſind.
Und dann, mein Schöpfer, mein Richter, von dem ich jede
gute Eigenſchaft meines Geiſtes empfing, als ein Pfund, mit
welchem ich nicht glänzen, ſondern nützen ſoll: welch ein Recht
— 391 —
kann ich haben, auf das ſtolz zu ſein, was ich nur Deiner Gnade
danke, und für deſſen Anwendung ich Dir verantwortlich bin?
Warum ſollte ich doch nach Bewunderung und Beifall von Men⸗
ſchen dürſten, die, wenn ich heute ſtürbe, mich in wenigen Tagen
vergeſſen haben würden, während Du ewig lebſt, und ewig mich
betrachteſt! Dein Wohlgefallen iſt das wahrhaft wünſchenswerthe
Ziel des unſterblichen Geiſtes. Was liegt daran, um Bewun⸗
derung von Menſchen zu buhlen, die in ihren Urtheilen ſo be—
ſchraͤnkt und veränderlich find, daß ihnen heut gleichgültig wird,
was fie geſtern über Alles erhoben? Du, Herr, biſt unveränder⸗
lich, in Deinem Segen und in Deinem Gericht! — Ach, daß ich
um die mir anvertrauten Gaben nie dieſes zu fürchten, immerdar
jenen zu hoffen hätte! Amen.
44.
Der Chriſt in den Erholungsſtunden.
Pred. Sal. 3, 1.
Schon oft habe ich über die würdigſte Beſchaͤftigung meiner
Nebenſtunden nachgedacht. Dieſe Nebenſtunden, in welchen ich
meinen Geiſt zerſtreuen ſoll, damit er neue Kräfte, neuen Muth
ſammle, find demjenigen nicht gleichgültig, welcher mit dem Föft-
lichen Geſchenk des Lebens recht wuchern, und keinen Augenblick
deſſelben thöricht verſchwenden möchte! Dieſe Nebenſtunden find
ein großer Theil meines Daſeins; auch von ihnen und ihrer wei-
ſen Anwendung werde ich einſt Rechenſchaft ablegen müſſen, als
von einem Theil des mir anvertrauten Pfundes!
Wie falſch verſteht der Menſch oft fein Leben, wie wenig be>
greift er den Werth der kurzen Augenblicke, die ihm hienieden
zu fein vergönnt find! Oft iſt ihm die Zeit eine Laſt, die er ab⸗
werfen möchte. Er ſeufzt über die Länge der Zeit, welche, wenn
er früher oder ſpaͤter am Ende derſelben ſteht, wie ein flüchtiger,
kurzer Morgentraum vorübergeeilt iſt. Umſonſt ſchmachtet er dann
nach den fruchtlos verlornen Wochen, nach den verſchwendeten
— 892 —
Jahren. Umſonſt wünſcht er dann ſein Leben erneuern zu können,
um es mit größerer Weisheit zu genießen. Umſonſt fühlt er dann
die furchtbare Wahrheit, daß jede durch eigene Schuld verlorne
Minute ein Selbſtmord, ein Raub an ſeinem Leben war, daß
fruchtlos gelebt zu haben, kein Leben mehr war. }
Man ſpricht vom Zeitvertreib; man erfindet Künſte, die Zeit
zu vertreiben, dieſe köſtliche Gottesgabe! — O Thoren, bemühet
euch nicht, die Zeit zu vertreiben, wahrlich, ſie vertreibet euch!
Die Stunden fliegen an üns mit reißender Eile hin. Wo
ſind die Jahre geblieben, die du lebteſt; was haſt du von ihnen
behalten? Eine zerriſſene, ſchwache Erinnerung. Wo ſind die
Blumen, die du einſt in ſeligen Augenblicken pflückteſt? Sie ſind
Erde und Aſche geworden. Wo ſind die Freunde, mit welchen
du dich einſt ſo innig verbunden hatteſt? Der Strom der Zeit riß
ſie von deiner Seite, manchen in die Fremde, manchen in das
Grab. Und die Geſänge der Freude, in welche du ſo oft deine
Stimme miſchteſt? Sie ſind verhallt. Und die Geſpielen deiner
Jugend? Sie ſind veraltet, und kennen dich nur noch kaum. Und
ſo manche große und kleine Entwürfe, die du machteſt für die
Zukunft? Sie ſind zum Theil ausgeführt und vergeſſen. Was
iſt dir endlich von allen deinen Hoffnungen und Sorgen, von
deinem Fleiße und deinem Trachten, von deinen Thränen und
deinen Wünſchen geblieben? Nichts als dein vorgerücktes Alter.
Du retteſt nichts, nicht deinen Vater, nicht deine Mutter, nicht
deine Geſchwiſter, nicht deine Kinder, nicht dein Haus, nicht
deine Stärke, nicht deine Schönheit: Alles reißt der eilende Strom
der Stunden endlich mit ſich hinweg, bis du ganz verlaſſen, ganz
einſam am Ufer der Ewigkeit ſtehſt; — die letzte Stunde ergreift
dich nun ſelbſt, raubt dir das Leben — du behältſt nichts, als
dich ſelbſt. Dein von Allem entkleideter Geiſt ſteht vor Gott,
ſein Urtheil zu hören!
Die Stunde flieht, und die Minute iſt ſchneller als dein Ge⸗
danke. Der Augenblick, den du jetzt empfindeſt, gehört dir nicht
mehr, und der kommende iſt ſchon wieder an dir vorübergeflogen.
Sinne nicht auf das Vertreiben der Zeit; ſie ver—
treibt dich. Sie hat dich vertrieben aus dem Paradieſe der Kin—
— 393 —
derjahre, da du ſorglos umherhüpfteſt; ſie vertreibt dich aus den
Armen deiner Lieben, aus dem Hauſe deiner Aeltern, aus dem
Schooße deiner Familie, aus dem Leben hinweg.
Daran erkennt man den Weiſen, daß er die göttliche Gabe
der Zeit zu würdigen verſteht, daß er mit den Stunden wuchert.
Weil ihm endlich nichts bleibt, als ſein Geiſt, ſo trachtet er,
dieſen Geiſt zu veredeln und feine Vollkommenheit zu vermehren.
Denn nur dieſe, ſonſt nichts, rettet er aus der vernichtenden Fluth
der Jahre; nur dieſe, ſonſt nichts, nimmt er als Beute aus dieſem
Leben mit ſich hinüber in ein zweites Leben.
Auch die Stunde der Erholung will der Chriſt nicht ver⸗
ſchwenden. Der Menſch iſt für das erhabene Ziel, dem er nach—
eilen ſoll, zu arm an Zeit, darum hat er keinen Augenblick
wie einen Ueberfluß wegzuwerfen.
Gewöhnlich legen wir in unſerm Leichtſinn auf die ſoge—
nannnten Nebenſtunden zu wenigen Werth. Wir halten ſie
gleichſam für etwas Erſpartes, mit dem wir nach Willkür ſchal⸗
ten können. Wir denken zu ſelten daran, daß auch unſere Er⸗
holungen einen Werth für die Ewigkeit haben müſſen. Wir ſind
gleichgültig in der Auswahl unſerer Vergnügungen, und halten
ſie dann ſchon für gut, wenn ſie uns die Zeit angenehm ausfüllen,
die wir ihnen widmen wollen. Wir vergeſſen es oft, daß wir
eben in den Stunden der Zerſtreuung von ernſten Arbeiten auf
uns ſelbſt am mehrſten achten ſollen, weil die Ruhe des Gemüths
da am erſten geſtört, und der Grund zu mancherlei innern und
aͤußern Leiden gelegt werden kann.
Ein Jegliches hat ſeine Zeit, und alles Vornehme unter dem
Himmel hat ſeine Stunde! ruft uns der Prediger Salomo zu.
Allerdings ſind für uns Stunden der Ruhe, Ergötzlichkeiten oder
der Genuß ſinnlicher Freuden unentbehrlich. Auch ihnen muß
ein Theil unſerer Zeit gewidmet bleiben. Sie ſind unentbehrlich
für unſern Geiſt, daß er immer zur höhern Thaͤtigkeit fähig bleibe,
und nicht unter anhaltender Arbeit erſchlaffe; ſie ſind unentbehr⸗
lich zur Erhaltung unſerer Unverdroſſenheit und Munterkeit, zur
Stärkung unſerer Leibeskräfte, zur Bewahrung unſerer en,
heit und unſers Lebens.
— 394 —
Nicht vergebens hat Gottes Güte uns mit ſo unzähligen, zum
Genuſſe einladenden Gegenſtänden umringt; nicht vergebens legte
er den Trieb zur Freude in unſere Bruſt. Gott, der ewig gute
Vater, will die Freuden ſeiner Kinder. Die Fröhlichkeit aller
ſeiner Geſchöpfe ermuntert uns zum heitern Genuß des Lebens,
und ſein Wort ſelber fordert uns dazu auf. Freuet euch in dem
Herrn allewege! (Phil. 4, 4.)
Allein die Arten der Ergötzlichkeiten, welche wir aufſuchen,
und die uns Gott in unſern Verhältniſſen zu genießen geſtattet,
ſollen für uns nur Mittel ſein zur Erheiterung des Gei⸗
ſtes, zur Stärkung unſerer Geſundheit; wir ſollen aus
ihnen nicht den Zweck unſers Lebens machen. Wir ſollen uns
laben, um nicht müde zu werden im Gutesthun. Nur derjenige
hat am meiſten gelebt, der am meiſten gethan und gewirkt hat;
ſo wie Gott immerdar wirket in unſerer Seligkeit. Derjenige hat
am wenigſten gelebt, welcher, unbekümmert um Menſchenglück, ſo
er befördern ſollte, nur in ſinnlicher Wolluſt ſchwelgte, nur ge⸗ |
noß, wie das Thier auch genießt, ohne ſich höherer Zwecke be⸗
wußt zu ſein. f
Die Stunden der Erholung muͤſſen daher jederzeit
in einem zweckmäßigen Verhältniſſe zu den Stunden |
nützlicher Beſchäftigungen ſtehen. Chriſtus, in feinem.
Leben voll heiliger Thaten, ruhete nur, wenn feine Kräfte von
ihm wichen. Er entſchlief unter Sturmwinden. (Luk. 8, 23.)
So ſoll auch jeder ſeiner Nachfolger nur dann erſt Erholung
ſuchen, wenn er fühlt, daß die Kräfte feines Geiſtes und feines
Leibes unter der Anſtrengung zu erliegen drohen, und daß eine
Zerſtreuung des Gemüthes, ein angenehmer Wechſel der Ber
ſchaͤftigungen wohlthätig ſei.
Wie leicht man aber über dies Mittel zur Geſundheit des
r *
Geiſtes und des Leibes den wahren Zweck deſſelben vergißt,
und wie leicht und lebhaft die Begierde nach Zerſtreuungen in
uns auflodert, davon erfahren wir täglich Beiſpiele. Wir ſehen
Menſchen, die ſich nicht die Arbeit zu einem Vergnügen, ſondern
das Vergnügen und die Zerſtreuung zu einer Arbeit, zum Haupt⸗
zweck machen. Sie haben genug zu ſorgen, um ihre Vergnuͤgungs⸗
5
*
— 395 —
arten zu erfinden, mannigfaltig zu machen, zu ordnen. Sie kennen
keine größere Mühe, als ſich die verſchiedenſten Luſtbarkeiten zu
verſchaffen, weil der übermaͤßige alltägliche Genuß derſelben ihnen
Ueberdruß erregt.
Dieſe Sucht nach Zerſtreuungen iſt eine wahre Seelenfranf-
heit, ein Laſter unſerer Tage, welches nur ſelten dafür gehalten
wird, und ſich immer weiter über alle Stände ausbreitet. Es
verſchlingt die ſchönſten und koſtbarſten Stunden, welche man
den Berufsgeſchäften entzieht, und erzeugt endlich Entwöhnung
von nuͤtzlicher Arbeitſamkeit. Man vollſtreckt feine Pflichten nur
zwangsweiſe, und ſinnt darauf, wie man ſich der Arbeit entziehen
könne, um wieder in den Kreis der Luſtbarkeiten einzutreten.
Man wird zu allen Verrichtungen unfähig, welche Anſtrengung
und Ausharren erfordern; man verliert den Geſchmack für nütz⸗
lichere Beſchaftigungen; man entſchlägt ſich der fchönften Pflich-
ten; man verliert den Sinn für die zarten Freuden des Gemüthes;
man ſieht den Verfall, die Zerrüttung feines Hausweſens, die
Entfremdung ſeiner Freunde; man opfert dem Genuß nicht nur
ſein Vermögen durch unbeſonnenen Aufwand, ſondern ſelbſt ſeine
Ehre, ſeinen Ruf. Man genießt, ohne zu genießen, und macht.
den Genuß zuletzt nicht zu einer Freude, ſondern au ei einem quälen
den Bedürfniſſe der Gewohnheit.
Wer iſt's, wer kennt nicht die ſchreckliche Seite der Zer⸗
ſtreuungsſucht, dieſes taglich beliebter werdenden Laſters? —
Sehet die Jünglinge, welche, von der Lebensweiſe ihrer Vaͤter
entartet, ihre Tage im geſchaͤftigen Nichtsthun vergeuden! Ihr
findet ſie auf den Straßen, an allen Orten öffentlicher Luſtbar⸗
keit — ſelten im rühmlichen Gewerbe. Entwöhnt von der Ar-
beit, verſchwenden ſie das Gut ihrer Vorfahren, und nutzlos für
das Vaterland, nutzlos für die menſchliche Geſellſchaft, ſpotten.
ſie der bürgerlichen Ordnung, die ihre Lüſte beengt, bis das Laſter
ſie entnervt einer traurigen Armuth oder einem frühen Grabe aus⸗
liefert. — Sehet den Hausvater, den die Zerſtreuungsſucht ver⸗
giftete. Er gehört nicht mehr feinen Gefchäften, nicht mehr der
Gattin, nicht mehr den Kindern, nicht mehr ſich ſelbſt, fondern-
den lachenden Geſellſchaften, in welchen er unter elenden Nichts⸗
— 396 —
würdigen Alles vergeſſen kann, was gut und groß und gerecht
iſt. — Sehet die zerſtreuungsſüchtige Hausmutter — ach, fie iſt
des edeln Namens der Hausmutter nicht mehr würdig! Dem Ge⸗
finde überläßt fie die Sorge um das Haus, und ihre Kinder ſtehen
wie Waiſen da, welche nur ſelten das Glück haben, die verach-
tungswerthe Mutter zu umarmen, welche lieber am Spieltiſch
oder im Tanze ſchimmern, oder in müßigen Verſammlungen
glänzen will. Die Mutterpflichten ſind ihr fremd geworden;
häusliche Glückſeligkeit iſt ihr etwas Unbekanntes; in ihrer eigenen
Wohnung wird ſie ſich unerträglich; nur unter Fremden iſt ſie
daheim, unter Freunden und Kindern iſt ſie fremd.
Woher ſo manche unglückliche Ehe? Woher ſo manche Ent⸗
artung der Kinder? Woher ſo mancher Ruin der Geſundheit?
Woher ſo mancher Verfall eines rühmlichen Wohlſtandes? — —
Es find die Geißeln, welche das Laſter über feine eigenen Ver⸗
ehrer ſchwingt; es ſind die unſeligen Wirkungen der Wuth nach
Zerſtreuungen.
Der Chriſt iſt in den Stunden ſeiner Erholung nicht uner⸗
ſättlich. Er liebt ſie, aber mit Vorſicht und Mäßigung. Er liebt
ſie, wie ein müder Arbeiter die Ruhe. Seinen höchſten Genuß
findet er, wie Gott, in der größten Thätigkeit für Menſchenwohl
und im Anſchauen ſeiner Werke.
Welche Wolluſt liegt für mich in dem Gefühl, das Glück
meiner Familie, meiner Mitbürger auf irgend eine Art vermehrt,
meine Berufsgeſchäfte mit ehrenvoller Treue geübt, und Anſpruch
auf die Achtung und Dankbarkeit der Welt erworben zu haben!
Wie ſüß iſt nach dieſen nützlichen Anſtrengungen meiner Kräfte
die Erholung!
Aber auch in den Stunden der Erholung muß ich Chriſt
ſein. Es iſt nicht gleichgültig, welche Art der Ergötzlich—
keit ich mir wähle. Nenne mir deine Unterhaltungen in den
Nebenſtunden, und ich will dir ſagen, was du werth biſt!
Der Chriſt verſchmäht jede Erholung, welche nicht zu den
unſchuldigen Lebensfreuden gezählt werden darf.
Unſchuldig alſo ſollen meine Erholungen ſein, daß heißt,
an ſich ſelbſt nicht böſe. Es iſt der Würde des Chriſten un⸗
— 397 —
angemeſſen, ſeine Freuden auf Unkoſten fremder Glückſeligkeit zu
genießen. Nur die Hölle mag ſich in den Thränen Anderer ein
Entzücken bereiten, und Wolluſt in Anderer Schmerz ſuchen. —
Wehe dem, der, um ſich zu erholen, feine Freuden am Scha⸗—
den des Bruders findet. Er reißt wie ein Wahnſinniger
das Gute in den Stunden der Ruhe nieder, was ſeine Hand in
den Stunden des Fleißes baute, und knüpft an ſeine flüchtige
Luſt den Fluch der Erde und des Himmels.
Nein, nicht des Chriſten würdig, nicht unſchuldig iſt das
Frohlocken über Fehler, Gebrechen oder üble Ereigniſſe des
Nächſten; nicht unſchuldig ſind jene Freuden der Verleumdung,
jene Ergüſſe der Klatſchereien, wodurch ſchon der Friede ſo manches
Hauſes unterbrochen, jo manches Band der Freundſchaft zer-
riſſen ward! — Ein edlerer Geiſt ſucht edlere Genüſſe. Gefällt
ſich das vernunftloſe Thier in ſeinem Schlamme, der Sünder in
ſeinen Leidenſchaften: der Chriſt gefällt ſich nur in dem, was
ſeiner Würde, feiner hohen Beſtimmung gemäß, was unſchuldig
iſt und edel. j
Selbſt ſolche Erholungen genießt er mit Vorſicht, die, ob«
wohl an ſich ſelbſt ganz unſchuldig, dennoch leicht zum Böſen
anreizend ſind. Dahin gehören alle diejenigen Vergnügungen,
welche das Gemüth mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit ergreifen,
und die Sinne gleichſam berauſchen. Hier iſt's, wo der Nach-
folger Jeſu am meiſten über die Unſchuld zu wachen hat; hier
iſt's, wo die Sünde ſich mit Roſen umkränzt, das Verbrechen
im Gewande der Fröhlichkeit lächelt, und die Leidenſchaft ihr Gift
unter den Honig der Freuden mengt.
Unſchuldig iſt das Spiel, welches eine leichte Uebung des
Scharfſinnes und Witzes ſein kann; Karten und Würfel, indem
ſie die Gewinnſucht oder den Stolz wecken, werden mörderiſche
Werkzeuge für deine Gemüthsruhe in den Händen der Freude.
Das Spiel hört auf, Mittel zur Erheiterung des Geiſtes zu ſein,
wenn es, ſtatt zu vergnügen, die Empfindungen des Verdruſſes,
der Angſt, oder der Schadenfreude erweckt. Es iſt nicht mehr
Erholung, wenn es die frohe Laune raubt, die du in dieſer Art
der Zerſtreuung ſuchteſt. N
— 398 —
Unſchuldig iſt die harmloſe Theilnahme an den Freuden, wo
der geſellige Scherz und der Reiz edler Getränfe das Gemüth
höher ſtimmt, und in heiterer Begeiſterung emporhaͤlt. Aber
ſchlüpfrig iſt der Pfad der Luſt, und leicht im Taumel des Ver⸗
gnügens die zarte Grenzſcheide überſchritten zwiſchen dem Genuſſe
der Freude und wilder Ausgelaſſenheit.
Unſchuldig iſt noch manche andere Art der Erholung, aber
ſchuldig wird fie durch den Mangel weiſer Nüchternheit, feſter
Beſonnenheit. — Nicht im Augenblick der Gemüthsſtille, nein,
in dem Augenblicke, wo lebhaftere Empfindungen das Herz be-
ſtürmen können, iſt der Chriſt am meiſten Chriſt; denn da gilt 1
es den Kampf um Herzensreinheit und Seelenruhe.
Aber wie mancherlei Ergötzlichkeiten ſind nicht noch vorhan⸗
den, wie vielerlei Erholungen, welche, weit entfernt, dem Her—
zen gefährlich zu fein, ihm wahrhafte Wohlthat werden; Er-
holungen, mit welchen ſich ſogar nützliche Zwecke verbin⸗
den laſſen! 5
Fröhliche Unterhaltungen, Scherze und belehrende Gefpräche:
im engern Kreiſe der Familie, harmloſe Spiele mit unſern Kin⸗
dern und Freunden ſtimmen das Gemüth zur reinen Freude, und:
oͤffnen es zärtlichen Empfindungen. — Das Leſen nützlicher
Bücher erhebt den Geiſt über das Alltägliche des gemeinen Lebens,
erfüllt ihn mit neuen Kenntniſſen der Welt, des Menſchen und:
der Natur. Er veredelt ſich dadurch auf eine ſchnellere Weiſe;
und je heller feine Einſichten werden, je würdiger werden feine
Vorſtellungen von der Größe und Majeſtät Gottes. — Oder
willſt du die Einſamkeit meiden, tritt hinaus in den Tempel der
Natur, und ergötze dich in Betrachtung der göttlichen Schöpfungen.
Betrachten heißt dann aber nicht ein bloßes, gedankenloſes An—
ſchauen der Dinge um dich her, ſondern auch Nachdenken uber
die Abſichten, Zwecke und wunderbaren Einrichtungen derſelben.
Wähle dir den Umgang einſichtsvoller Freunde, die dich über
Manches ſelbſt belehren, oder durch Empfehlung eines weiſen,
Buches deine Kenntniſſe in der Natur aufheitern können. Nicht
minder ſüß und edel und des Chriſten würdig iſt das Erforſchen,
der Lage unglücklicher Familien, leidender Perſonen. Suche ſie
r
EN.
7
— 399 —
auf, zeige ihnen deine Theilnahme, bringe ihnen nach deinen
Kräften zweckmäßige Unterſtützung, hilf ihnen mit deinem Rath!
Wenn Engel einer Erholung bedürften, ſo würden ſich
Engel auf dieſe Weiſe ergötzen.
Doch, es iſt genug, daß ich jetzt lebhaft überzeugt bin, daß
ſelbſt die Stunden der Zerſtreuung und Erholung dem Chriſten
von hoher Wichtigkeit ſein müſſen. Ich will mir hier nicht alle
Arten froher Genüſſe ſchildern; wie könnte ich's auch, da Gottes
Güte mir dieſelben ſo reichlich und abwechſelnd jeden Tag ent⸗
gegenbietet! —
Du läſſeſt, o Quell aller Freude, o ewiger Urheber aller
Seligkeit, keines Deiner Geſchöͤpfe ſchmachten. Jedem haft Du,
dem Seraph vor Deinem Throne und dem Wurme, der am
Halme hängt, eine Luſt bereitet in ſeiner Art. Warum ſoll ich
denn nach Zerſtreuung jagen, und ſie ſo begierig aufſuchen, da
Du doch, o mein Gott, mein Schöpfer, überall an meinem Le-
benswege Freuden groß und klein ausgeſtreut haſt!
4 5
45.
Der Tag der Sorgen.
Matth. 6, 34.
Gott iſt meine Zuverſicht;
Der mich ſchuf, wird mich bewahren!
Ihm vertrau'n iſt Luſt und Pflicht;
Er kann wenden die Gefahren.
Freude, Dank, Vertrau'n gebührt
Dem, der mich bisher geführt.
Dab ich troſtlos je geweint?
Bluteten ſtets meine Wunden?
Wo ich hilflos mich gemeint,
Hab' ich Hilfe nicht gefunden?
Ward ich, wenn ich zu ihm floh,
Selbſt nicht meiner Thränen froh?
Führe Du mich, Vater, Du;
Nichts kann mein Vertrauen rauben:
Weisheit iſt's und Seelenruh', er
Kindlich treu' an Dich zu glauben. e
Seh’ ich keinen Strahl von Licht: I:
Du biſt mein; ich zage nicht.
Wer hat ihn nicht gehabt, wer hat ihn nicht noch, ſeinen Tag
der Sorgen? — Wo wäre ein Sterblicher ohne ihn? Selbſt das
harmloſe Kind iſt ihm nicht fremd.
Und wie mancherlei ſind die Sorgen, die ſchwarzen Begleiter
unſers Lebens, die Jeden quälen! — Wie manches Geſicht lächelt
uns an, welches ſich eben ſo ſchnell in der Einſamkeit wieder
verfinſtert; wie manches gute Herz verhehlt den nagenden Wurm,
von dem es gefoltert iſt!
Man pflegt ein ſorgloſes Leben das glücklichſte zu nennen —
allein auf dieſe Weiſe iſt kein Menſch einer ungetrübten Glück⸗
ſeligkeit fähig.
Inzwiſchen müſſen wir doch auch hier eine Wahrheit beken⸗
nen, daß, ſo ſchmerzlich und beängſtigend wohl das Sorgen ſei,
es dennoch für den Menſchen eine Quelle künftiger Zufrieden—
heit iſt.
Es iſt gut, daß wir zuweilen unſere Sorgen haben, denn es
bringt Ernſt und Nachdenken in unſer Leben. In ununter-
— 401 —
brochener Luſt würde die Luſt und das Leben uns zuletzt anekeln;
würden wir ſelten unſers beſſern Werthes, unſers höhern Be⸗
rufs gedenken; würden wir vergeſſen, daß wir durchaus für uns
nichts ſind, nichts haben, ohne den Beiſtand und Willen Got⸗
tes. — Viele Sterbliche, die lange ohne den Gedanken und die
Empfindung der Religion dahin lebten, erhoben ſich erſt zur
wahren Andacht, zum innigen Gebet, zur ächten Religioſitaͤt,
zum Halten an Gott, wenn ſie in ſchweren Bedrängniſſen keinen
Troſt, keine Hilfe, keine Ausſicht fanden.
Es iſt gut, daß wir zuweilen auch den Tag der Sorgen er⸗
leben, denn ohne ihn würden wir planlos, wie das Thier, von
einem Augenblick zum andern hinleben, ohne der Zukunft ein⸗
gedenk zu ſein. Wir würden leichtſinnig in der Jugend unſerer
alten Tage vergeſſen; wir würden unterlaſſen, zur rechten Zeit
die Saaten auszuſtreuen, von deren Aernten wir uns erhalten
wollen; wie würden, unbekümmert um das Schickſal unſerer
Nachkommen, dieſen die Mittel anftändiger Verſorgung ent⸗
ziehen. Nur der Leichtfertige verkennt ſeine Pflichten gegen die
kommenden Zeiten; nur der Verſchwender ſcherzt mit dem gegen-
wärtigen Augenblick allein, um mit einem künftigen Jahre zu
klagen.
Es iſt gut, daß wir auch den Tag der Sorgen kennen Halle ;
er iſt's, der uns auf unfere eigenen Fehler und Unbeſonnen⸗
heiten aufmerkſamer macht, als der treueſte Freund, indem er
uns vor den Folgen unſerer unklugen oder leidenſchaftlichen
Handlungen zittern läßt. Der Menſch, welcher, unbekümmert
um Recht oder Unrecht, nichts mehr fürchtet, iſt eben io elend,
als wer nichts mehr zu hoffen hat. Furcht und Hoffnungen ſind
die Wegweiſerinnen des irrenden Sterblichen zum Tempel der
Tugend und dauerhaften Seligkeit.
Wenn ich die Natur der menſchlichen Sorgen betrachte, um
zu ergründen, wie ich mich von den quälendſten derſelben all⸗
mälig befreien könnte, muß ich nothwendig auf die Urſache ihrer
Entſtehung zurückblicken.
Die meiſten derſelben entſpringen aus der Furcht vor den
Folgen meiner Unbeſonnenheiten und der von mir einge
= WB 5
ſchlagenen Fehlwege. Sie find alſo nur die bittere Frucht meiner |
Leidenſchaft, oder Ungerechtigkeit, oder meines Leichtſinnes, der
allerdings oft eben ſo ſtrafbar ſein kann, als die Bosheit ſelbſt,
weil beide zu gleichen Vergehungen leiten. — Keine Art der
Sorgen iſt für das menſchliche Gemüth peinigender, und doch
auch keine leichter von uns abzuwehren, als dieſe. Laſſen wir
uns durch das unglückliche Beiſpiel Anderer, die aus ähnlichen
Gründen ähnliche Schuld büßten, vor ähnlichen Unklugheiten
warnen, und vorſichtiger in Worten und Unternehmungen wer⸗
den. Laſſen wir uns warnen durch die erſte Furcht vor den Fol⸗
gen allzuleichtſinnig begangener Fehler — und vermeiden wir
dieſe in Zukunft mit jeder möglichen Vorſicht. Hier iſt kein An⸗
derer die Urſache der uns drohenden Uebel; hier ſind wir es allein
ſelbſt. Wer die Furcht meiden will, meide die Unbehutſamkeit,
welche unangenehme Folgen nach ſich zieht. — Nicht die Ver⸗
drießlichkeiten, welche eine Frucht unſers Benehmens ſind, kön⸗
nen wir zurücktreiben; wohl aber ſteht es in unſerer Macht, ob
wir die Saat des Uebels ausſtreuen wollen oder nicht.
Manche andere Sorge entſpringt bei uns in der Ungewiß⸗
heit der Zukunft und der Furcht vor ſolchen Ereigniſſen, die
wir weder verſchuldet, noch veranlaßt haben, noch durch unſere
Kraft verhindern können. — Hier ſtehen wir in höherer Gewalt,
in der Hand deſſen, der dem Maͤchtigſten der Sterblichen wie dem
Schwächiten fein unvermeidliches Schickſal bereitet. — Fühlſt
du dich rein von eigenen Vorwürfen, ſo lerne, in deine Unſchuld
gehüllt, feſten Muthes jedes Schickſal erwarten, und ſieh der zu⸗
kunft fo männlich entſchloſſen, jo chriſtlich ſtolz entgegen, als dau
männlich und chriſtlich in deiner Vergangenheit gehandelt haft. —
F ˙ LA LA u a nn,
an
e.
Du trachteſt umſonſt, das, was geſchehen ſoll, abzuwehren, du
kaͤmpfeſt umſonſt gegen die Allmacht des Weltregenten! Deine
einzige Pflicht unter ſo ſchweren Drohungen der Zukunft bleibt,
allen Ernſt, alle Klugheit anzuwenden, dem anrückenden Uebel,
auszuweichen, oder ihm nicht Alles preiszugeben. Und haſt du
dieſe Pflicht gethan, daß du nicht mehr thun konnteſt, dann ver»
zage nicht. Dann hoffe auf den allhelfenden Gott; er hat deiner
nicht vergeſſen. Dein Schickſal, wie das Schickſal der Mächtige
ui Me
ften auf Erde, und des kleinſten Wurms, ift berechnet. Glaube
an ihn, und was dir auch geſchehe, er iſt der Gott der Liebe!
Sein Ziel für dich iſt Liebe, Wohlthat! — Er gibt dir dein
Glück, und ſelbſt im Tode iſt kein Unglück, wenn du erhaben
genug biſt, Chriſt zu ſein! — Wahrlich, der hat um die Be⸗
drückungen der jetzigen Zeit, oder wegen der Gefahren, die ihm
noch bevorſtehen, weniger Sorgen, geringere Furcht, der Gottes
Macht und Liebe recht zu beherzigen weiß, und voll Vertrauens
ihm ſeine Sache anheimſtellt, während der Bedrängte von der
andern Seite alle Klugheitsmittel ergreift, jedes mögliche Un-
glück von ſich und n Seinigen abzuwenden, oder es doch zu
vermindern.
Aber der Hang zum augſtlichen Kümmern, Fürchten und
Sorgen entſpringt gar oft auch nicht eigentlich aus bevorftehen-
den oder gegenwärtigen wirklichen Uebeln, ſondern aus einem
krankhaften Zuſtande des Körpers, aus Nervenſchwaͤchen
und allzugroßer Reizbarkeit. Viele Menſchen ſind heutiges Tages
mit dieſem Uebel behaftet, welches eine natürlich Folge entweder
unſerer eigenen verzaͤrtelten Lebensart, oder derjenigen der Ael-
tern geweſen ſein mag.
Unter ſolchen Umftänden iſt die Heilung von übertriebener
Furchtſamkeit allerdings ſchwierig, aber keineswegs unmöglich.
Du haſt dieſe Krankheit, ſobald du fühlſt, daß du gegen Alles
eine ſtarke Empfindlichkeit äußerſt; daß dich das Gute wie das
Schlimme allzulebhaft ergreift. Hier iſt's deine Pflicht, den
Rath eines verſtändigen Arztes zu vernehmen. Oft iſt
ſolch ein Uebel beſtändiger Aengſtlichkeit nur Anzeichen größerer
Krankheiten, die in deinem Körper entſtehen wollen. Hier hilft
oft ſchon eine einfachere, ſtrengere Lebensart, vielfältige, oft er»
zwungene Zerſtreuung, wo die trüben Gedanken durch fremde
Gegenſtände und Beſchäftigungen ſchnell verdrängt werden. Frei⸗
lich nicht in den erſten Tagen iſt damit das Uebel verſcheucht —
ſtrengere Lebensordnung und regelmäßige Zerſtreuung muß Mon-
den und Jahre lang fortgeſetzt werden, um den ungeſunden Zu⸗
ſtand allmälig zu verbeſſern.
Doch nicht körperliche Bewegungen und Zerſtreuungen, oder
— 404 —
die Mittel des Arztes, find allein vermögend, auf den Leib wohl-
thätig einzuwirken — auch der Geiſt ſelbſt muß das Seinige thun.
Er hat auf den Leib einen ungemein großen Einfluß; und fo
gewiß es iſt, daß Menſchen bloß durch ihre krankhaften Einbil⸗
dungen in der That ihre Geſundheit zerſtören können, eben ſo
gewiß iſt es, daß ein an ſich ungeſunder Leib durch Ruhe und
ſtille Heiterkeit des Gemüths geneſen und gerettet werden kann.
Daher finden wir, daß diejenigen Perſonen das hoͤchſte Alter zu
erreichen pflegen, welche immerdar eine gewiſſe Gleichmüthigkeit
zu bewahren wußten, und ſich weder einer allzugroßen Traurig⸗
|
keit und Furcht, noch einer allzuunbändigen Freudenbezeugung
überlaſſen. Sprich nicht: Aber dies kann der Menſch ſich weder
nehmen noch geben; das liegt einmal in der Natur: Nicht Jeder
vermag ſo viel über ſich! O du, der ſo redet, du gibſt damit zu
verſtehen, du ſeieſt ſchon allzuſehr Sklav deines Fleiſches gewor⸗
den, ſo ſehr Sklav, daß du ſelbſt nicht einmal mehr den Ge⸗
danken zu denken wagſt, dir Gewalt anzuthun. Iſt es dir un⸗
bekannt, daß Gewohnheit endlich auch die Natur des Menſchen
ganz verwandeln kann? Iſt es dir unbekannt, daß die Gewohn⸗
heit nur eine Folge von anhaltender Uebung iſt? — Verſuche
es alſo, dir in allen deinen Verhältniſſen einen unzerſtörbaren
Gleichmuth zu erhalten; in der Freude wie im Schmerz gleich
enthaltſam zu fein, nichts allzulebhaft über dich herrſchen zu laf⸗
ſen, ſondern dich von Allem, es freue oder betrübe dich, durch
augenblickliche ſchnelle Zerſtreuung und Abänderung des Gegen⸗
ſtandes loszuketten.
Faſſe gewiſſe, durch tauſend Erfahrungen und durch deine
eigene Vernunft bewährte Grundſätze, und hange
dieſen mit eiſernem Willen an. — Du biſt gerettet. Deine
Aengſtlichkeit, deine Sorgfalt wird dir verſchwinden, wie ein
düſterer Nebel, durch welchen die fröhliche Sonne bricht. Deines
Geiſtes ſtiller Gleichmuth wird dich vor unzähligen Mißgriffen
in deinem Leben bewahren, zu welchen dich bisher allzugroße
Empfindlichkeit oft verleiten mochte, und du wirſt ſchon darum
natürlich weniger Unglücksfälle oder Unannehmlichkeiten für dich
0
=
und die Deinigen zu befürchten haben, weil durch dein beſonnenes,
ruhiges Betragen weniger Anlaß dazu gegeben wird.
Eine übermäßige Furcht vor bevorſtehenden Widerwaͤrtigkeiten
iſt das Kennzeichen ſchwacher Seelen. — Starke Gemüther ken⸗
nen die Sorge auch, aber ſie benutzen dieſelbe zur Vorſicht und
zum entſchloſſenen Handeln für ihre Rettung. Der Schwächling
verzagt, und geht im Strome des Uebels unter, weil er in der
Angſt, von der er ſich zu ſehr einnehmen läßt, ſelbſt die Ret⸗
tungsmittel nicht ſieht, die doch nahe genug vor ihm liegen. Der
Starke, Beſonnene verliert mit dem Glück nicht zugleich den
Muth, es wieder erobern zu können. Er hält ſich kraͤftig über
den Wellen empor, bis er ein Brett vom Schiffbruch erhaſcht,
welches ihn rettet.
Uebermaͤßige Sorge, der wir uns fortgeſetzt überlaſſen, ft
eines der ſchrecklichſten Gifte für den Leib. Angſt und Kummer
ſtören die Thätigkeit unſerer innerlichen Theile, hemmen die Frei⸗
heit derjenigen Gefäße in uns, welche edle und unedle Säfte von
einander ſcheiden ſollen, oder deren Kreislauf befördern müſſen.
So entſtehen mit den ungeſunden Säften wahrhafte Verletzungen
unſers Korpers, die nicht ſelten deſſen ganze Auflöſung nach ſich
ziehen. Wie viele Menſchen ſahen wir nicht, welche ohne maͤnn⸗
liche Faſſung, ohne Chriſtenthum, der Raub ihres Grams und
ihrer Sorgen wurden; die unmerklich, ihrem traurigen Hange ſich
überlaſſend, verblühten, hinwelkten und ſtarben! — — Sie ſind
Selbſtmördern gleich zu achten, welche das Gift langſam ein⸗
ſchlürfen, an welchem ſie ihren Geiſt aufgeben wollen.
Doch nicht allein der Körper wird durch das anhaltende
Sorgen und Grämen geſchwächt, ſondern der Geiſt ſelbſt. Wie
willſt du dich retten, wenn dann die befürchtete Noth wirklich
eintritt, da du ſchon früh mit übertriebener Furcht die Kräfte
deines Verſtandes gelähmt haſt? — Das aber verderbt den Geiſt
am ſtärkſten, was ihn ohne Unterlaß beſchaͤftigt. Denn dies
Einerlei der Sorge und Angſt ermüdet ihn; Ermüdung zieht
Entkräftung, Stumpfheit, und in gewiſſen Lagen des Lebens
endlich wahrhaften Blödſinn nach ſich. Hingegen Abwechſelung
der Beſchäftigungen und Gedanken erquickt und ſtaͤrkt den Geiſt.
— 406 —
Sie macht ihn nicht zur nichtigen Beute einer einzigen Vor⸗
ſtellung, ſondern übt ſein Vermögen auf das Mannigfaltigſte.
Dies aber iſt das Uebel der Furcht und Sorge, daß ſie den
Geiſt immer nur mit einer und derſelben Vorſtellung bes
ſchäftigt. Dadurch wird er unfähig, etwas Anderes zu über⸗
legen, auch andere Dinge gehörig zu prüfen, und ſie zu ſeiner
Rettung in Anſchlag zu bringen. Wiſſen wir nicht, daß allzu
aͤngſtliche und furchtſame Perſonen oft wie geblendet handeln,
und alle Beſinnung verlieren? — daß ſie eben dadurch oft unter⸗
gehen, wo es jedem Andern leicht geworden ſein würde, ſich ohne
große Mühe aus der Verlegenheit zu retten? So lange iſt noch
nichts verloren, als man den Glauben an ſich ſelbſt und das
Vertrauen auf Gottes allmächtige Vaterhand nicht verloren hat.
Die Sorge und Bekümmerniß, wenn man ſich ihr allzuwill⸗
faͤhrig überläßt, und ſie nicht oft gewaltſam durch irgend eine
mächtige Zerſtreuung unterbricht, wird endlich zur herrſchenden
Gewohnheit. Dann ſieht die erhitzte, kränkliche Einbildungs⸗
kraft nichts, als was ſie fürchtet; ja ſie ſieht die bevorſtehenden
Uebel viel ſchrecklicher, als ſie in der That ſind, wenn ſie endlich
dicht vor uns ſtehen. Und ſind ſie vorüber, ſchafft ſich das an
Sorgen und Aengſtlichkeit gewöhnte Gemüth in allen Kleinig⸗
keiten neue Vorboten neuen Unglücks. Es verbittert ſich muth⸗
willig jeden Lebensgenuß, und macht ſich unfähig, das Leiden
zu tragen oder abzuſchütteln, wenn es uns überfällt.
So macht demnach anhaltendes Sorgen, immerwährendes
Nachdenken über einerlei Uebel daſſelbe ſchlimmer, als es iſt.
Nicht zwar das Uebel ſelbſt wird an ſich größer, als es iſt, ſon⸗
dern wir werden nur ſchwächer an Kräften, es mit demſelben
aufzunehmen. e
Darum höre auf das Wort des Weiſeſten, der jemals die
Noth des Lebens zu tragen hatte. Sorget nicht, ſprach er, für
den andern Morgen, denn der morgende Tag wird für
das Seine ſorgen. Es iſt genug, daß ein jeglicher Tag
feine eigene Plage habe! (Matth. 6, 34.).
Jeſus Chriſtus, als er dieſe Regel der wahren Lebensweis⸗
heit gab, wollte keineswegs zum Leichtſinn ermuntern, welcher
u
nichts in Erwägung zieht, von keiner Gefahr zu größerer Bora
ſicht gewarnt wird, ſondern blindlings ins Verderben hinein
ſchwindelt; — nein, ermuntern wollte er ſeine Nachfolger, alles
Schickſal, welches wir zu tragen beſtimmt ſind, mit leichtem
Sinne zu nehmen. Wer aber mit Vorſicht in allen ſeinen
Unternehmungen und Reden zu Werke geht, und in allem
Uebrigen auf Gott eine feſte Zuverſicht ſetzt, der fürchtet nicht
bald mit Uebermaß irgend ein Uebel; der läßt ſich von demſelben
nicht bald niederdrücken; ſondern er geht voll leichten Sinnes
unter ſeinem Ungemach hin, und denkt: Gott wacht noch über
mich! Er ſtrengt ſeine Kräfte zur ehrenvollen Rettung an, und
ſieht freudig einem beſſern Tag entgegen, denn er weiß: Wie es
iſt, bleibt es nicht! Unterm Monde wechſelt Alles!
In der That iſt das quälende Sorgen ſchon darum eine
Thorheit, daß wir die Noth, welche wir befürchten, unnützer
Weiſe ſchon thätig gegen uns machen, ehe ſie noch da iſt; daß
wir ſchon den heutigen und morgenden Tag um dasjenige mit
Jammer und Angit anfüllen, was noch nicht erlebt iſt. — Wie
es iſt, bleibt es nicht; unterm Monde wechſelt Alles. Wozu dein
ewiges Dichten und Trachten? Habe nur Muth, noch heute deiner
Stunde froh zu werden, dann wirſt du auch Kraft gewinnen,
die ſchwarze Stunde froh zu empfangen. Wie es iſt, bleibt es
nicht; unterm Monde wechſelt Alles! Wie vielmal haſt du es
erfahren; warum bleiben dir auch die ſchönſten Erfahrungen
fruchtlos; warum ängſtigſt du dich, als würden dieſe Verhaͤlt⸗
niſſe nun nie wieder anders werden können? Siehe, kein Tag
gleicht dem andern.
Ohnehin lehrt uns die Erfahrung daneben, daß gewöhne
lich dasjenige am wenigſten eintrifft, was man am
ängſtlichſten und längſten beſorgt hat. Wozu alſo die un⸗
nütze und frühzeitige, voreilige Bangigkeit? Wie wenig kann der
Menſch von einer Stunde zur andern vorſehen, was ſich Alles
begeben und abändern werde? Nur Gott regiert die Zufaͤlle und
lenkt die Herzen der Menſchen durch Umſtände, mit welchen er
ſie umgibt. Meiſtens trifft uns das Unglück von ganz andern
Seiten, als wir es erwarten. Daher fruchtet dein ängſtliches
= 41 >
Kuͤmmern zuletzt wenig. Sorget nicht für der andern Morgen,
denn der morgende Tag wird auch für das Seine ſorgen. —
Wandle muthig deinen Weg, mit Vorſicht, Klugheit, Redlichkeit
und Vertrauen auf Gottes Fürſorge, dann kannſt du auch, wenn
dich hart dein Verhangniß trifft, leichten Sinnes wandeln.
i Und dann, wenn das Uebel vorhanden iſt, ſuche auch
an ihm ſogar das Gute und Wohlthätige auf. Denn es
‚tft auf Erden kein Unglück, welches nicht auch irgend vortheil⸗
hafte oder angenehme Seiten habe. Wende den Blick auf dieſe,
und meide, bloß an dem Gegenſtande zu hangen, der dich am
meiſten betrübt. So wirſt du unvermuthet ſelbſt deines ſchweren
Schickſals Meiſter werden; ſo wirſt du ſelbſt an Dornen Roſen
für dich finden; ſo wirſt du erhabener als dein Schickſal, wahr⸗
haft Chriſt und Weiſer ſein.
Iſt aber die Noth am größten, dann ſteht dir Gottes
Hilfe am nächſten! — Kleinmüthiger, muſtere die Tage deines
vergangenen Lebens durch, und gedenke des Beiſtandes der Vor⸗
ſehung, die dir nicht nur Leiden tragen half, ſondern ſie auch oft
in eben ſo großes Glück für dich verwandelte. Auch damals in
deinen bangſten Augenblicken verzweifelteſt du: Wie wird dies
enden! — Auch damals dachteſt du zitternd: Nein, nun kann
ich in meinem Leben nie wieder froh werden! — Und ſiehe, wo
ſind jene Wetterwolken geblieben, die dich ſo ſehr erſchreckten, dir
alle Faſſung raubten? Sie find weit hinter dir verfloſſen und
verſchwunden; du biſt längſt jener Angſt entledigt, und haſt noch
manchen freudigen Tag erlebt. — Warum denn biſt du jetzt in
unmäßiger Unruhe? Warum verzagſt du jetzt an Allem? —
Freilich das nächfte Unglück ſcheint immer das größte von allen;
aber es wird endlich auch uͤberſtanden ſein, und dann hinter dir
klein werden. Der Gewitterhimmel iſt nur dann am ſchwaͤrzeſten,
ſo lange noch keine Blitze lodern; er wird ſchon heiter, wie die
Wetter über deinem Haupte ſchweben. — Wird deine Noth am
größten, iſt dein Gott am nächften. —
Ja, Du biſt mir nahe, denn Du biſt ja auch mein Vater,
Gott, Allbarmherziger, Troſt des Unglücklichen! Du biſt mir
nahe, wenn Alles von mir weicht. In Deiner Hand liegen die
cc
„
Verhaͤngniſſe; Du regierſt den Sinn der Sterblichen und die
Begebenheiten der Augenblicke. Du winkſt, und das Heiterſte
wird zur Nacht; und Du winkſt abermals, und die Finſterniſſe
hellen ſich unerwartet vor mir auf.
Allernächſter, Allerhöchſter! Wenn ich auch in meiner Nieder—
geſchlagenheit an Allem verzweifeln ſollte, doch an Deinen
Führungen will ich nimmer verzweifeln. Du, vielmals mein
Retter, wirſt mich auch in künftigen Anfechtungen retten, und
Deine Stärke zeigen, und die Macht Deiner Gnade. Vater der
Barmherzigkeit, ſo richte ich mich in meinem Angſtgedraͤnge
glaubensvoll an Dir auf. Du hilfſt dem, der an Dir hält. Und
ich bin nicht verlaſſen, da Du mich nicht verlaſſen willſt. Du
zählſt meine Thränen, Du hörſt meine Seufzer, Du kennſt das
geheime Sehnen meines Herzens, Du bereiteſt auch mir ſchon
die Stunde neuer Freuden vor, welche der Lohn meiner Traurig⸗
keit werden ſoll.
So verſinke ich nicht in vergeblichen Harm und Kummer.
Du biſt mein Gott! So will ich muthig in mein Verhängniß
eintreten; denn Du biſt mein Gott! — Ging Dein ewiger Sohn
nicht unerſchrocken in den Leidenskampf, wo nichts ihm blieb,
als ſein Erbarmen flehender Blick zu Dir? Ging er nicht feſten
Muthes den Todesweg zum Kreuze — glaubensvoll an Deine
Weisheit? Was können Menſchen mir ſchaden, Vater, Allbarm⸗
herziger, unergründlich Liebevoller, wenn Du mit mir biſt?
III. 18
— 410 -
48.
\
Von einigen gemeinen Fehlern im Berbeijer
unſerer Vermögensumſtände.
Sirach 11, 20 — 23. \
Ueberall vertrau' dem Herrn,
Nie iſt ſeine Gnade fern,
In der freudenreichen Zeit,
Wie in der Widerwärtigkeit.
Geh', erfülle deine Pflicht,
Kümm're dich um Andres nicht.
Iſt dein Werk vollbracht, wohlan!
Gott hat ſeines auch gethan.
Im Berufe fromm und treu,
Frage nicht, was beſſer ſei;
Gib du dem Berufe Werth,
Dann wirſt du durch ihn geehrt.
Geht es auch nicht, wie es ſoll,
Aermlich oft und ſorgenvoll:
Nun wohlan, ſo ſchlimm es ſei,
Gottes Leitung iſt dabei.
Blick' auf Gott und handle recht,
O fürwahr, fo kommt's nicht ſchlecht,
Reines Herz und froher Muth
Geht wohl über Geld und Gut.
Es iſt mir ſchon mehrmals ſehr aufgefallen, wie eifrig und ohne
Unterlaß Jedermann ſucht, bemittelter an Glücksgütern zu wer⸗
den; wie der Landmann, der Handwerker, der Kaufmann, ſelbſt
der Gelehrte, der obrigkeitliche Beamte, nach größern Einnahmen
trachten, und wie dann andrerſeits wieder manche Geiſtliche und
Lehrer gegen das Streben und Ringen nach Reichthum eifern,
den Reichthum ſogar verachten, und die Armuth preiſen, gleich
ſam als wenn kein Anderer ſelig werden köͤunte, als der Noth
leidende und Dürftige. Noch auffallender wird es, wenn ma
dergleichen Aeußerungen von Perſonen hört, die entweder ſell
ſehr wohlhabend find, oder wenigſtens von kei aer Nahrungsſor,
wiſſen, oder doch nach beſſern und eintraͤglichern Stellen ger
verlangen.
Es gehört gewiß zu den verfehrieften Begriffen, wenn me 4
a Mm =.
glaubt, es ſei eines Chriſten unwürdig, ſich den zeitlichen Sorgen
zu überlaſſen, um nach größerm Vermögen zu arbeiten; wenn
man immerdar auf den irdiſchen Mammon ſchilt, als ſei Reich—
thum ein unüberwindliches Hinderniß zur Seligkeit. Wer der-
gleichen in vollem Ernſte behauptet, iſt ohne Kenntniß der Welt
und des menſchlichen Herzens; falſch verſtandene Stellen der
heiligen Schriften brachten ihn zu übertriebener Verachtung des
Irdiſchen und zu ſchwaͤrmeriſchen Grundſätzen. Wer aber den
Reichthum öffentlich verachtet, und br ſelber ihn gern beſitzt,
iſt ein Heuchler.
Chriſtus Jeſus verachtete den Reichthum und deſſen Früchte
keineswegs, noch weniger hielt er alle reiche Leute für verlorne
arme Seelen. Wie hätte er alle Fürſten, alle Bermöglichen ver—
dammen, oder von ihnen fordern ſollen, daß ſie ihre Habe und
Gut weggäben? Würde das geſchehen fein, fo wären Bettler
wieder an die Stelle der Fürſten und Reichen getreten. Auch
unter Jeſu erſten unmittelbaren Schülern und Freunden waren
angeſehene und ſehr begüterte Perſonen. Ein ſolcher iſt unter
andern Joſeph von Arimathia geweſen, ein Rathsherr; der war
nicht nur ein guter frommer Mann, wie der Evangeliſt Lukas
ihn nennt, ſondern ein reicher Mann, welcher auch ein Jünger
Jeſu war, wie Matthaͤus (27, 57.) ſchreibt.
Es hat der heilige Lehrer des menſchlichen Geſchlechts nur
gegen die unmäßige Sorge und Bekümmerniß wegen zeitlicher
Guter geſprochen. Er empfahl den Armen Zufriedenheit und
Vertrauen auf Gott, den Bemittelten Genügſamkeit, und den
Reichen Barmherzigkeit gegen Nothleidende. Reichthum und deſſen
Genuß galt ihm für keine Sünde; er verbot nicht, durch Fleiß
und Rechtſchaffenheit feine Bermögensumftände zu verbeſſern;
er ſchaͤrfte nur die einzige große Wahrheit allen feinen Anhängern
wiederholt ein: daß irdiſches Gut nicht das Höchfte und Beſte für
uns auf Erden ſei; daß es noch etwas Höheres und Beſſeres für
uns als unſterbliche Weſen gebe, welches wir mit uns hinüber⸗
nehmen ins Ewige, und nicht wie anderes zeitliches Glücksgut im
Tode hinter uns zurücklaſſen.
Wenn ſich die Menſchen bemühen, ihr Eigenthum zu ver⸗
—
— 412 —
mehren, es ſei dies nun groß oder klein, ſo erfüllen ſie nur eine
natürliche Pflicht gegen ſich und die Ihrigen. Die Schöpferhand
Gottes hat zu dieſer Pflicht den Reiz ſelbſt in unſere Natur ge⸗
legt, weil dabei weit höhere Abſichten obwalten, als bloßes Geld⸗
ſammeln. Gott gab dem Menſchen Bedürfniſſe, und zwang ihn
damit zur Thätigkeit. Durch Froſt und Hitze, durch Durſt und
Hunger wurden die erſten Sterblichen zur Arbeit angetrieben.
Sie befriedigten ihre Bedürfniſſe anfangs unvollkommen, aber
die Noth ward ihre Lehrmeiſterin, das Beſſere zu verſuchen. Ge⸗
webte Kleider traten an die Stelle der Thierfelle; Häuſer an die
Stelle der Höhlen. — Der Erfindungsgeiſt ward aufgeweckt,
und indem er ſich zu dem Nothwendigen auch mit dem Ueber⸗
fluſſe verſehen wollte, lernte man erſt die mannigfaltigen Erzeug⸗
niſſe der Erde und den großen Reichthum der Schöpfung genauer
kennen und zweckmäßiger benutzen. Sofort mußten nothwendig i
die Begriffe von Mein und Dein entſtehen; die Grenzen des
Eigenthums wurden geordnet, und Jeder bei dem Seinigen be⸗
ſchützt, er mochte viel oder wenig beſitzen. So kamen die Vor⸗
ſtellungen von dem, was gerecht und billig, erhaben und nütz⸗
lich ſei, unter die Menſchen. Sie erfanden Geſetze und gemein⸗ |
ſame Anftalten. Was der Eine nicht hatte, tauſchte er vom |
Andern ein; dadurch entſtand der erſte Handel, und zur Er⸗
leichterung des Verkehrs ward das Geld erfunden, als ein
Werthzeichen für alle Waaren. Wer mehr beſaß, konnte den
Dienſt der Aermern nicht entbehren, und der Arme hatte die
Hilfe des Vermöglichern nöthig. So wurden durch das Streben
nach Eigenthum und Vermehrung deſſelben die ſonſt zerſtreuten
Menſchen immer enger mit einander verbunden, und ſich gegen⸗
ſeitig unentbehrlicher. Die Fortſchritte des Gewerbfleißes und
Handels verknüpften endlich ſogar die von einander entfernteſten
Nationen. Kein Weltmeer war zu groß, kein Gebirge zu hoch,
feine Wüſte zu gefährlich, daß man nicht zu einander gereiſet
wäre. Ehemals ſorgte nur Jeder für ſich allein, oder höchſtens
für ſeine ganze Familie; nun ſorgte man auch für ganze Ge—
meinden, für ganze Länder und Völker. Man lernte die Pflichten
der Gemeinnützigkeit kennen. Man faßte die geſammte Menſch⸗
—
L
.
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— 43 —
heit und ihr Beſtes ins Auge. Hohe allgemeine Wahrheiten,
allgemeine Rechte, allgemeine Pflichten wurden erkannt, von
denen der Menſch vorher keine Ahnung haben konnte, ſo lange
er ohne Eigenthum in der Einſamkeit lebte. Und in dieſem ganzen
Spiele der Nothwendigkeiten und Verbeſſerungen, in dieſem
großen Treiben aller Kräfte des Menſchen offenbarte ſich die Herr-
lichkeit und Weisheit der Abſichten Gottes mit dem menſchlichen
Geſchlechte. Hätte der Trieb nach Wohlſtand und Vermehrung
des Eigenthums gefehlt, wir lebten gleich den wilden Thieren
in Einöden und ihnen ähnlich.
Daß wir alſo ſuchen unſere Vermögensumſtände zu verbeſ—
ſern, iſt nicht nur kein verächtliches Bemühen, ſondern wahrhafte
Pflicht. Nur müſſen wir uns hüten, daraus nicht die Haupt⸗
ſache des ganzen Lebens zu machen, denn wir leben nicht
bloß für diefe Welt und für Geld und Gut, ſondern für etwas
Erhabeneres als irdiſchen Staub. Der Wunſch: im Wohlſtand
zu leben, ein betraͤchtlicheres Eigenthum zu beſitzen, iſt keine
Sünde; nur müſſen wir uns hüten, falſche Mittel anzuwen⸗
den, um Reichthum zu erwerben. Es iſt keineswegs uner⸗
laubt, ernftlich auf ein gutes Auskommen für uns und die Unſrigen
bedacht zu ſein; nur müſſen wir uns hüten, daß das Sorgen
um Glücksgüter uns nicht den Genuß desjenigen Glücks
raube, welches wir wirklich ſchon beſitzen. i
Ich habe ein herrliches, lehrenvolles Wort in der heiligen
Schrift geleſen, das mich in dieſer Hinſicht immer erquickt und
gehoben, und wenn ich irgend einmal wankte, immer wieder auf
den richtigen Weg zurückgewieſen hat. Ich will es mir auch hier
wiederholen, und auch heute daraus ächte Lebensweisheit lernen.
Es lautet alſo: „Bleibe in Gottes Wort und übe dich darinnen;
und beharre in deinem Beruf; und laß dich nicht irren, wie die
Gottloſen nach Gut trachten. — Vertraue du Gott und bleibe
in deinem Beruf; denn es iſt dem Herrn gar leicht, einen Armen
reich zu machen. — Gott ſegnet den Frommen ihre Güter, und
wenn die Zeit kommt, gedeihen fie bald.“ (Sir. 11, 20 — 23.)
Bleibe in Gottes Wort und übe dich darinnen. Dies
iſt das Hauptwerk unſers Lebens, treu den göttlichen Anweiſungen
— 414 —
zu unſerer Glückſeligkeit zu ſein. Die Glückſeligkeit liegt aber
nicht in größerm oder geringerm Gute, ſondern in unſerm Herzen.
Wäre ich bloß ein Thier, wäre mit dieſem Leben unterm Monde
Alles aus, ſo möchte gut Eſſen und Trinken, und bequemes und
behagliches Daſein wohl die Hauptſache in der Welt ſein. Aber
an mir iſt etwas Unſterbliches, der helle Gottesfunke, mein ewiger
Geiſt; dem nützen offenbar die Reichthümer der Erde nichts, denn
ſie folgen ihm nicht in die Ewigkeit nach. Er läßt Leib und Gut
zurück. Nur das Heilige und Göttliche, das er ſich erworben,
behält er; je vollkommener hier, je vollkommener dort.
So bleibe denn in Gottes Wort und übe dich darinnen. Chri⸗
ſtus Jeſus hat es dir gebracht. Denke weit mehr darauf, der
Tugendhafteſte und Liebenswürdigſte unter deinen Bekannten,
als der Reichſte und Wohlhabendſte unter ihnen zu ſein. Sinne
weniger darauf, wie du großes Vermögen erwirbſt, als vielmehr,
wie du das nützlich für dich und deine Mitmenſchen anwenden
kannſt, was du ſchon beſitzeſt. Verlange und gebrauche für dich
ſo wenig als möglich; — Andern leiſte deſto mehr. Wer für ſich
wenig bedarf, hat noch Ueberfluß für Andere. Der Reiche iſt
arm, wenn er mehr für ſich gebraucht, als er hat. Froher Muth
iſt nicht um Geld feil, du kannſt ihn nicht um Tonnen Goldes
kaufen. Aber dem Zufriedenen geht Alles wohl von ſtatten;
darum mehrt ſich ſein Wohlſtand ſichtbarlich. Lebe göulig? wie
Jeſus, der Menſchenfreund, in Gott; bete, arbeite.
Und beharre in deinem Beruf. Es iſt ein großes Uebel
zu unſerer Zeit, daß ſo viele Menſchen mit ihrem Stande und
Berufe unzufrieden ſind. Stolz und Eitelkeit, oder Geldſucht,
treibt ſie, immer höher hinauf zu wollen. Ohne ihr Vermögen,
ohne ihre Kräfte zu berathen, nur gereizt von ihrem Eigendünkel,
wählen ſie einen andern Stand und verderben darin. Daher
kommt es, daß in vielerlei Berufsarten und Geſchaͤften ſo vielerlei
Stümper und Pfuſcher gefunden werden.
Da ſieht man Landleute: haben fie einiges Vermögen, jo maß
ihr Sohn zum Handelsſtande erzogen werden oder ſtudiren. Ob
der Sohn erforderliche oder ausgezeichnete Neigung und Fähig—
keit zu Geiſtesarbeiten beſitze, das wiſſen fie nicht, konnen fie nicht
— 45 —
zeurtheilen, darnach fragen fie auch nicht; ſondern ihnen iſt ſchon
genug, zu glauben, der Sohn könne in anderm Berufe beque-
mere Tage leben. So wird manches mühſam erworbene Ver⸗
mögen nachher zerſplittert; oder der Jüngling, ohne hinreichendes
Gut, eine Handlung zu gründen, oder ohne glänzende Anlagen
oder wichtige Verbindungen, in höhere Stellen einzurücken, wird
einer der Gemeinen oder Letzten in ſeiner Art, wahrend er einer
der Erſten unter den Landleuten geworden fein würde.
Da ſieht man Handwerker; manche derſelben, welche nicht
einmal Geſchicklichkeit genug haben, wahre Meiſter in ihrem Be—
rufe zu ſein, folglich verachtet ſind, und wenig verdienen, wählen
entweder ein anderes Gewerbe, welches ihnen ergiebiger ſcheint,
und verderben auch endlich darin, oder ſie widmen doch ihre Kinder
einem höhern Stande. Andere, denen es nicht an Verſtand fehlt,
aber auch nicht an Hochmuth, ſchamen ſich ihres Berufes, in
welchem ſie etwas Vorzügliches leiſten könnten, und werfen ſich
in Fächer, worin fie wegen mangelnder Kenntniſſe immer hintenan
ſtehen; oder buhlen um allerlei Aemter und obrigkeitliche Plaͤtze,
treiben Vielerlei, verſehen Vielerlei; zerſplittern ihre Zeit und
Kräfte; leiſten daher in Keinem etwas Vorzügliches, und kommen
in ihren Vermögensumſtänden immer weiter zurück, als vor⸗
wärts. — Woher rührt heutiges Tages an ſo vielen Orten die
Verſunkenheit des vor Zeiten hochgeachteten goldenen Handwerks-
ſtandes? Weil ihn thörichterweiſe der Handwerksmann, der gern
mehr fein möchte, zuerſt geringſchätzt. Woher an fo vielen Orten
der Verfall des Handwerks und der Kunſt, die ſonſt blühend war?
Gewiß nicht allein durch die Schlechtheit der Zeiten, oder durch
das Entſtehen zahlreicher Fabriken; ſondern gewiß auch daher,
daß ſtolze Aeltern ihre Söhne, wenn dieſelben Fähigkeiten zei-
gen, oder wenn ſie ihnen anſehnliches Vermögen hinterlaſſen
können, dem Berufe des Handwerkers entziehen. Wenn nun dem
Handwerke die beſſern Köpfe und wohlhabenden Lehrlinge ent⸗
riſſen werden: wie ſoll es aufblühen? Es muß ſich nothwendig
verſchlechtern und in Verfall gerathen durch die Armſeligkeit und
Hilfloſigkeit derer, die es treiben, fo wie durch die Mittelmäßig⸗
keit oder den Mangel der erforderlichen Geiftesanlagens
— 416 —
Solche Thorheiten des Stolzes werden in allen Standen
begangen, und ziehen in allen daſſelbe nach ſich. Und ſo wie man
mit den Söhnen und ihrer zukünftigen Beſtimmung Unfug treibt,
eben ſo mit der Erziehung der Töchter. Sie ſollen mehr werden,
als die Mutter; in einen höhern Stand hinüber heirathen. Sind
fie nicht mißgeſtaltet, haben fie die gewöhnliche Anmuth, welche
die Jugend gibt, ſo werden ſie mit unmäßigem Aufwande aus⸗
geſchmückt, um die Augen der Höhern auf ſich zu locken. Man
unterrichtet ſie in den Künſten des Gefallens und Vergnügens ſo
eifrig, oft eifriger als in den Wiſſenſchaften und Tugenden einer
beſcheidenen, frommen, thätigen, Ordnung liebenden Hausfrau.
Wahrlich, wahrlich, eine große Zahl unſerer Jungfrauen, die
den Vorwurf der Putzſucht, der Schönthuerei, Gefallſucht, un⸗
ſittlichkeit und Zeitverſchwendung mit Recht verdienen, find zu
allen dieſen Untugenden erſt mit großer Mühe von ihren eigenen
Aeltern angeleitet worden. Weit entfernt, daß man die Tochter
einem fleißigen, redlichen Jüngling zur Ehe gibt, der fähig iſt,
ein Weib, zwar nicht im Aufwand, doch ehrlich und anſtändig
zu ernähren, und deſſen und des Mädchens Herz vielleicht ſchon
Liebe verband, wird die Unglückliche aufgeſpart, in Erwartung,
daß ein Vornehmerer oder Reicherer um ſie werbe. Sie eine Stufe
unter ihrem Stande hinzugeben, ſcheint dem Stolze eine Tod⸗
ſünde zu ſein, nicht aber, daß die Beklagenswürdige vielleicht in
eheloſer Verlaſſenheit bleibt, oder einem Manne aufgeopfert wird,
mit welchem ſie in unglücklicher Ehe untergeht, weil er zwar
Alles Andere, nur nicht die Tugenden beſitzt, ein gutes Weib
glücklich zu machen. Wie mancher Fluch ruht ſchwer auf der
Aſche ſtolzer Aeltern!
Beharre in deinem Berufe! Ehre ihn, und er wird dich
wieder ehren. Iſt es nicht rühmlicher, Meiſter und Vortrefflicher
in deinem Gewerbe und Stande zu ſein, als einer der Letzten in
jedem ſogenannten höhern? Du kennſt die Vortheile und Nach»
theile des deinigen, bei weitem aber nicht das Schwierige in jedem
andern. Glaubſt du, ein anderes Gewerbe oder ein anderer Stand
werde dir reicheres Vermögen bringen? Nein, größerer Fleiß,
größere Geſchicklichkeit, größere Sparſamkeit und größeres Glück
— 417 —
bringen größeres Gut. Aber Bequemlichkeit, Traͤgheit, Unge—
ſchicklichkeit, Aufwand über Vermögen, find überall von Unſegen
begleitet.
Laß dich nicht irren, wie die Gottlofen nach Gut
trachten. Wer recht arbeitet in ſeinem Fache und geſchickt, dabei
in feinen Bedürfniſſen und Ausgaben die nöthigen Einſchrän—
kungen zu machen weiß: der hat zu leben, und von Menſchen
Ehre, von Gott Segen zu erwarten. Aber Ungenügſamkeit mit
den Früchten des Berufs führt in höhern und niedern Ständen
immerdar zu Armuth und Verderben.
Derjenige iſt ſchon halb verloren, der, um ſich noch mehr
Geld zu machen, auf Nebenſachen den Blick wirft, die mit ſeinem
Berufe in keiner Verbindung ſtehen. Er vernachläſſigt dieſen
ganz gewiß, weil er ihm einen wichtigen Theil der Aufmerkſam—
keit und Zeit entzieht, die er erfordert. Sei lieber mit mäßigem
Gewinn zufrieden, als ihn durch zeitverſplitternde Nebengewerbe,
oder durch gefährliche Wageſtücke, oder wohl gar durch unan⸗
ſtändige, verbotene Hilfsmittel zu vermehren. Ein ſolcher geht
früher oder ſpäter doch endlich zu Grunde.“
Was dir deine redliche Hand erwirbt, iſt beſſer, als was man
dir ſchenkt, und was du im Schweiße deines Angeſichts errungen
haſt, dauert länger, als ein Schatz, den du von ungefähr ge—
funden. Auf Anderer Koſten leben und Schmarotzereien treiben,
iſt ein unedles Gewerbe, iſt vornehmthuende Bettelei, und zieht
den Verfall des eigenen Hauſes nach ſich. Denn wer da ſchmarotzt,
muß Andern mehr gehören, als ſich ſelber. Darum ſchalt auch
der Jeſusjünger Paulus dir Trägeh, welche ſich gern bei Andern
wohl ſein ließen. Wir gebieten ihnen und ermahnen ſie (ſprach
er) durch unſern Herrn Jeſum Chriſtum, daß fie mit ſtillem
Weſen arbeiten und ihr eigenes Brod eſſen. (2. Theſſ. 3, 12.)
Die verderbliche Sucht iſt ziemlich allgemein geworden, durch
Glücksſpiele und Lotterien ſeinen Wohlſtand zu vergrößern. Man
möchte ohne Mühe im Schlafe reich werden, und denkt, ich kann
ſo gut gewinnen, als ein Anderer. Darüber wird das Erſparte
und Erübrigte an fruchtloſe Hoffnungen verſchwendet, mit frucht-
loſen Hoffnungen das Häusliche verfäumt, der Beruf nachläffiger:
— 418 —
betrieben; je mehr verloren wird, je ungeſtümer und draͤngender
wird das Bedürfniß, zu gewinnen. Es iſt das durch die Lotterien
erzeugte mannigfaltige Elend in zahlloſen Familien, die Ausſau⸗
gung und Verarmung von Land und Leuten, die damit zu Grunde
gerichtete Sittlichkeit in vielen Haushaltungen ein gerechter und
ſchwerer Vorwurf, der den Staatsverwaltungen zu machen iſt.
Vielleicht mag ihnen der Druck der Zeiten zur Entſchuldigung
dienen, daß man Mittel anwenden müſſe, vom Volke Geld zu
ziehen. Allein unter allen Mitteln iſt doch dieſes wohl das un-
weiſeſte, weil es die Sitten vergiftet, den Wohlſtand untergräbt,
und die Menge der Verbrecher wie der Armen ſelbſt in den höhern
Volksklaſſen mehrt. Lotterien find gefährliche Staatsauflagen
auf die Thorheiten und Laſter der Landesbewohner; und man
nährt Laſter und Thorheit, um deſto mehr Geld davon zu löſen.
Laß dich nicht irren, wie die Gottloſen nach Gut
trachten. Sie haben immer ſchlechten Gewinn. Tauſendfältiges
Zeugniß hat die Erfahrung gegeben, daß unrecht Gut nie gedeiht.
Mögen es die Einen mit Verfälſchung ihrer Waaren, mit Ver⸗
fälſchung von Maß und Gewicht, mit Uebervortheilung und gro—
bem oder feinerm Betrug erwerben; Andere durch falſche Eide;
Andere durch verruchte Ränke und ſchändliche Prozeſſe; Andere
durch Kuppelei und Hurerei; Andere durch Speichelleckerei bei
den Großen, und heimtückiſche Verdrängung der Rechtſchaffenen;
Andere durch ehrloſe Angebereien; Andere durch Umgehung oder
Uebertretung der Landesgeſetze, Einſchwärzung verbotener Waa—
ren; Andere auf andere unerlaubte Weiſe: — es iſt unrecht Gut.
Und es hangt ein Fluch daran, der ſich nicht losreißt, und Alles
wieder verdirbt. Nie bleibt dem Mifjethäter der Tag aus, da
ſein Wohlſtand in Armuth, fein Anſehen in Schmach untergeht —
der Tag gefährlicher Entlarvung und Offenbarung.
Vertraue du Gott und bleibe in deinem Berufe;
denn es iſt dem Herrn gar leicht, einen Armen reich zu
machen. Haſt du das Nothwendige, ſei zufrieden; warum be—
gehrſt du denn das Ueberflüſſige? Du glaubſt, es werde dich und
die Deinigen beglücken. Nein, weißt du es beſſer, als Gott? Gibt
er dir Mangel, ſo iſt dieſer gewiß der Weg zu deinem Glück. Gibt
— 419 —
er dir Reichthum, fo iſt es gewiß in der Stunde, welche die aller—
vortheilhafteſte iſt zu deinem Heil. In ſeiner Hand ruht das
Weltall und jeder Faden am Gewebe des Schickſals. O glaube
es doch, ihm iſt es leicht, dich arm oder reich zu machen; welches
zu unſerm Segen ſei, weiß er am beſten. So viel aber weiß ich,
daß denen, die Gott lieben, alle Dinge nothwendig zum Beſten
dienen müſſen.
Gott ſegnet den Frommen ihre Güter, und wenn die
Zeit kommt, gedeihen fie bald. Wer iſt denn fo fremd in
der Welt, daß ihm unbekannt geblieben wäre, wie viele ehrliche,
arbeitſame, gottesfürchtige Familien zu großem Wohlſtande ka—
men, und wie dieſer wieder verſchwand, ſobald die übermüthigen
Beſitzer oder Erben dadurch zu Thorheiten verleitet wurden?
Wem wären ſo viele Beiſpiele unbekannt geblieben, wie das Gut
ehrlicher Familien unvermuthet herrlich gedieh? Immer iſt einmal
die Zeit gekommen, und was den frommen Aeltern nicht ward,
gereichte noch ihren Kindern zur großen Segensfülle.
Ach, mein Gott, in ſtummer Ehrfurcht bete ich Dich an,
und vertrauensvoll wendet ſich mein Auge zu Dir empor. Ich
bitte ja nicht um Reichthum, nur um Weisheit bitte ich, daß ich
nie vergeſſe, wie Genügſamkeit, Berufstreue, ehrlicher Sinn,
und unverdroſſene Arbeitſamkeit, verbunden mit heiliger Liebe
zu Dir, die Quellen des Glückes und alles dauerhaften, wahren
Reichthums ſind, der noch den Kindern zum Segen wird. Thue
mit mir, wie Dir gefällt; mache mich arm oder reich: ich werde
zufrieden fein. Du biſt ja mein Gott, Du kannſt mich nicht un-
glücklich machen. Sollte ich unglücklich werden, ſo bin ich's nicht
durch Dich ſondern durch meine Fehler, und daß ich das Irdiſche
jemals lieber hatte, als das Göttliche und Ewige. Ach, mein lieber
Gott, ſtärke mich in dieſer Geſinnung! Amen.
4
47. 1
Verſechwie genheit
Spr. Sal. 25, 9.
Laßt uns halten Treu und Glauben,
Flieh'n, was Andern Schaden dräut;
Keinem das Geheimniß rauben,
Was er nicht von ſelbſt uns weiht.
Was der Freund dem Freund vertraut,
Werde Keinem Dritten laut.
Laßt uns nie, was wir verſprechen,
Widerrufen, weil's uns reut;
Nie, was zugeſagt iſt, brechen!
Meidet die Geſchwätzigkeit!
Flamm' und Schwert verheeren viel,
Mehr noch falſcher Zungen Spiel.
Eine viel zu wenig beachtete Urſache von zahlreichen Unannehm⸗
lichkeiten des Lebens, die wir theils Andern, theils uns ſelbſt
machen, iſt der unüberlegte Gebrauch unſerer Worte. Wie viele
Verdrießlichkeiten und Feindſchaften ſtiften wir uns und Andern,
oft ohne es zu wiſſen, oder zu vermuthen, durch allzugroße Offen-
herzigkeit! Daher iſt es ein wichtiger Theil chriſtlicher Lebens⸗
weisheit, welche die heilige Schrift empfiehlt, da ſie ſagt: Wer
leben will und gute Tage ſehen, der ſchweige ſeine Zunge.
(1. Petri 3, 10.) |
Wohl reden ift eine Kunſt, aber die Kunſt des, Schweigens
oft noch eine größere. Wir fehlen, ſagt der Apoſtel, Alle man⸗
nigfaltiglich. Wer aber auch in keinem Worte fehlet, der iſt ein
vollkommener Mann, und kann auch den ganzen Leib im Zaume
halten. (Jak. 3, 2.)
Rede, wo es nützen kann; ſchweige, wo s ſchaͤden kann! In
dieſen wenigen Worten haft du die ſchöͤne Tugend der Offen—
herzigkeit und die eben ſo ſchoͤne Tugend der Verſchwiegen—
heit enthalten.
Durchgehen wir unſere Städte, unſere Dörfer: wie viel Miß⸗
trauen überall! Wie ängftlich beobachtet da der Eine den Andern,
wie viel Heuchelei lächelt da aus allen Mienen — und woher
— 421 —
dieſer Mangel gegenſeitiger Zutraulichkeit und Herzlichkeit? Man
iſt zur unrechten Zeit verſchwiegen und zur en Zeit offen⸗
herzig.
Wie viele Familien, die ſonſt find mit nit verbunden‘
waren, find jetzt getrennt, gehäſſig und feindſelig zuſammen!
Und doch hat keine die andere um Gut und Vermögen betrogen,
keine die andere gefliſſentlich ins Verderben geſtürzt. Was hat
die Trennung bewirkt? Unvorſichtige Geſchwätzigkeit!
Du klagſt über Mangel an wahren Freunden; über die Kälte
oder Gehäſſigkeit der Leute gegen dich; du klagſt, daß du kein
Wort reden dürfeſt, welches nicht ſogleich mißdeutet würde; du
weißt nicht, wodurch du dieſe Behandlung verdient habeſt; du
biſt in dir überzeugt vielmehr, daß du Jedem alles Gute gönneſt;
daß du gern beiſtehſt, wo man deine Hilfe begehrt; daß du dich
gegen Jeden freundlich und gefällig gezeigt haſt; du weißt dir
keinen Vorwurf zu machen, und doch hält man ſich von dir in
einer gewiſſen Entfernung. Woran liegt es? Ach, vielleicht an
einer unbeſonnenen Viertelſtunde, da du deine Zunge allzuwenig
im Zaume hielteſt, und Aeußerungen über Dieſen oder Jenen
thateſt, die den vorſichtig gegen dich machten, gegen den du ſehr
unnütz offenherzig warſt, und den dir zum Widerſacher machteſt,
über welchen du geſprochen haſt, was ihm nicht lieb ſein konnte.
Aber du magſt dich vielleicht deiner Worte und ſelbſt der Viertel-
ſtunde nicht mehr erinnern; das iſt aus deinem Gedächtniffe längſt
verwiſcht, worauf du damals in unvorſichtiger Geſchwätzigkeit
gar keinen Werth gelegt, und womit du gar keine böſe Abſicht
verbunden hatteſt. Allein, vergiß es nicht, wer mit ſeinem Schwerte
in der Schlacht kämpft, vergißt leicht diejenigen, welchen er Wun⸗
den beibringt, aber die, welche Wunden empfingen, denken lange
daran, ſo oft ſie die Narben erblicken.
Darum ſei die goldene Lehre der heiligen Schrift jedem Chri-
ſten Geſetz im Umgange mit Menſchen: Handle deine Sache mit
deinem Nächſten und offenbare nicht eines Andern Heimlichkeit.
(Spr. Sal. 25, 9.)
Gewöhnlich macht man ſich von der Verſchwiegenheit einen
ganz falſchen Begriff, indem wan darunter nur Geheimhaltung
— 422 —
deſſen verſteht, was uns ein Anderer von irgend einem Vorfall,
oder von feinen eigenen Abſichten oder Umſtänden oder Verbin⸗
dungen anvertraut hat. Man glaubt dann ſchon den Ruhm eines
Verſchwiegenen anſprechen zu können, wenn man dergleichen,
was ausdrücklich unter dem Siegel der Heimlichkeit gegeben wor⸗
den iſt, treu bewahrt.
Keineswegs! Nur der iſt verſchwiegen, der nie von Geheim-
niſſen redet, ſie mögen ihm beſonders mitgetheilt oder von ihm
zufällig entdeckt worden ſein, und der da weiß, was Geheim—
niß iſt. Geheimniß iſt aber dem Weiſen alles dasjenige, wovon
jeder ſeiner Mitmenſchen wünſcht, daß es nicht allgemein bekannt
werde, um dadurch nicht bei irgend einem Anlaß in Gefahr des
Schadens zu kommen. Was Andere alſo ſelbſt gern geheim halten
möchten, dies bekannt zu machen, halte dich niemals berechtigt,
wenn dir nicht höhere Pflichten gebieten, darüber zu reden.
Zu ſolchen Dingen, die Niemand gern öffentlich bekannt wer⸗
den läßt, und die daher den Werth von Geheimniſſen haben, ge=
hören nicht bloß mancherlei Anſtalten und Plane, die, wenn ſie
vor der Zeit laut würden, vereitelt wären; ſondern auch haus⸗
liche Vorfälle und Angelegenheiten, Vermögensumſtände, gewiſſe
Verbindungen, was man niemals gern alle Welt erfahren läßt,
weil auch das an ſich Unſchuldige leicht mißdeutet werden kann,
oder mancher übeldenkende Menſch davon nachtheiligen Gebrauch
zu machen im Stande wäre, Ferner gehört zu dem, was Jeder
geheim hält, ſeine Gebrechen, Fehler und Schwächen, deren er
ſich ſchämt, die er vielleicht ſelbſt bekämpft, die er aber nie gern
zur offentlichen Schau geſtellt ſehen möchte; eben jo gehören dahin
Reden und Urtheile, die man in vertrauten Kreiſen äußert, die
ſogar ſehr wahr ſein können, aber durch Bekanntmachung die
nachtheiligſten Folgen bewirken würden.
So iſt denn Alles Geheimniß, wovon du vermuthen kannſt,
daß es einem Andern mißfallen müßte, wenn er erführe, daß du
daraus einen Gegenſtand des Geſprächs gemacht hätteſt. So iſt
das wirklich ein Geheimniß, wenn du ſelbſt wünſchen möchteſt,
wenn es dich beträfe, daß es nicht Jedermann erführe.
— 423 —
In dieſem Sinne übe Verſchwiegenheit über die Heimlich—
keiten Anderer und über deine eigenen Angelegenheiten.
Sei verſchwiegen über die Heimlichkeiten Anderer,
du magſt nun ſelbſt dahinter gekommen ſein, oder man mag ſie
dir vertraut haben. Kein Menſch hat das Recht, von Andern zu
offenbaren, was fie ſelbſt nicht offenbaren wollen. Was dein Ge⸗
heimniß iſt, das iſt dein Eigenthum; wer es ohne deinen Willen
der ganzen Welt mittheilt, begeht eine Gewaltthätigfeit, einen
Diebſtahl an dem, was dir gehört.
Gewöhnlich iſt die Geſchwätzigkeit eine Folge der entarteten
Lebhaftigkeit des Geiſtes und des Leichtſinns; weit öfter noch die
Folge der Sucht, ſich bei Andern wichtig zu machen, und ſeine
Meinungen glänzen zu laſſen; oft eine Folge der Bosheit und
Schadenfreude.
Immer alſo kann man bei demjenigen, der die Reden und
Handlungen Anderer ausbringt, von denen beſſer wäre, daß ſie
nicht bekannt würden; oder der die Gebrechen und Schwächen
des Andern zum Geſpräche macht; oder der die häuslichen An-
gelegenheiten, die Vermögensumſtände, die Entwürfe und Abſichten
eines Dritten ausplaudert — immer, ſage ich, kann man bei einem
Solchen Schlechtigkeit des Herzens vorausſetzen. Denn Leichtſinn
iſt eben ſowohl eine Krankheit der Seele, als Schadenfreude;
beide gehen nur zu oft Hand in Hand, beide ſind in ihren Wir⸗
kungen auf Glück und Wohlfahrt der Menfchen gleich gefährlich,
Willſt du verſchwiegen ſein über die Angelegenheiten Anderer:
ſo meide, von ihnen dasjenige bekannt zu machen, was ihnen in
der Achtung eines Dritten Schaden bringen könnte. Daher hüte
dich, jedes nachtheilige Urtheil über Andere, ohne es gehörig
überdacht zu haben, mit Freiheit herauszuſagen: ihre Reden,
ihre Meinungen, inſofern ſie Angelegenheiten anderer Perſonen
betreffen, auch nicht im Kreiſe deiner vertrauteſten Freunde zu
wiederholen, wenn du irgend vermuthen kannſt, daß dies durch
Weiterſagen ihnen ſchaͤdlich werden könnte, oder inſofern du ſelbſt
findeſt, daß fie übereilt und unbeſonnen ſprachen. Denn die Un—
beſonnenheit der Andern gibt dir keine Befugniß, ihnen nachzu-
ahmen. f
—
Hörſt du in Geſellſchaften von deinem Nebenmenſchen üble
Urtheile und Reden, da nimm keinen Theil am Geſpräch,
wenn du nicht fähig biſt, den Falſchbeurtheilten mit Beſcheiden⸗
heit und Gründlichkeit zu vertheidigen. Auch das Schweigen iſt
oft Beredſamkeit, und ärntet bei den Verſtändigen Ruhm, we⸗
nigſtens nie Haß. Es fehlt nie, daß früher oder fpäter derjenige,
deſſen Schwächen oder Häuslichkeiten beurtheilt wurden, wieder
vernimmt, was geredet ward, und er wird dein weiſes, beſonne—
nes Schweigen ehren. Du haſt dir ein Herz erobert, ohne den
Mund aufgethan zu haben.
Man kann es keineswegs meiden, über fremde Angelegenheiten
zu reden. Dann mache du dir, in Geſellſchaft, wie im Geſpräche
mit vertrauten Perſonen, ein Geſchäft daraus, das Gute, was
dir von Andern bekannt iſt, ihre beſſern Eigenſchaften, ihre freund⸗
lichen Urtheile uͤber Andere, ihre einzelnen guten Handlungen
hervorzuheben und bemerkbar zu machen. Das Lob, das du
gibſt, bewirkt in denen, die es hören, Empfindungen der Liebe
und Achtung gegen den Gelobten; du vermehrſt die Freundſchaft
der Menſchen, ihre Eintracht, ihre Gefälligkeit unter ſich, und
auf dich ſelbſt fällt der ſchönſte Theil des von dir geſtifteten Guten
zurück. Denn die Freunde des von dir Gelobten und er felbit:
werden deine Freunde.
Hüte dich auf alle Art, Geheimniſſe zu erfahren; weiche viel⸗
mehr den Gelegenheiten dazu aus. Je weniger du weißt, je ru—
higer wirſt du ſein, je herzlicher wirſt du Andern begegnen. Oft
ſetzt die bloße Bekanntſchaft mit einem Geheimniß in große Ver⸗
legenheit, und in Gefahr, es wider ſeinen Willen, durch einen
Blick, durch eine Miene, durch ein Erröthen zu verrathen. Oft
ſetzt das Mitwiſſen um ein Geheimniß in die unangenehmſte Lage,
als Zeuge aufgefordert und in Händel verwickelt zu werden, die
ſchlimme Folgen haben. Oft bringt es uns, ſelbſt wenn wir die
ſtrengſte Verſchwiegenheit beobachten, in die nachtheilige Lage,
vor der Welt als Verraͤther zu erſcheinen, wenn Andere, ge—
wiſſenlos genug, die Sache verriethen. Denn es gibt leichtſinnige
Menſchen, die, was ihnen Geheimniß ſein ſollte, gern mehrern
Vertragten zugleich mittheilen. Wenn dann einer dieſer Ver—
— 425 —
trauten nicht reinen Mund hält, hingegen den Verdacht der Ver⸗
raͤtherei von ſich abzuwaͤlzen verſteht, und allerlei Umſtaͤnde den
Argwohn auf uns ziehen — wie unſchuldig können wir da bloß
durch das Mitwiſſen um eine geheim zu haltende Sache in den
Ruf des Verräthers und um das Vertrauen rechtlicher Leute
kommen!
Biſt du aber durch deine Verbindungen, oder durch deinen
Beruf, oder durch eigene Bemerkungen mitkundig um Dinge,
die derjenige, den fie angehen, gern geheim hält, oder feines eige-
nen Beſten willen geheim halten ſollte: ſo wende deine Gedanken
davon hinweg, als wüßteſt du nicht darum. Verſchweige dir
ſelbſt gleichſam die geheim zu haltenden Dinge, und meide auch
entfernte Anläſſe, welche Vermuthung erregen könnten, du ſeieſt
unterrichtet. Verbirg es deinem vertrauteſten und beſten Freunde,
denn du biſt ja nicht ſicher, wie lange er noch dein Freund ſein
werde.
Geheimniſſe Anderer zu offenbaren, iſt nur da erlaubt, wo
es höhere Pflichten gebieten. Dies iſt der Fall, wenn es Geſetz
und Obrigkeit des gemeinen Beſten willen gebieten. Hier iſt Ver⸗
ſchwiegenheit ein Verbrechen, und Geheimhaltung eine Theilnahme
an der Schuld. Es iſt Pflicht, zu reden, wo das Geheimniß,
um welches wir wiſſen, boshafte Plane zum Schaden Anderer
enthält. Hier ſchweigen, waͤre nichts Anderes, als ein Gehilfe
des Böſewichts zum Untergange oder Nachtheile des Unſchuldigen
ſein. Es iſt Pflicht zu reden, wenn wir die Denkart oder Um⸗
ſtände gewiſſer Perſonen kennen, denen ſich Andere aus Leicht-
ſinn, Unwiſſenheit oder Gutmüthigkeit allzuſehr vertrauen, und
dadurch in Unglück gerathen können. Hier ſoll der Menſchen⸗
freund warnend hervortreten, und denjenigen, welcher Gefahr zu
laufen bedroht iſt, mit Schonung und Behutſamkeit des Beſſern
belehren. Es iſt Pflicht, das Schweigen zu brechen, und die
Schlechtigkeit an das Tageslicht zu ziehen, wenn Schweigen nur
1 dazu dienen würde, gewiſſe Perſonen in ihrer Verworfenheit, in
ihrer leidenſchaftlichen Bosheit, in ihrer Engherzigkeit zu beftärfen,
wodurch fie Andern nur aus Eigennutz ſchadlich find, oder doch
das Gute mindern. Hier iſt Nichtbekanntmachung des ungeſtraft
BEN
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gebliebenen Böſen eine verächtliche Begünſtigung der Böſen zum
Nachtheil der Guten.
Nur unter ſolchen Verhältniſſen, nicht aber um ſich bloß in
Geſellſchaften auf Unkoſten Anderer zu unterhalten, oder um ſich
bei Jenem und Dieſem eine Wichtigkeit zu geben, darf man Ge—
heimniſſe entblößen, oder ſeine Urtheile über Schwächen, Plane,
Abſichten, Denkarten und Umſtände des Nebenmenſchen laut
geben. Wer es dennoch thut, hat ſich ſelbſt anzuklagen, wenn
er als ein gemeiner, oft gefährlicher Plauderer von jedem Ver⸗
ſtändigen mit Vorſicht behandelt wird; wenn er viele Feinde hat,
oder doch Mitbürger, die ihn verachten; wenn man ihn keines
beſondern Vertrauens würdigt, und damit außer Stand ſetzt, ſo
viel Gutes zu ſtiften, als er ſonſt bei ſeinen übrigen Fähigkeiten
und Umſtänden allerdings ſtiften könnte.
Es gibt Menſchen, die oft über alles Andere gut zu ſchweigen
verſtehen, aber nur nicht über ihre eigenen Sachen. Aus über⸗
triebener Offenherzigkeit oder aus Eitelkeit, weil ſie glauben,
Alles ſei Andern wichtig, was ſie betrifft, oder aus übler Ge—
wohnheit, immer von ſich zu reden, erzählen fie Jedem, der ihnen
zuhören will, was ſie gethan und nicht gethan haben, welche
Plane ſie machen, welche Klugheiten und Thorheiten ſie beginnen.
Wahrlich, der verdient den Ruhm der Verſchwiegenheit nicht, der
beſcheiden in ſeiner Bruſt verſchließt, was er von Andern weiß,
während er bei jeder Gelegenheit ſein eigener Verräther iſt.
Es gibt auch eine Verſchwiegenheit über ſich ſelbſt
und die eigenen Angelegenheiten. Sie iſt eine von jenen
Pflichten, die der Menſch ſeiner eigenen Wohlfahrt und Ruhe
ſchuldig iſt. Zwar Offenherzigkeit iſt eine Tugend; aber es gibt
keine Tugend, wenn ſie nicht mit Klugheit verbunden iſt.
Willſt du glücklich ſein, ſo lerne über dein eigenes Glück ver—
ſchwiegen ſein. Hüte dich, daß du Andern nicht übereilt deine
Vermögensumſtände entdeckſt, um dich damit zu brüſten. Du
läufſt Gefahr, dir Mißgunſt und Neid zu erwecken, wo du es
am wenigſten beſorgeſt. Hüte dich, von deinen Umſtänden ohne
forgfältige Ueberlegung einem Andern etwas zu offenbaren, wenn
ſie übel ſtehen; denn du wirſt dem Zutrauen ſchaden, das man
— 427 —
is jetzt noch öffentlich zu dir hatte, und wirft dich durch eigene
Plauderhaftigkeit um die Mittel bringen, mit denen du dir noch
hätteſt helfen können. Hüte dich, Andern deine Ausſichten oder
Entwürfe unbehutſam auszuplaudern; denn ihrer Viele ſahen eben
dadurch ihre beſten Anſtalten und Abſichten vereitelt, daß ſchaden—
frohe und neidiſche Meuſchen zu früh davon erfuhren. Man dich-
tete ihnen Zwecke an, die fie nicht hatten, mißdeutete ihre red⸗
lichſten Wünſche, ſchadete der Wirkſamkeit ihrer Be
durch Spötteleien.
Sei verſchwiegen über deine eigenen Schwachheiten und Fehler.
Es iſt ohnehin ein ſchlechter Ruhm, ſich mit feinen Thorheiten
und Schwächen rühmen zu wollen. Aber oft geſchieht es, und
beſonders bei gutmüthigen Perſonen, daß ſie in aller Unbefangen—
heit von ihren Fehlern und tadelhaften Neigungen reden. Der
edle Menſch, welcher ſolche Geſtändniſſe vernimmt, wird beſcheiden
ſchweigen, der Unedle hingegen daraus Anlaß nehmen, deſto leichter
Nachtheiliges über uns zu ſagen. Er wird durch Nacherzählung
unſere geringfügigen Schwächen in Narrheiten, unſere Fehler in
Laſter vergrößern.
Haſt du ein Geheimniß (und Alles ſei dir Geheimniß, deſſen
Bekanntwerdung keinem Menſchen einen Vortheil, dir wohl aber
Schaden bringen kann), ſo lerne es mit eben der Behutſamkeit
bei dir verwahren, wie du eine fremde Heimlichkeit zu verſchweigen
ſchuldig biſt. — Wer ſein Geheimniß einem Zweiten anvertraut,
der hat ſich, ſein Glück, ſeine Ruhe, ſeine Zukunft der Willkür
eines Fremden überliefert und von ihm abhängig gemacht. Er
hört auf, frei zu ſein, und wer nicht in voller Freiheit leben und
handeln kann, der handelt und lebt nie mit valler Kraft. Ver⸗
traue niemals der Verſchwiegenheit eines Zweiten und Dritten
mehr, als deiner eigenen.
| Offenherzigkeit über eigene Angelegenheiten geziemt ſich nur
da, wo Schweigen Schaden anrichten könnte; wo es Pflicht wird,
Andern ſeine Meinungen, ſeine Denkart, ſeine Abſichten, ſeine
Verhältniſſe unverhohlen zu zeigen, damit fie ſich nicht durch eine
allzuvortheilhafte oder allzunachtheilige Meinung von uns taͤu⸗
ſchen, es ſei zu ihrem oder zu unſerm Schaden, R
— 428 —
Sei verſchwiegen über deine eigenen Angelegenheiten, ohne
darum in allen Dingen zurückhaltend und verſchloſſen zu ſein.
Theile dich in Allem gern mit, wo du keine Urſache haſt, zu
fürchten, deine Mittheilungen konnten dir oder einem Andern
Verdruß erwecken. Wo du redeſt, und nur aus Liebe zum Guten
redeſt, kannſt du keine große Gefahr laufen. Aber ſelbſt in gleich⸗
gültigen Dingen verſchloſſen bleiben, oder da zurückhaltend ſein,
wo es ſich um etwas Gerechtes und Gutes handelt, erregt Arg—
wohn gegen die Beſchaffenheit deines Gemüthes.
Sei verſchwiegen über deine eigenen Angelegenheiten, wo
voreilige Plauderei dir und deinen Unternehmungen Widerfacher
erwecken könnte, die jetzt noch ſchlafen. Aber darum gib nicht
allen deinen Meinungen und Vorſätzen die Wichtigkeit großer
Geheimniſſe; wer mit allzugroßer Vorſichtigkeit handelt, verdirbt
leicht fo viel, als der Unbeſonnene; wer jedem feiner geringfü=
gigen Entwürfe den Anſtrich des Heimlichen gibt, verliert ſich
in Geheimnißkrämerei, die ihn zum Geſpött der Muthwilligen
macht. a d
Sei verſchwiegen über deine eigenen Angelegenheiten, wie
über fremde, wenn Bekanntmachung Nachtheil ſtiften kann; nur
fo gewinnſt du das Vertrauen der Rechlſchaffenen. Noch hat ſich
Niemand durch redſelige Offenheit und Zutragung eigener und
fremder Geheimniſſe Liebe und Zuverſicht erworben; ſondern mit
Recht fürchtet man, daß der, welcher von ſich ſelbſt Sachen aus⸗
plaudert, die er beſſer gethan hätte, verborgen zu halten, ſchwer⸗
lich die Angelegenheiten Anderer verſchweigen könne. Und ſelbſt
Diejenigen, welche ihm Geheimniſſe ablocken, weit entfernt, ſeine
Offenheit zu loben, behandeln ihn als einen Thoren, und miß⸗
brauchen ſeine Geſchwätzigkeit, ſobald es Vortheil bringt. |
Klug fein, wie die Schlangen, und dabei ohne Arg fein, wie
die Tauben, das empfahlſt Du, o Jeſus Chriſtus, Du großer
Lebenslehrer, Deinen Jüngern. Und ich fühle es, wie wichtig
es für mein und anderer Menſchen Glück iſt, die Zunge auf eine
weiſe Art gebrauchen zu lernen; zur rechten Zeit zu reden, zur
rechten Zeit zu ſchweigen. Ich fühle es, wie unbeſonnene Offen-
— 29 —
herzigkeit keine Tugend, und wie ſchimpflich Verraͤtherei ift, die
ich an Andern übe.
So ſoll mir denn auch vorſichtiges Schweigen eine der erſten
Chriſtenpflichten im Umgange mit den Menſchen fein. Denn
meine Pflicht iſt es, nach Deinem Beiſpiel, o Jeſus, Du mein
göttliches Vorbild, die Welt um mich her, ſo weit ich wirken
kann, zu beglücken. Aber eine Zunge, die Feindſchaft ſtiftet und
Mißtrauen, zerſtört den Frieden des Lebens.
Und welches Recht hätte ich auch, den Schleier von den Ge
heimniſſen meiner Brüder zu ziehen? Welches Recht hätte ich,
gewaltthaͤtig ihre Schwächen, die fie ſich gern ſelbſt verbergen möch-
ten, vor den Augen der Welt zu entblößen? — Wie ſchmerzlich
wird es mir, wenn meine Gebrechen und Fehler ohne Mitleiden
kund gethan, und mir dadurch Achtung und Zutrauen guter
Menſchen geraubt werden! Was du aber nicht willſt, das dir ge»
ſchehe, das thue du auch keinem Andern. So, mein Jeſus, lehrteſt
Du; fo ſei fortan mein Wandel! Amen.
— — — —
48.
Die Geſechwätzigkeit.
Mark. 7, 36.
Ich will des Nächſten, wie ich muß,
Gott, auch im Reden fchonen,
Nie ſein Vertrauen mit Verdruß
Durch loſen Mund belohnen.
Verbergen will ich das mit Fleiß,
Was er und ich allein nur weiß.
Was höh're Pflicht mir nicht verbeut,
Will ich getreu bewahren.
Wer gibt mir, fremde Heimlichkeit
Das Recht zu offenbaren?
Und brächt' es mir Gewinn und Ruhm,
Geheimniß bleibt ein Heiligthum.
Wie viel kann Unbeſonnenheit
Mit Worten Böſes ſtiften!
Wie leicht die Plauderhaftigkeit
Ein Lebensglück vergiften!
Wohl reden mögen iſt oft Kunſt:
Das Schweigen bringt auch öfters Gunſt.
—̃ä ——
Gern ſuchte Jeſus Chriſtus, waͤhrend er auf Erden als Men
wandelte, alles Aufſehen zu meiden, welches feine Lehren, nos,
mehr ſeine wundervollen Handlungen erregen konnten. Er that
dies nicht ſowohl, um ſich und feine Thaten gänzlich der Welt
zu verbergen, oder aus Furcht vor den Menſchen, ſondern aus
jener liebenswürdigen Beſcheidenheit, welche immerdar die Be—
gleiterin der ächten Tugend zu fein pflegt. Er erröthete gleichſam
vor feiner eigenen Herrlichkeit. Er hatte Mißfallen an der Ber
wunderung, welche ihm der große Haufen zollte; denn nicht er
forderte die Ehre, ſondern oft erklärte er, ſeinem Vater gebühre
ſie, von dem allein alle guten und göttlichen Gaben ſtammen.
Womit kann denn auch der Menſch prangen, das er ſich ſelbſt
erworben hätte, und nicht von der Hand des Schöpfers an ſich
trüge! — Mit dieſer zarten Beſcheidenheit, welche dem Weiſen
ſo wohl anſteht, verband Jeſus zugleich eine aufrichtige Klug—
heit. Er wollte Aufſehen und Geräufch zur Unzeit vermeiden,
je
und den Grund feines Erlöſungswerkes im Stillen legen, dame
die Feinde deſſelben nicht allzufrüh darauf aufmerkſam würde:
und Hinderniſſe machten. Darum, wenn das Volk, entzückt dure
ſeine Reden und Thaten, ihn mit Ungeſtüm pries, mit Begeiſterun
erheben wollte, entwich er in unbekannte Einſamkeiten. Darun
wenn er wunderbar Kranke heilte, verbot er den Leuten, fie ſolltene
Niemanden jagen. Je mehr er aber verbot, fo erzählt di
Lebensbeſchreiber Jeſu (Markus 7, 36.) je mehr fie es aus
breiteten. Und ſo ſollte auch Chriſtus den Schmerz erfahren, —
er, dem keine Art des Schmerzes fremd bleiben durfte, da
Freunde durch die Unbeſonnenheit ihrer Reden, durch die Unzeitig
keit ihres Eifers uns oft nachtheiliger werden können, als di
aͤrgſten Feinde. 8
Gewöhnliche Menſchen pflegen zu ſagen, daß, wenn ma:
nicht abſichtlich luͤge oder verleumde, fluche, ſchwöre, laͤſtere, ver
rathe, ſpotte, man es mit dem Reden im gemeinen Leben nich
allzugenau nehmen müſſe. „Wer kann auch“, heißt es dann
„jedes Wörtlein auf die Goldwaage legen? — Man ſpricht ga
Vieles in den Wind. Freundliche Geſprächigkeit iſt doch di
wahre Würze des geſellſchaftlichen Lebens. Der Trieb der Geſellig
keit iſt einer der alleredelſten in der menſchlichen Natur. Ma
muß ſich da gegenſeitig mittheilen, fo gut man kann, fo gut ma.
es verſteht, und ſich nicht allzuängftlich über jede Rede Bevent
lichkeiten machen. Wer dies thut, fährt beſſer, er bleibe gan
ſtumm, und aus der Geſellſchaft der Menſchen hinweg. Ma
muß doch, wenn man ſpricht, auch wohl Andern Verſtand genn
zutrauen, daß fie beurtheilen, was wir im Scherz oder Ernf
was wir als Geheimniß im Vertrauen, oder N08 gleichgültis
Sache für Jedermann ſagen.“
| So ungefähr pflegt man feine eigene Unbehutſamkeit im R
den zu rechtfertigen oder zu entſchuldigen. Es ſind dies die Grun
ſaͤtze von derjenigen Art, mit welchen man endlich alle Schaͤndlic
keiten beſchönigen kann.
| Das Wort des Menſchen ift feine That. Das Werk
Hand oder des Fußes iſt ſelten von der Wichtigkeit, als das Wr
der Zunge. Mit dieſer enthüllen wir den Zuſtand unſers @:
1
l
-
muͤths; durch fie ſetzen wir unſern Geiſt am ſchnellſten und haͤu⸗
figſten in Verbindung und Verſtändniß mit allen übrigen Geiſtern.
Der müßte ein beinahe wunderthätiger Heuchler fein, welcher bei
einem böſen Herzen ſeine innere wahre Geſtalt nicht endlich mit
irgend einem Worte offenbarte. Durch das Wort verbinden und
entzweien wir die Welt, verwunden oder heilen wir die Herzen,
belehren oder verführen wir die Ungewiſſen, adeln oder entadeln
wir die Geiſter. — Darum iſt das Wort nicht nur dem Chriſten,
ſondern ſelbſt jedem verſtändigen Menſchen wichtig, von welcher
Religion er auch ſein möge. Es iſt durchaus nicht gleichgültig,
wie man ſpricht und was man ſpricht. Der Trieb zur Geſellig⸗
keit iſt freilich vorhanden; er entſchuldigt aber keineswegs den
Mißbrauch der Zunge, ſondern legt uns vielmehr Pflichten auf,
das Glück der Geſellſchaft nicht auf eine unvorſichtige Weiſe durch
beleidigende Aeußerungen zu ſtören. Darum warnt die heilige
Schrift kaum vor einer Sünde fo ſehr und fo häufig, als vor
dem Mißbrauch der Zunge. Laſſet, ruft ſie, kein faul Geſchwätz
aus euerm Munde gehen, ſondern was nützlich zur Beſſerung iſt,
daß es Noth thut, daß es holdſelig ſei zu hören. (Epheſ. 4, 29.)
Wir fehlen Alle mannigfaltig; wer aber auch in keinem Worte
fehlet, der nur iſt ein vollkommener Mann und kann auch den
ganzen Leib im Zaum halten. Die Zunge iſt ein kleines Glied,
und richtet große Dinge an. Siehe, ein kleines Feuer, welch
einen Wald zündet es an! Und die Zunge iſt ein Feuer, eine
Welt voll Ungerechtigkeit. Durch ſie loben wir Gott, den Vater,
und durch ſie fluchen wir den Menſchen, nach dem Bilde Gottes
gemacht. Aus einem Munde geht Lob und Fluchen. Es ſoll
nicht, liebe Brüder, alſo ſein. Quillet auch ein Brunnen aus
einem Loch ſüß und bitter? (Jak. 3, 2. 5. 6. 9. 10. 11.)
So ſpricht die heilige Schrift.
Es iſt allemal ein Zeichen übler Beurtheilungskraft, ſchwachen
Verſtandes oder aber mangelhafter Selbſtbeherrſchung, wenn ein
Menſch ſeiner eigenen Zunge nicht Meiſter iſt. Wer kann ohne
volle Selbſtbeherrſchung Anſpruch auf den Namen eines Weiſen,
das heißt, eines ächten Nachfolgers und Nachahmers Jeſu, machen!
Der Fehler, in Geſprächen mehr zu ſagen und zu entdecken,
— 433 —
als man ſoll und ſogar ſelbſt will, iſt ſehr haͤufig. Es gibt wohl
nur wenig Menſchen, welche nicht ſchon in denſelben verfallen
ſind, und entweder damit Andern viel Verdruß, oder ſich ſelbſt
ſehr große Unannehmlichkeiten verurſacht haben.
Auch iſt es ſchwer, ſich denſelben abzugewöhnen, weil dazu
nicht nur die ſtrengſte, anhaltendſte Aufmerkſamkeit auf ſich ſelbſt,
ſondern auch ein Kampf gegen fein eigenes Temperament erfor⸗
dert wird. — Es gibt Menſchen von der beſten Gemüthsart; es
geht kein unanſtändiges Wort, kein Fluch, Fein ekelhafter Schimpf-
name, keine Verleumdung über ihre Lippen; — dennoch ſind ſie
nicht fähig, irgend ein Geheimniß zu bewahren, und in Dingen
verſchwiegen zu ſein, die beſſer ſind, verſchwiegen zu bleiben. Sie
gehören zu denjenigen, von welchen Markus ſagt: je mehr es
ihnen Chriſtus verbot, je mehr breiteten fie es aus.
Eben dieſe Menſchen pflegen oft eben ſo ſchnell ihre Unvorſichtig⸗
keit zu bereuen, ihre Uebereilung zu verwünſchen, — aber zu
ſpät. Sie wiſſen es, daß ſie durch ihre unbedachtſamen Aeuße⸗
rungen ſchon den beſten Freunden vielmals Schaden gethan, und
ſich ſelbſt in die unangenehmſten Verlegenheiten geſtürzt haben.
Sie wiſſen es, daß Neugierige oder boshafte Schlauföpfe, oder
heimtückiſche, ſchadenfrohe Leute mehr als einmal ſchon ihre Offen⸗
herzigkeit übel benutzten, ſchlimmen Gebrauch von ihrer Redſelig⸗
keit machten, und dennoch verfallen ſie immer wieder in den ſchon
fo oft und fo bitter bereuten Fehler. — Er heißt Geſchwaͤtzigkeit.
Je nach den verſchiedenen Denkarten und Stellungen der
Menſchen nimmt dieſe Untugend auch ihre verſchiedenen Geſtalten
an. Oft iſt ſie eigentlich nicht ſchaͤdlich und ſündlich, ſondern
nur ein Verſtoß gegen die gute Lebensart, gegen die Pflichten
die wir den geſellſchaftlichen Verhaͤltniſſen ſchuldig ſind. Sie iſt
mehr laͤſtig, beſchwerlich oder lächerlich, als ſtrafbar.
Viele Schwäger find zwar behutſam genug, nichts von dem
zu verrathen, was für fie und Andere beſſer iſt, daß es verhehlt
bleibe; aber doch überlaſſen fie ſich allzugern einer unerträglichen
Plauderei, indem ſie durch Mittheilung ihrer Gedanken in
Worten kein Maß zu halten wiſſen. Sie wiederholen ſich, drücken
ſich immer durch einen Schwall nichtsſagender Reden aus; be
III. 19
u
täuben damit das Ohr derer, die gefällig genug find, ihnen zu⸗
zuhören, und erregen durch ihre Weitſchweifigkeit entweder Lange⸗
weile oder Verſpottung. Die Plauderſucht iſt oft nur eine un⸗
geregelte Geſelligkeitsluſt, ein kindiſches, abſichtsloſes Ge⸗
ſchäftigſein.
Der Fehler ſteigt, ſobald ſich damit andere Untugenden ver⸗
binden, wie nur zu oft der Fall iſt, beſonders Eitelkeit und
Stolz. Dann wird der Schwätzer anmaßend. Er will das Wort
in den Geſellſchaften führen, er will gehört ſein. Er will be⸗
lehren, um Bewunderung zu ärnten. Er breitet ſich mit er⸗
müdender Weitläufigkeit über ſeinen Gegenſtand aus, und will
auch da Kenntniſſe mittheilen, wo es Niemand begehrt; oder er
weiß anmuthige Fröhlichkeit genug in ſeine Plaudereien zu brin⸗
gen, aber ſelten zur gehörigen Zeit das Ende derſelben zu finden.
Er iſt zu eitel, um Andere neben ſich glänzen zu laſſen, und zu
unbeſcheiden, um ſich nicht lieber ſelbſt, als Andere zu hören.
Dergleichen Perſonen find im geſellſchaftlichen Umgange
häufig genug; und ſo achtungswürdig ſie in vielen Rückſichten
ſein können, verdunkeln ſie durch beläſtigende Wortfertigkeit doch
ihren eigenen Werth. Sie können nicht verhüten, daß man ihre
Thorheit nicht lächerlich finde; und eine Lächerlichkeit ſolcher Art
iſt oft ſchädlicher in der bürgerlichen Welt und unter den Men⸗
ſchen, wie ſie nun einmal ſind, als ſelbſt zuweilen ein grober
Fehler iſt. 4
Wenn aber die Plauderhaftigkeit zur wirklichen Sucht und
Leidenſchaft wird; wenn der Menſch, was er kennt und weiß,
ſogleich mit geſchäftiger Zunge zu verbreiten ſich gezwungen fühlt;
wenn das Geheimniß, das im Vertrauen zu ihm geſprochene
Wort, ihn gleichſam brennt und quält, bis er es einem Andern,
aber unter dem Siegel der Verſchwiegenheit, die er ſelbſt bricht,
umftändlich mittheilt — dann iſt es nicht mehr Thorheit, die den
Spott, nicht mehr Fehler, der den Tadel, ſondern Laſter, das
den gerechten Abſcheu nach ſich zieht. Denn dieſer Schwätzer iſt
nicht bloß kindiſcher Plauderer, oder rechthaberiſcher Gegenredner:
ſondern willen- oder verſtandesloſer Sklave feiner Begierden,
Alles, was er hört und ſieht, wieder zu verbreiten, und das Ver⸗
3
botene am liebſten. Er iſt jeden Augenblick fähig, und ſollte es
auch das ſchmählichſte Verderben bringen, das heiligſte Geheim⸗
niß vor fremden Augen zu entblößen, den theuerſten Buſenfreund
zu verrathen, durch Zwiſchenträgerei die innigſten Familien zu
trennen, durch Ohrenbläferei und Klatſcherei die unſchuldigſten
Menſchen ins Gerede zu bringen.
Was unſer Nächſter geheim halten will, dazu haben wir kein
Recht. Es gehört ihm ſo gut, wie jedes andere Eigenthum. Er⸗
fahren wir einen geheimen Umſtand zufällig, ohne Abſicht und
Willen deſſen, der die Sache nicht laut werden laſſen will, iſt es
auch unſere Pflicht, das tiefſte Schweigen zu behaupten. Je⸗
mandens Geheimniß, wider deſſen Willen, an die Welt aus⸗
liefern, heißt Jemandem ſein Eigenthum ſtehlen. Eben ſo wenig wir
Recht haben, ein uns in Verwahrung gegebenes Gut zu verſchenken
oder zu verkaufen, dürfen wir auch ein anvertrautes Geheimniß weiter
geben, es ſei denn, daß das, was wir verſchweigen ſollen, zum Un⸗
glück Anderer gereichen würde. Auch Diebesgut darf ja Niemand
verhehlen, oder ſtill ſein, wenn es in des Nachbars Hauſe brennt.
Zuweilen iſt die Geſchwätzigkeit noch keine wirkliche Leiden—
ſchaft, und doch bringt ſie alle gefährlichen Wirkungen einer
Leidenſchaft hervor. Dies iſt allemal der Fall, wenn irgend
eine andere Leidenſchaft, eine offene oder geheime, voran-
geht, welche Verſtand und Vernunft betäubt, und zur unbe⸗
ſonnenen Plauderei reizt. Wir wiſſen, daß Jeder ſchon in dem
Augenblicke geſprächiger wird; da ſeine Empfindungen lebhafter
werden. In dem Maße, wie die Gewalt des Gefühls zunimmt,
nimmt die Richtigkeit der Urtheilskraft ab. Darum werden ſonſt
verſchwiegene Menſchen ſchon geſchwätziger, wenn ſie nur durch
ſtarke Getränke ihre Nerven mehr als gewöhnlich gereizt haben.
Darum iſt ſprichwörtliche Redensart geworden, daß Berauſchte
offenherzig ſeien. Darum macht eine große Freude, wie ein
heftiger Zorn, beredt und zum Verräther der innerſten Gedanken,
die Freude aus Liebe, der Zorn aus Haß.
Alle allzulebhaften Gefühle find ein Seelenrauſch und ver-
wirren das Urtheil in uns. Alle Leidenſchaften, wenn ſie durch
einen Anlaß heftiger gereizt werden, erzeugen Heftigkeit in den
— 136 —
Empfindungen. Der fältefte Böſewicht Hört auf, gelaſſen zu fein,
und wird geſchwatzig, ſobald feine schwache Seite (das tft, die
Grundleidenſchaft, welche ihn bewegt, und die er klug genug zu
verbergen ſucht) angegriffen iſt; eben ſo der trägſte und wort⸗
armſte Menſch.
Perſonen von lebhaftem Temperament und reizbarem Nerven⸗
bau bedürfen, um in Gährung zu gerathen, ohnehin keiner
außerordentlich mächtigen Leidenſchaft, ſchnell alle Ueberlegung
und Behutſamkeit zu verlieren. Eine geringe Schmeichelei, unter
der ihre Eitelkeit erwacht, macht ſie plauderhaft, zutraulicher
und offener, als ſie ſein ſollen; ein unſchuldiges Wort, das ihr
argwöhniſches Weſen reizt, macht ſie gehäſſig, bitter, red⸗
ſelig; eine verſäumte Aufmerkſamkeit gegen ihren Stolz, ein
Zweifel an ihren Vollkommenheiten, macht ſie bis zur Unertraͤg⸗
lichkeit geſchwätzig.
Zuweilen kann eine allzugroße Gutmüthigkeit, welche die
Menſchen für beſſer halt, als ſie in der That ſind, verbunden
mit einer lebhaften Neigung zur Geſelligkeit und Unterhaltung,
zu dem Fehler einer unbedachtſamen Geſchwätzigkeit verleiten.
Jene Gutmüthigkeit, manchmal an kindliche Unerfahrenheit gren—
zend, iſt oft bei den beſten, weiſeſten, einſichtsvollſten Menſchen
einheimiſch; iſt eine wunderbare Selbſttäuſchung, indem ſie Jeden
für fo gut und rein halten, als fie ſelbſt find; iſt eine liebens⸗
würdige Schwachheit der Urtheilskraft, nicht aber des Herzens,
die darum zum Fehler wird, weil ſie alle Früchte des Fehlers
trägt. Unter durchaus edeln und reinen Menſchen wird dieſer
Fehler kein Fehler, ſondern Natürlichkeit eines tugendhaften Ge—
müthes. Unter mehr oder weniger Verdorbenen mangelt ihnen
zur evangeliſchen Taubeneinfalt die Klugheit der Schlangen.
Die Unbeſonnenheit gutherziger Menſchen kann wohl tadelhaft,
nie haͤßlich und entehrend fein,
O mein Gott, indem ich mir in dieſem Augenblicke die Ur
ſache und Folgen eines Fehlers deutlich zu machen ſuche, in wel—
chen auch ich wohl oft in den heiterſten Stunden meines Lebens
verfiel, — wie kann ich ihm entrinnen? O gib Du mir Kraft
und Weisheit, daß ich das vermeide, was mir ſelbſt und meinem
— 437 —
Nächſten ſo viel Uebels ſtiften muß. — Ja, auch ich habe die
Unbedachtſamkeit meiner Worte ſchon mehr als einmal Urſache
gehabt zu bereuen; ich habe mir vielleicht dadurch in der Achtung
bei Andern ſchon mehr geſchadet, als ich ſelbſt glaube und weiß.
Sollte ich nicht allen Ernſt anwenden, mich von dieſer jo ge⸗
fährlichen Untugend ganz frei zu machen?
Und ich kann es, — ja, ich hoffe, ich werde es, wenn ich
mir nur durch gehörige Aufmerkſamkeit den Weg zur Herrſchaft
über mich ſelbſt immer beſſer bahne. Ich will mich nie von
der Lebhaftigkeit meiner Gefühle allzumächtig dahin—
reißen laſſen, weder den unangenehmen Empfindungen, noch
den fröhlichen, zu viel Meiſterſchaft über mich einraͤumen. Denn
wo ſie einmal herrſchen, da flieht die Ueberlegtheit, und das Wort
wird am fremden Glücke und am eigenen Herzen zum Verraͤther.
Beſonders will ich mir zum unverbrüchlichſten Gehorſam
drei Lebensregeln aufſtellen. Dieſe werden mich vor jedem un—
angenehmen Rückfall in den verächtlichen Fehler bewahren.
Es ſoll mir zum Geſetz werden, daß ich ſowohl unter
einzelnen vertrauten Freunden, als noch vielmehr in
größerer Geſellſchaft oder unter mir weniger bekannten
Perſonen, lieber ein beſcheidenes Schweigen beobachte,
denn durch Reden zu glänzen ſuche. Wir haben, ſagte ſinn⸗
bildlich ein alter Weiſer, zwei Ohren zum Hören, aber nur
einen Mund, um zu reden. So will ich auch lieber hören. und
mich unterrichten laſſen, als durch Unbehutſamkeit läſtig oder
gar ſchädlich werden.
Es ſoll mir zum Geſetz werden, daß, wenn ich ſprechen
muß, ich zwar Alles das denke und glaube, was ich fage,
aber nicht Alles ſage, was ich in mir denke und glaube.
Denn wahrlich, Niemand begehrt von uns Alles, was wir denken
und wiſſen, zu erfahren; und es iſt wohl die thörichtfte Eitelkeit,
ſich einzubilden, es müſſe Andern alles das wichtig ſein, was für
uns einige Wichtigkeit hat. Eben ſo wenig wird man immer
aufgefordert, ſeine Meinung über andere Perſonen und deren
Angelegenheiten zu äußern. Und wenn ich auch aufgefordert
würde, bin ich darum immer verpflichtet, ſogleich mein Urtheil
zu fällen? Gebe ich nicht jederzeit eine Schwäche meines Ver⸗
ſtandes oder meines Herzens bloß, wenn ich über Andere ab⸗
ſpreche, ohne ihr Innerſtes und die Beweggründe ihres Betragens
zu kennen? Und bin ich nicht aufgefordert, nicht zur Mittheilung
deſſen verpflichtet, was ich von mir und Andern weiß, um wie
viel frecher iſt dann der unberufene Plauderer? Das fordert die
Offenherzigkeit, die Wahrheitsliebe, das ich Alles, was ich ſage,
auch denke und glaube. Aber dagegen fordert die Beſcheidenheit,
die Klugheit, die Schonung, daß ich nicht Alles ſage, was ich
denke und weiß.
Es ſoll mir endlich zum Geſetz werden, daß ich ſchweige,
ſobald ich wahrnehme, es übermanne mich die Leb—
haftigkeit meiner Gefühle. — In Unmuth oder Vergnügen
kann ich leicht durch ein unüberlegtes Wort zu viel thun. Ich
habe es oft erfahren. Eine unbeſonnene Zutraulichkeit hat nicht
ſelten das bitterſte Unglück herbeigeführt. Ich bin nicht immer
Herr über meine Gefühle. Sie können rege werden; ſie mögen
es ſein. Aber in der Lebhaftigkeit derſelben will ich mir jede ent⸗
ſcheidende Handlung, jedes entſcheidende Wort unterſagen. Nur
ſo bleibe ich Herr meiner ſelbſt und jedes Geheimniſſes, das ich
mir ſelbſt dazu mache, oder welches meiner Treue und Ver⸗
ſchwiegenheit anvertraut ward. Ach Gott, gib mir Kraft! Ernſt
iſt mein Wille, meine Sehnſucht, immer beſſer und wohlgefälliger
vor Dir nach dem Beiſpiele meines Jeſu zu wandeln, — aber
wer ſichert mich gegen meine eigenen Schwächen? Du kannſt es
durch die Macht Deines heiligen Geiſtes. O ſtehe mir bei in den
Augenblicken der Prüfung! Amen.
49. x
Empfindungen om Geburtstage
| Luk. 3, 11 — 32.
Ich ſink im Geiſte Dir zu Füßen,
Vergib, o Vater, meine Schuld! -
Es ruft mein blutendes Gewiſſen:
Erbarmer, gib mir Deine Huld!
Weh' mir! willſt Du nicht Vater ſein,
Steh' ich im Weltall ganz allein!
Zum Leben haſt Du mich gerufen;
Das Leben flog wie Traum dahin,
Vielleicht, daß an des Grabes Stufen
Ich näher, als ich glaube, bin.
Und ich, was hab' ich hier gethan?
Erfüllt' ich, Schöpfer, Deinen Plan:?
Nein, ruft mein blutendes Gewiſſen,
O Menſch, du haſt umſonſt gelebt!
An niedern thieriſchen Genüffen.
Haſt du mit frecher Luſt geklebt.
Du lebteſt für den Nauſch der Zeit,
Und nie für Gott und Ewigkeit!
O Vater, blicke auf mich Armen!
Iſt Jeſus denn nicht auch mein Hort?
Erbarmer, gib mir Dein Erbarmen!
Verhieß es mir nicht Jeſu Wort?
Noch leb' ich — ach, noch kann's ja ſein,
Ich kann mich noch der Tugend freu'n!
Zu Deiner Ehre will ich leben,
Der Du die Miſſethat vergibſt;
Will haſſen, was Du mir vergeben,
Will lieben, was Du ſelber liebſt:
So wird ja mein Gewiſſen rein
Und heilig noch mein Wandel ſein.
Ich bin ein Jahr älter geworden — ein Jahr näher zur Voll⸗
endung. Frohe und ſchmerzliche Erfahrungen habe ich in den
Tagen des verlebten Jahres geſammelt; — haben fie meinen Geift
reifer gemacht? Vielleicht ſind meine Kenntniſſe gewachſen, viel⸗
leicht habe ich mein Anſehen hin und wieder vermehrt, vielleicht
habe ich mein Vermögen vergrößert — doch dies Alles iſt das
Aeußere, dies Alles kann wieder der Raub einer einzigen un⸗
%
— 440 —
glücklichen Stunde werden; vielleicht vertauſche ich ſchon im
Laufe dieſes Jahres dies Alles mit einer Hand voll Erde, die
man auf meinen Sarg wirft. 8
Und wofür haſt du denn dein Leben gelebt? wofür die Reihe
von Jahren unter Lachen und Weinen und in den Wechſeln des
Glücks hingebracht? — Menſch, was du vor den Menſchen biſt,
das weißt du zwar; aber was biſt du vor Gott dem Ewigen, o dur
zur Ewigkeit Erkorner?
Geheime Bangigkeit erfüllt meine Seele. Ein Jahr meines
Erdenlebens iſt verflogen. Bin ich heute ein beſſerer Menſch, als
ich vor zwölf Monden geweſen? Mit welchen edeln Handlungen
habe ich das verfloſſene Jahr geſchmuͤckt? Nun ſteht es mit meinen
Thaten vor dem Richter. — Iſt eine unter ihnen, deren ich mich
mit Zuverſicht freuen darf? Ach, wie Manches, das ich bereuen
muß, ſteht daneben; wie manches Unrecht, an Andern oder an
mir ſelbſt begangen; wie manches ſträfliche Gelüſte; wie manches
harte Urtheil über meinen Nebenmenſchen; wie mancher Ausbruch
wollüſtiger oder zorniger, ſtolzer oder neidiſcher, unbarmherziger
oder ſchadenfroher Neigungen! — O ich Unglücklicher! wo ſind
meine Gebete, meine Gelübde? Was iſt meine Religion geweſen?
Was bring' ich zur Todesſtunde einſt anderes, als ein blutendes
Gewiſſen? — Wie kann ich Hoffnung faſſen zur Seligkeit, die
nur das Erbe der vollendeten Gerechtigkeit iſt? Wie mich der
Gnade des Barmherzigen freuen, der auch der allgerechteſte Richter
meines Lebens iſt? — Ich werde dort nur das ſein, was ich auf
Erden zu werden trachtete.
Soll ich mich der Verzweiflung überlaſſen? Denn wer bringt
mir das verlorne Jahr, mein verſchwendetes Leben zurück. Soll
ich das Verdienſt Jeſu anrufen, daß es mir zugerechnet werde?
O fürchterlicher Wahnſinn, der ſich erlaubt, mit der Hölle zu
buhlen, um ſich das Verdienſt des Allerheiligſten zuzueignen!
Soll ich auf Fürbitten der Vollendeten und Frommen hoffen?
Unabänderlich find die Rathſchlüſſe Gottes, und unabänderlich
und ewig iſt ſein ernſtes Wort: „Was der Menſch ſäet, das
wird er ärnten!“
Ich lebe noch! — Des himmliſchen Vaters Langmuth ließ
Be
mich dieſes neue Jahr erblicken. Geſchah dies ohne Zweck! —
Was iſt in Gottes Anordnungen ohne Zweck?
Ich lebe noch! — Noch iſt es Zeit zur Ausſaat, und was
der Menſch ſäet, das wird er ärnten!
Hinweg denn, unfruchtbare Hoffnungsloſigkeit, heimlicher
Gram, allzuſpäte Reue, die mich verzehren! Hinweg, ihr falſchen
Troſtgründe meiner Einbildungskraft! — Mich kann Niemand
tröſten, wenn mich mein Vater nicht tröſtet. Und er hat mir
Troſt gegeben, indem er mein Leben friſtete und mich noch dieſen
Augenblick voll Barmherzigkeit erhält. So ſei denn dieſes Jahr
mein Jahr der Rettung; bekämpfen will ich in mir alle ſünd⸗
haften Begierden. — Nein! Auch dieſes iſt zu wenig. Der todte
Stein am Wege ſündigt auch nicht. Ich will weiſe, menfchen-
freundlich, enthaltſam, ich will ein Chriſt werden.
Noch komme ich nicht zu ſpät; denn der Schöpfer hat meine
Lebensbahn bis heute offen behalten, mir Kraft verliehen, das
Gute zu thun. Noch komme ich nicht zu ſpät; — denn Gott
im Himmel hat keinen Gefallen am Tode des Sünders,
ſondern daß er lebe und beſſer werde, und Werke der Buße,
das heißt, eines reuigen, edeln, Gott: gefälligen Sinnes thue.
Noch komme ich nicht zu ſpät; — denn mein Jeſus nimmt auch
mich Sünder an, daß ich durch ihn, das heißt, durch Erfüllung
ſeiner Lehren, mich zum Vater wende. — War er es nicht, welcher
rief: Kommet her zu mir, die ihr mühſelig und be—
laden ſeid, ich will euch erquicken! Auch ich bin mühſelig
durch meine Miſſethat und beladen mit einem Leben voller
Schuld!
Noch komme ich nicht zu ſpaͤt! Wahr iſt's, die Erinnerungen
an meine verſchiedenen laſterhaften Neigungen und an die
traurigen Folgen derſelben ſind unendlich zahlreicher, als die
Erinnerung an das wenige Gute, welches ich hin und wieder
gethan habe. Und zuweilen ergreifen mich Bangigkeit und Zweifel
bei der Frage: Kann Alles, was ich in den Stunden, Tagen,
Jahren, die Gott mir noch zu leben vergönnt, irgend noch Recht⸗
ſchaffenes thue, alle jene unreinen Handlungen vergeſſen machen,
mit denen ich mein übriges Leben befleckt habe? Wird das zahl⸗
— 442 —
loſe Unkraut, welches ich ſonſt ausſäete, nicht die wenigen guten
Samenkörner erſticken, die mir jetzt noch auszuſtreuen erlaubt
ſind? Barmherziger Gott, gehe nicht mit mir ins Gericht! Ach
laß mich verhüllen, was ich gelebt habe.
Wie ſich ein Vater erbarmt ſeines Kindes, ſo erbarmt ſich
Gott der Sünder, die ſich zu ihm wenden. Auch ein irdiſcher
Vater vergißt ja gern alle Thorheiten und Jahre lange Ver⸗
gehungen ſeines Kindes, wenn es ſich von denſelben befreit und
als ein beſſerer Menſch an das Vaterherz zurückkehrt. — Jene
Thorheiten, jene Vergehungen ſind ſchon genug durch ſich ſelbſt
beſtraft worden. — Denn jedes Laſter führt ſeine Hölle mit ſich,
und kein Vergehen, groß oder klein, bleibt in der heiligen Welt⸗
einrichtung Gottes ohne böfe Folgen für ſich ſelbſt. — Der
Wollüſtling zähle die angſtvollen Augenblicke und die Pein ſeines
geſchwächten, ſiechen Leibes: ſiehe, fie find deiner geheimen Sün⸗
den Frucht. — Die Strafe verfolgt dich vielleicht bis ins Sterbe⸗
bett; aber noch lebſt du, noch biſt du unverloren! — Kehre
zum Vaterherzen deines Gottes mit reuigem Gemüth zurück; än-
dere dein Leben; trage die Strafe deiner Sünde mit kindlicher
Ergebung; werde Andern nützlich, indem du ſie vor gleicher
Sünde warneſt. Rette Seelen, ſo adelſt du dich wieder, und
ſteigſt aus deiner Verworfenheit empor zu hoher Beſtimmung. —
Habfüchtiger, der feine Hand nach ungerechtem Gute ausſtreckte,
und du, der du voll Neides uud ſchadenfroher Rache Ehre, guten
Namen, Eigenthum und Lebensgenuß Andern raubteſt; — Ehr-
ſüchtiger, der in der Welt nichts ſah, als ſich ſelbſt, und darum
den Einen haßte, den Andern verſpottete, die Unſchuld zertrat,
das Recht verletzte; — Schwelger, der das Gute, mit dem er ſo
viele Familien hätte glücklich machen können, leichtſinnig ver⸗
praßte, in unnützem Aufwande vergeudete, bis ihm nichts blieb,
als eine zerrüttete Geſundheit und ein wundenvolles Gewiſſen; —
Spieler, der du deine edelſten Stunden in Angſt und Schaden⸗
freude um elenden Gewinn verſchwendeteſt, waͤhrend andere
Augen über dich weinten; der du dein Zartgefühl verſtumpfteſt,
bis deine Hand auch nicht mehr vor Verbrechen zurückzitterte; —
o ihr Unglücklichen alle, die ihr heute am Rande eines fruchtlos
1
verfloſſenen Lebens daſtehet, beſchämt, reuig, vielleicht verzweifelnd;
die ihr ſchaudernd zurückblickt in das vergangene Unſelige, und
rufet: Es iſt zu ſpät! — Nein, nein, es iſt noch nicht zu ſpaͤt!
Ihr ſeid noch unverloren! — Traget die Strafen eurer Schuld,
aber ehret ſie als Boten Gottes. Sie rufen euch zu: Säet fortan
beſſere Saat, Saat für die Ewigkeit.
Wache auf, der du ſchläfſt, und ſtehe auf von den Todten,
ſo wird dich Chriſtus erleuchten. (Eph. 5, 14.) So ruft das
göttliche Wort; ſo ruft die Stimme in unſerm Innern: Wache
auf! Soll es denn ewig ſo währen?
Mit Recht wird jeder Sünder mit einem Todten verglichen;
denn das Edlere, das Unſterbliche in ihm iſt todt. Todt iſt alles
Irdiſche, wie der Staub, aus dem es ſtammt und zu dem es
zurückfällt. Nur das Göttliche iſt Leben.
Aber ich lebe, ſpricht Jeſus, und ihr ſollt auch leben!
(Joh. 14, 19.) Auch der Sünder ſoll nicht untergehen. Es iſt
eine Rückkehr zum Vater möglich. Der Vater ſelbſt ruft uns.
Selbſt in den Folgen unſerer Vergehungen ertönt die Stimme
der Natur: Kehre um zu Gott! — Verzweifle nie; auch deiner
Rückkehr freut ſich noch der Himmel, wenn du Buße thuſt
(Luk. 15, 10.), wenn du Jeſu Freund wirft.
Aber taͤuſchen wir uns nicht mit dunkeln und verworrenen
Vorſtellungen über das, was eigentlich Rückkehr zu Gott und
Freundſchaft mit Jeſu ſein ſoll. Bilden wir uns nicht ein,
es ſei der Sieg errungen, wenn wir mit zerknirſchtem Herzen
unſere Sünden bereuen; wenn wir in Thraͤnen zerfließen, wenn
wir die Freuden des Lebens, auch die unſchuldigſten, meiden;
wenn wir von Kirche zu Kirche eilen; wenn wir bei jedem An⸗
laſſe die Liebe Jeſu im Munde führen und uns der Wunden des
für unſere Sünden geopferten Lammes getröften. — Viele Men⸗
ſchen, wenn ihr Glück, ihre Geſundheit, ihr Leben, durch lange
Laſter zerſtört ſind, wählen dieſen falſchen Weg; aber ihre Buße
iſt keine Freundſchaft mit Jeſu, ſondern eine quälende Angſt vor
den Folgen ihres Wandels in einem künftigen Daſein; ihre ver⸗
meintliche Bekehrung iſt keine Rückkehr zu Gott, ſondern eine
neue Verirrung zu fruchtloſen Einbildungen. Aber ihre Ein⸗
-
bildungskraft ermattet endlich, und ihre Rührungen werden end⸗
lich ſchwaͤcher, wie alles Ueberſpannte. Dann halten ſie ſich für
lau. Dann klagen ſie über die Sündlichkeit ihres Fleiſches.
Dann fallen fie in die vorige Bangigkeit zurück und gelangen nie
zu dem Ziele, wohin ſich ihr Herz ſehnt.
Auf welche Weiſe nun kann der Sünder zu Gott wahrhaft
zurückkehren? Wann ſind wir der Freundſchaft mit Jeſu ge⸗
wiß? — Er ſelbſt, der ewige Sohn, hat es uns geſagt: Ihr ſeid
meine Freunde, ſo ihr thut, was ich euch gebiete! (Joh. 15, 14.)
Nicht Worte, nicht ſtundenlange Gebete, nicht das Herr! Herr!
Sagen, nicht die frommen Andächteleien, aus denen für das
Heil der Welt kein Gutes quillt, nicht Entſagung der ſchuldloſen
Erheiterungen: das Alles hat uns der erhabene Gottesſohn nicht
geboten! — Thaten fordert er von dem reuevollen Sünder,
der nach Vergebung ſchmachtet; Werke der Bekehrung und eines
beſſern Sinnes.
Was ſoll ich thun, daß ich ſelig werde? fragt 576 dem es
Ernſt iſt um die Freundſchaft Jeſu. -Und der Herr ſpricht: Liebe
Gott über Alles, und deinen Nächſten wie dich ſelbſt.
Hier iſt der Weg zur Rückkehr, aber dieſer Weg iſt nicht ſo
leicht. Er geht durch tauſend Kämpfe gegen Verſuchungen alter
Lüſte, gegen Gewohnheiten, welche Fluch brachten, — es iſt ein
Kampf mit dem Verderben unſerer eigenen Natur. — Freilich
leichter iſt Beten, als ſeiner Wolluſt und Ueppigkeit auf ewig zu
entſagen; leichter iſt es, in die Kirche zu rennen, als ſich mit
Feinden zu verſöhnen, und ſelbſt dem Unverföhnlichen Liebes im
Geheimen zu erweiſen; leichter iſt es, zu faſten und zu ſeufzen,
als ein guter Hausvater zu werden, wenn man Verſchwender
oder Spieler geweſen; leichter iſt es, ſich mit Jeſu Wundmalen
zu tröſten, als Wunden zu heilen, die wir durch liebloſe Worte
und Thaten verurſachten; leichter iſt's, hie und da kleine Almoſen
zu ſpenden als ungerechtes Gut an den wahren Eigenthümer
zurückzuſtellen, dem man es durch Gewalt oder Lift, durch Ber
trug, Erbſchleicherei und falſches Zeugniß entriſſen hatte: —
aber, es gilt das Höchfte im Leben und im Tode; es gilt Rettung
der unſterblichen Seele vom Untergang; es gilt Frieden auf Erden
— 45 —
und Seligkeit des zukünftigen Seins! — Nur ſo iſt Rückkehr des
Sünders zur Gnade des ewigen Vaters; nur ſo Freundſchaft mit
Jeſu, unſerm Seligmacher. Nur ſo haben wir Hoffnung, daß
der Richter der Todten unſere Vergangenheit liebevoll bedeckt,
und auch zu uns ſpricht: Dir ſind deine Sünden vergeben!
(Luk. 7, 48.)
O Vater, Vater, ich habe geſündigt in dem Himmel und vor
dir; ich bin hinfort nicht werth, daß ich dein Sohn heiße! ſprach
der Verlorne im Gleichniſſe Jeſu, des Heilandes, zu feinem Va—
ter. Und der Vater ſchloß den Zurückkehrenden mit Erbarmen
an ſeine Bruſt und ſprach: Dieſer mein Sohn war verloren;
und iſt gefunden worden! Laßt uns fröhlich ſein. (Luk. 15, 24.)
Vater, o mein Vater im Himmel, auch ich habe geſündigt
vor Dir; ich bin nicht werth, daß ich Dein Kind heiße! Aber
Dein Erbarmen iſt unendlich größer, als meine Schuld. Du
willſt nicht den Tod des Sünders. Du erhieltſt mein Leben in
tauſend unſichtbaren Gefahren, daß ich noch heute mich deſſelben
erfreuen und mit gebeſſertem Herzen zu Dir umkehren könne.
Ja, ich will, ich kann es, Du unendlich Gnadenreicher! — Noch
iſt die Ewigkeit und ihr Heil nicht für mich ganz verloren, ob—
gleich ein Leben hinter mir liegt, das bisher für die Heilung
meines Gemüthes verloren ging. — Du läffeft mich ein neues
Jahr erleben, und ich will mit ihm ein neues Leben beginnen;
ein Leben in meines Jeſu Sinn. Ich will ſtreng und unerbitt⸗
lich fein gegen alle meine Schwächen und Fehler, ſchonend, Tiebe-
voll gegen Andere, auch wenn ſie mich dafür beleidigen. Ich will
die unreinen Begierden in mir daͤmpfen, und ſo oft ich von ihnen
angefochten werde, ſoll mein Entſchluß unerſchütterlich ſein, die
Einſamkeit zu fliehen, in die Welt zu treten und irgend eine gute
That zu vollbringen. Ich will ſelbſt meine Sünden und alle
ihre traurige Wirkungen noch Andern zum Segen machen, in-
dem ich Andere vor den Gefahren der Verführung, vor den erſten
Anläſſen zum Verbrechen, vor der oft unter Roſen verborgen
lauernden Schlange warne. Ich will, wo ich durch meinen Leicht
ſinn, durch meine Verdorbenheit im Familien- oder im bürger⸗
lichen Leben, öffentlich oder heimlich, Schaden ſtiftete, freudig
4 —
erſetzen. Ich will erſetzen, auch wenn es mich Alles koſtete; denn
ich will nicht mit einer Schuld auf dem Gewiſſen aus der Welt
gehen, und vor Deinen Stuhl, o Richter der Todten! — Und
kann ich das geſtiftete Uebel nicht mehr vernichten oder vergüten —
o gerechter Gott, ſo verzeihe Du meine Schuld! Ich will fortan
durch meinen öffentlichen und geheimen Lebenswandel darthun,
daß wenigſtens ein ernſter, heiliger Wille in mir wohne. Dieſen
Willen, ach, obgleich ohnmächtig, verwirf ihn nicht. Vergib,
o vergib mir meine Sünden, wie ich vergeben habe allen meinen
Feinden und Beleidigern. we Erbarmer, vergib um Jeſu
willen! Amen. ;
50. |
Am Schbluffe Des Jahres.
Pred. Sal. 11, 6.
Gott, wie blitzesſchnell entfliehn
Unſre Tage, unſre Stunden!
Eh' wir's denken, ſind ſie hin
In das Ewige verſchwunden.
Wäre doch von unſrer Zeit
Jede Stunde Dir geweiht!
Saen laßt uns denn mit Fleiß
Zu der Aernte jenes Lebens!
O wie glücklich, wer da weiß,
Fühlt, er lebte nicht vergebens!
Ewig freue ſich der Saat,
Wer hier wohl gefäet hat.
—
Es fiel ein Sonnenſtäubchen aufs hohe Gebirg — ein Waſſer⸗
tropfen ins Weltmeer — ein Jahr in den Abgrund vergangener
Ewigkeiten. Sie ſind verloren. Wo ſuche ich, wo finde ich ſie
wieder?
Ein Jahr! Freilich nur ein unbemerkbarer Punkt in 5 end⸗
loſen Reihe der Zeiten, aber doch ein beträchtlicher Abſchnitt
meines eigenen Lebenslaufes. Ich berechne mein Daſein auf
Erden nach Jahren; und ich habe dieſer Jahre ſchon ſo viele nicht
mehr zu leben! Wer weiß denn, ob ich noch eins oder zwei voll—
ae
ende? Wer will Bürge fein von allen Sterblichen, daß nicht
ſchon nach zwölf oder vierundzwanzig Monden die winterlichen
Schneeflocken über meinem Grabhügel umherſchweben? Wie groß,
wie ganz unüberſehbar ſcheint mir ein Jahr im Anfange! Wie
lange dauert der unfreundliche Winter! Wie kann ich kaum den
ſchönen Frühling mit ſeiner Blumenpracht erwarten! Dann die
mannigfaltigen Genüſſe in Feldern, in Gärten, oder auf ange⸗
nehmen Reiſen! — Dann, wie ſpät der Herbſt mit ſeinen Aernte⸗
feſten und Weinleſen — die Menge der Tage und Stunden, der
Ereigniſſe, der Zufälle, der fröhlichen Augenblicke, der Freund⸗
ſchaften — — es läßt ſich nicht überſehen. Es ſcheint kaum ein
Ende zu nehmen. a
Wie flüchtig, wie klein, — mehr als klein! Wie Nichts iſt
ein Jahr, wenn man am Ende deſſelben ſteht! Was habe ich
denn darin gehabt? Wodurch iſt es von jedem andern Traum
verſchieden? Was ich war, bin ich ſchon jetzt nicht mehr! Was
ich Alles in dieſem zwölf Monden langen Traum genoß und
hatte, genieße und habe ich ſchon jetzt nicht mehr! Faſt Alles iſt
vorüber, und was mir noch vorbehalten iſt, wird eben ſo vor⸗
übergehen.
Und je länger ich lebe, je kürzer wird mir das Leben. Je
älter ich werde, je kleiner wird mir der Raum der Jahre. Vor
einem Jahre um dieſe Zeit, oder am Neujahrstage — es iſt mir
nicht, als wäre es vor mehr denn dreihundert Tagen, nein, als
wäre es erſt geſtern geweſen! Ich ſehe noch mein ganzes Tage-
werk, ich erinnere mich noch der Worte meiner Freunde; ich weiß
noch wohl, wo dieſer oder jener ſtand. Und dann die ſämmt⸗
lichen Ereigniſſe im ganzen Lauf des Jahres — es iſt mir, als
wären fie erſt geſtern geſchehen. Und wenn ich nachrechne, er-
ſtaune ich, daß von jetzt bis dahin zurück ſchon ſo viele Wochen
und Monate verfloſſen ſind. Wie flüchtig, wie nichts iſt doch ein
Jahr, wie flüchtig mein Leben! Und wenn ich einſt vollendet
habe: es wird mir zu Muthe ſein, als hätte ich noch nichts ge⸗
lebt. Aber es iſt vergebens. Alle Täuſchung entflieht. Siebenzig
und achtzig Jahre ſind zuletzt wie ein Traum von ſiebenzig bis
achtzig Minuten geweſen.
— 443 —
Tauſende meiner Mitmenſchen haben am Ende eines Jahres
das gleiche Gefühl ſchneller Vergänglichkeit, wie ich. Ihrer Viele
find aber froh, daß Alles fo flüchtig dahin iſt: nicht aus Ueber⸗
druß des Lebens, ſondern aus Begier nach dem Neuen und Un⸗
bekannten. Was ſie genoſſen, was ſie erfahren haben, ſcheint
ihnen noch nicht ſo wichtig, als was ſie noch erleben könnten.
Sie ſcheinen das Leben gleichſam nur aus Neugier zu lieben und
fortzuſetzen. Immer ſind ihre lüſternen Blicke vorwärts gerichtet,
wo die bunten Kinder der Einbildungskraft, nämlich Träume,
Erwartungen, Hoffnungen vor ihnen hingaukeln. Auf das Ver⸗
gangene mögen ſie nicht rückwärts ſehen. Das Alte iſt ihnen
gleichgültig, das Genoſſene widerlich. Kaum nehmen ſie ſich Zeit,
die Gegenwart zu ſchmecken, und was da iſt, eines aufmerkſamen
Blickes zu würdigen. Immer bauen ſie neue Entwürfe. Ihr
ganzes Leben iſt eine beſtändige Erwartung, ein unaufhörliches
Jagen nach neuen Zielen. Und ſind ſie am Ende der Tage, ſo
ſinken fie erſchöpft nieder von der fruchtloſen Arbeit, und fühlen,
fie haben nicht gelebt, ſondern wollen erſt leben, wenn fie zu
leben aufhören.
Wahrlich, Kinder, welche, ohne Harm um das Vergangene,
ohne Neugier und Sorgen um das Künftige, immer den gegen-
waͤrtigen Augenblick, mit Allem, was er hat, in vollen Zügen
genießen, verſtehen es beſſer als unzählige Bejahrte, zu leben—
Denn ſie ſind noch unverbildet, wahrhaft und natürlich. Aber
der erwachſene Menſch entfernt ſich nur zu oft mit raſtloſer Kunſt
und Mühe von der Einfalt und Wahrhaftigkeit des Natürlichen.
Kinder ſehen und ſchmecken noch das Leben, wie es ihnen ges
geben iſt, in vollem Maße. Aber die Erwachſenen, nur zu oft
durch ungeſtüme Leidenſchaft ergriffen, fliegen eben ſo eilig an
den Gütern des Daſeins vorüber, als das Leben wetterſchnell an
ihnen vorübereilt. Dieſe Seelenkranken, nach Reichthümern
laufend, achten der Gaben des Himmels nicht, die ihnen zufielen,
und rennen dürſtend an den reichſten Quellen vorbei, die neben
ihnen rauſchen. Sie ſehnen ſich nach Würden und Ruhm; aber
die Achtung, von welcher ſie umringt ſein könnten, bemerken ſie
— 419 —
kaum; nichts iſt ihnen genug. Wer immer Ziele ſucht, ſteht nie
am Ziele. 5
In der That ſollten wir die Kunſt des Lebens von den Kin⸗
dern lernen, denen der nächſte Augenblick auch immer das beſte
Ziel iſt. Sie nehmen die kleinſte Gabe, welche ihnen zufällt, mit
fröhlichem Gemüth auf; ſträuben ſich gegen den Schmerz, der
ſie überraſcht, und vergeſſen ſein, ſobald er vorüber iſt. Darum
lehrte auch Jeſus, unſer großer Meiſter der Lebensweisheit:
Seid des Augenblicks froh, und quält euch nicht mit eiteln
Träumen! Sorget nicht für den andern Morgen, denn der mor-
gende Tag wird für das Seine ſorgen! (Matth. 6, 34.)
Die wahre Kunſt des Lebens, wie ſie der Weiſe übt, beſteht
nicht darin, immer und ausſchließlich nach einem beſſern Loofe
zu jagen, ſondern feinen gegenwärtigen Verhaltniſſen und Um⸗
ſtänden die beſſere Seite abzugewinnen, und aller ihrer Anmuth
zu genießen, deren fie fähig find. Nur was dir die eben vor⸗
handene Stunde gibt, das haſt du und deſſen biſt du gewiß. Was
dir die künftige darbietet, iſt unbekannt. Verſchmähe nicht den
reinen Genuß jedes Tages, den dir Gott zu deinem Leben legt,
ſonſt gehſt du arm und elend, mit ungeſtilltem Verlangen bis
zum Grabe. Hoffe das Beſſere zwar, aber vergiß niemals das
Gute, in deſſen Beſitz du ſchon biſt; gedenke des Der-
gangenen, aber eben dies ermuntere dich, die Gegenwart beſſer
zu genießen, als die entronnene Zeit. In dieſen wenigen
Worten liegt der Kern der Lebensweisheit.
Das vernunftloſe Thier ſorgt für keine Zukunft, und küm⸗
mert ſich um keine Vergangenheit. Aber edler, göttlicher iſt des
Menſchen Natur. Er lebt mannigfaltiger als das Thier; er lebt
für Gegenwärtiges und Vergangenes und Künftiges zugleich.
Der Menſch ſoll es! Er wird dem Thier gleich, wenn er, ganz
ohne Rückficht auf das Ende, nur im Gegenwärtigen ſchwelgt.
Allein er iſt ein Thor, wenn er um des Kommenden willen das
Vorhandene nicht zu genießen wagt; er iſt ein Mörder ſeines
Lebens, wenn er, aus Gram um das Vergangene und Ver⸗
ſchwundene, Gegenwart und Zukunft vernachläſſigt und vernichtet.
Der Weiſe lebt für das, was war, was iſt, was fein wird.
313
Aus den Erfahrungen früherer Jahre und Tage ſchöpfte er Muth,
Vorſicht, Klugheit und Begierde, das auf die rechte Art zu be⸗
nutzen, was er in der gegenwärtigen Stunde beſitzt. Er benutzt
aber den heutigen Tag mit ſolcher Mäßigkeit und klugen Vor⸗
ſorge, daß er ſäet, was er morgen ärnten will, und keine ſpätere
Reue ihm die heutige Luſt verbittern kann.
So will auch ich denn am Schluſſe eines Jahres, das mir
die Gnade Gottes zu durchleben vergönnte, den Blick auf Ver⸗
gangenheit, Gegenwart und Zukunft werfen, um als ein, wenn
auch nicht beglückter, doch des Glückes würdiger Menſch in ein
neues Jahr eintreten zu können. So will auch ich über das Ver⸗
gangene meine Rechnung abſchließen, um das richtiger zu er⸗
kennen, was mir nach manchem Verluſt noch übrig geblieben iſt,
und für eine beſſere weiſere Zukunft angewandt werden foll.
Ich will vor allen Dingen, als ein guter Haus vater,
das mir durch meinen Fleiß und göttlichen Segen zu
Theil gewordene irdiſche Vermögen unterſuchen. Ich
bin dazu verpflichtet, damit ich unabhängig von menſchlicher
Barmherzigkeit leben und freier handeln kann. Der unruhige
Wechſel der Zeiten, Theurung und Kriege können auch mich in
Verlegenheit, in Armuth ſtürzen, wenn ich das Meinige ver⸗
wahrloſen, wenn ich nicht prüfen würde: wie weit geht mein
wahres Eigenthum, und was bin ich davon andern Menſchen
ſchuldig? Ich bin verpflichtet zu dieſer Prüfung meiner Ver⸗
mögensumſtände durch die Sorge, welche ich als Haus vater oder
als Hausmutter für alle diejenigen tragen ſoll, die mir ange⸗
hören. Ich bin verpflichtet zu dieſer ernſten Prüfung um meiner
Anverwandten Ehre und guten Namens willen! Denn ohne
Achtung und Zutrauen der Menſchen bin ich hilflos auf Erden,
und unfähig, ſo viel Gutes durch Wort und That zu ſtiften, als
ich nach Gottes Willen ſtiften ſoll.
Aus der Prüfung meines geſammten Eigenthums am Schluſſe
dieſes Jahres werde ich erkennen, ob ſich meine irdiſchen Um⸗
ſtände verbeſſert oder verſchlimmert haben. Ich werde erkennen,
ob ich meine bisherige Art zu leben, meinen Aufwand, wie ich
ihn im vergangenen Jahre machte, ohne Gefahr fortſetzen darf,
de a
oder ob ich nicht die Menge meiner Ausgaben einſchränken, und
zu meinem und der Meinigen Beſten ſparſamer werden müſſe,
beſonders in Zeiten, wenn Nahrungsloſigkeit oder anhaltende
Kriege überall den häuslichen Wohlſtand vermindern.
Ich will es dabei nicht bewenden laſſen, ſondern mit Ernſt
weiter ſchreiten. Ich will unterſuchen, welcherlei Bedürfniſſe die
entbehrlichſten ſind. Und ſie ſollen, mag es mir anfangs auch
ſchwer fallen, mit dem Beginn des neuen Jahres entbehrt wer⸗
den. Und wenn ich auch zuletzt dadurch nur Kleinigkeiten er⸗
ſparen würde: ich bin denn doch um Vieles wohlhabender. Ich
habe denn doch einen, wenn auch nur geringen, Ueberfluß er⸗
worben, von dem ich andern Menſchen, unglücklichen Brüdern,
die noch weniger haben, als ich, wohlthun kann. Und welche
Freude für mich, wenn ich ſogar bei meinem mäßigen Vermögen
noch wohlthätiger werde, als Mancher, der in der Fülle des
Reichthums lebt; wenn ich über das, was mir Gott verliehen,
ſo treu haushalte, daß ich damit auch feeniber Menſchen Glück
befördern kann!
Ja, der Schluß des Jahres iſt vorhanden; ich will mein
Haus beſtellen. Und wäre das Ende des Jahres auch der Schluß
meines Lebens, ſo will ich nach meinem Tode Alles in ſolcher
Ordnung hinterlaſſen, daß mich die Zurückbleibenden ehren und
ſegnen ſollen. Ich will vollkommener Chriſt ſein in allen Dingen;
ich will jeden Tag bereit ſein, ohne Vorwürfe aus meiner irdi⸗
ſchen Lage hinweg und ins Ewige übertreten zu können. So,
da Chriſtus ſterbend am Kreuze blutete, ſorgte auch er noch für
vie weinende Mutter (Joh. 19, 26.), daß ſie nicht verlaſſen ſei
auf Erden.
| Nicht zufrieden, am Schluff des Jahres mein Hausweſen
zu ordnen, will ich für mich eine ſtille Stunde der Einſamkeit
ſuchen, und alle meine Verhältniſſe überlegen, in
welchen ich lebe; meine ganze Lage prüfen, und erforſchen,
wie ich dasjenige, was darin unangenehm iſt, künftig auf eine
anſtändige und zweckmäßige Weiſe zu vermeiden und zu beſeiti⸗
gen habe.
Wahr iſt's, in meinen gegenwärtigen Verhältniſſen iſt man⸗
*
— 452 —
ches Bittere und Beſchwerliche. Aber woher rühren dieſe Sachen,
welche mir ſo viel Verdruß erwecken? Sind meine Verhältniſſe,
die mir Gott anwies, daran Schuld? Oder habe ich durch meinen
Leichtſinn, durch mein verkehrtes Weſen, durch meine Unvor⸗
ſichtigkeit, durch Eigenſinn, Stolz, Wolluſt oder andere Leiden⸗
ſchaften meines Herzens dazu das Meiſte beigetragen? — Und
wie räume ich dieſe Uebel hinweg, welche mir mehr als eine böfe
Stunde machen? Kann ich meine Verhältniſſe ändern? Es iſt zu
erwaͤgen! Oder muß ich vielleicht mich ſelbſt ändern? Ja, dies
iſt noch wahrſcheinlicher! Denn welches auch meine Lage ſei, bin
ich nur überall recht beſchaffen, wie ich ſein ſoll, ſo wird auch
Alles um mich her recht werden. Habe ich nur ein reines Herz,
ein frohes Gewiſſen, was könnte mir dann meine Zufriedenheit
trüben ?
Ich will am Schluſſe des Jahres, indem ich meine gegen-
wärtige Lage von allen Seiten prüfe, zugleich mich ſelbſt fragen:
Wie ſtehſt du mit den Menſchen, mit denen dich Gottes
Vorſehung in Verbindung ſetzte? Wie? Haft du heute mehr
Freunde, als vor einem Jahre? Iſt es dir durch dein Betragen
geglückt, endlich unter denen, die dich kennen, mehr Zutrauen,
mehr Liebe zu erwerben, als du ſonſt genoſſeſt? Hat ſich gegen
dich die Achtung deiner Mitbürger, deiner Vorgeſetzten, deiner
Verwandten, deiner Untergebenen vermehrt oder vermindert?
Und wenn du nun findeſt, ſie habe nicht zugenommen: o ſo hat
auch deine wahre Glückſeligkeit keinen weſentlichen Zuwachs er—
halten; fo biſt du auch im Laufe eines ganzen Jahres ſchwerlich
um Vieles vollkommener geworden. Und weſſen iſt dann die
Schuld? Kannſt du deswegen Andere anklagen? Biſt du es nicht
ſelbſt, der ſich mit Vorwürfen bedecken muß? Vernimmſt du die
Stimme deines Gewiſſens, welches dir deine Fehler vorhält? Lege
die Hand auf dein Herz; prüfe dich felbft..
Ja, nicht nur mein Hausweſen, meine äußern Verhältniſſe
will ich prüfen am Schluſſe des Jahres, ſondern prüfen will
ich in der Gegenwart Gottes mein eigenes Herz! Ich will
unterſuchen, wie mein gegenwärtiger Karakter beſchaffen iſt; be—
trachten, ob meine Denkart und Handlungsweiſe ſich im ver—
— U =
floſſenen Jahre geändert habe. Denn immer bleibt man doch
nicht ganz daſſelbe; man wird älter und an Erfahrungen reicher.
Ich habe mancherlei gutes und böſes Schickſal ſeit den letzten
zwölf Monden erlebt; ſolche Erfahrungen und Schickſale bleiben
niemals ganz ohne Einfluß auf unſer Gemüth.
Und nun, wie bin ich? wie denke ich, wie handle ich? Gott
iſt nahe, der Allgegenwaͤrtige; Gott durchblickt dich, der All—
wiſſende! Möchteſt du ihm heucheln, ihm, der dich heller durch—
ſchaut, als du den klarſten Tropfen Waſſer? Möchteſt du dir
ſelbſt heucheln, dich ſelbſt belügen? Welch eine Thorheit!
Br Ich will noch, ehe das Jahr verftreicht, eine Stunde ſuchen,
in der ich mir allein gehöre, wo mich nichts Anderes in meinen
Betrachtungen ſtört, und dann Gericht halten über meine ver-
derblichen Gewohnheiten, über meine Fehler und Laſter, über
die ganze Reihe meiner ungerechten Neigungen und geheimen
Sünden. Ich will richten, ehe ſie der Herr richtet. Ich will es
mir zeigen, wo ich mangelhaft und ſchwach bin; ich will auf
meine Tadelnswürdigkeiten ohne Schonung hindeuten. Dann
rede laut, innerer Richter, ernſtes Gewiſſen, Gefühl meiner
Schuld — Gott hört dich.
Und es muß endlich ſein, daß ich am Schluſſe dieſes Jahres
meinen Werth und Unwerth richtig ſchaͤtzen lerne. Ich muß meine
Fehler alle muſtern, denn ‚fie find ja die Quellen alles meines
Verdruſſes. Ich muß die Hinderniſſe meiner Zufriedenheit, die
Zerſtörer meiner Ruhe kennen. Oder ſollte ich auch im ganzen
künftigen Jahre ihr Sklave ſein; auch im künftigen Jahre nicht
ſo vollendet, edel und voll Tugendkraft werden, wie ich es ſein
könnte, ſein ſollte, um Gottes Kind, um Jeſu Bruder zu heißen?
Ich kann es mir ja nicht verbergen, daß, wenn ich in dem größern
Theil meiner verfloſſenen Lebenszeit oft recht unzufrieden, ja
wirklich unglücklich geweſen bin, es meiſtens die Folgen meiner
eigenen Schwäche waren. Entweder zog ich mir durch dieſelben
mancherlei Verdrießlichkeiten und Sorge zu, oder ich verſchlim⸗
merte mir die unangenehmen und traurigen Ereigniſſe meines
Lebens, indem ich fie nicht mit Seelenftärfe empfing, ſondern
mich dadurch zum Aerger, zum Zorn, zur übeln Laune, oder
a
wohl gar zur tiefſten Betrübniß allzuſehr hinreißen ließ. Ich
ſetzte thörichterweiſe allzugroßen Werth auf das, was an ſich
vergänglich iſt. Ich konnte keinen irdiſchen Verluſt mit Gleich⸗
gültigkeit und Stärke des Gemüths tragen, wiewohl ich meine
Fehler und Schwächen jederzeit, ob ſie gleich Verluſt meiner
Seelengröße ſind, ohne großen Verdruß ertrug.
Ich will meine Denkart und Handlungsweiſe ändern für das
künftige Jahr, will die große Erfahrung machen, ob ich nicht
groß bei allen Unfällen, glückſelig in allen Schickſalen werden
könne, die mich treffen mögen. Ich will nur das Gute, das
Rechtſchaffene, das Gottgefällige thun; will früh und fpät die
Saaten des Guten ſäen, denn ich weiß nicht, ob dies oder das
gerathen werde. (Pred. Sal. 11, 6.)
So will ich mein Jahr auf eine chriſtlichwürdige Art be⸗
ſchließen: und das Letzte, was ich thue, ſei mein Dankge⸗
bet zum Allerhöchſten für allen Segen, für alles Liebe,
das er an mir und an den theuern Meinigen im ver⸗
floſſenen Jahre gethan hat. |
Könnte ich's vergeſſen, o mein Vater im Himmel, o mein
Gott, daß Du in der Vergangenheit mein Vater und mein Gott
warſt? Könnte ich's vergeſſen, wie viel Gnade Du mir und allen
Meinigen erwieſen haſt, wie viel Barmherzigkeit Du uns haſt
widerfahren laſſen? — — Und war ich dieſer Liebe und Treue
werth? Habe ich ſo viel Wohlthat verdient durch meine Tugend
und Heiligkeit? Nein, nein! ich Abtrünniger habe ſie nicht ver⸗
dient. Und hätte ich die Tugenden eines Engels, ich könnte da⸗
durch auf Deine Gnade keine gerechten Anſprüche machen, ich
hätte Dich darum mir nicht zum Schuldner gemacht. Es find
nicht meine Werke, es ſind die Werke Deiner unergründlichen
Barmherzigkeit, die mir Heil, Segen und Seligkeit bringen.
Dank Dir, heißer, inniger Seelendank, Höchſter, Gnaden⸗
vollſter, ſei Dir dargebracht in den letzten Stunden dieſes Jahres!
Dank für Deine Langmuth gegen meine Suͤndlichkeit! Dank fur
die tauſend einzelnen Freuden, mit denen Du mich erquickteſt!
Dank für Deine Vaterhilfe, die mir oft dann am nächſten war,
wenn meine Noth am größten war, und ich voll Verzagens keinen
— 155 —
Ausweg ehr erblickte! Dank Dir für die Kraft, mit der Du
mich zum Guten ausgerüſtet haſt, auch wenn ich ſie leider nicht
immer zu allem Guten verwendete! Dank für Deine Sorgfalt,
die mich und die Meinigen aus mancherlei Gefahren rettete!
Dank auch, Vater! Vater! für die Schmerzen, die ich im ver⸗
gangenen Jahre duldete, und welche mir göttliche Boten waren,
die mich an Dich, an meine höhern Pflichten, an meinen Beruf
zur Ewigkeit mahnten. Ja, ich habe es endlich gelernt und viel⸗
fach erfahren: Du biſt die Liebe; Du biſt nur der Schöpfer alles
Guten, in Deiner Welt iſt kein Uebel vorhanden, als
die Sünde, welche wir ſelbſt thun! — Nur unſere Sünde,
unſere Schwachheit bringt Verderben in das Leben.
Verfloſſen iſt ein Lebensjahr! Ach, daß ich die Sünden ver⸗
hüllen könnte, mit denen ich's befleckte! Gnade, Vater, Barm⸗
herzigkeit für mich, daß fie nicht meine Anklaͤgerinnen werden
vor Deinem heiligen Throne! — Ein neues Jahr beginnt; ein
neuer, beſſerer Menſch will ich nun in dieſe Zukunft eintreten.
Auch in dieſer dunkeln Zukunft biſt Du mein Gott, mein Be⸗
ſchützer, mein Vater! O verlaß mich nicht! Verlaſſe nicht die lieben
Meinigen mit Deiner Gnade! Verlaſſe nicht mein Vaterland,
nicht meine Vorgeſetzten, meine Obrigkeit! Amen.
| Inhalt
des dritten Bandes.
1. Im Anfang des neuen Jahres
2. Der göttliche Name 4 - x R % z 1 4
3. Die Vorſehung 5 5 e ee eg © ; 2 4
4. Gottes Walten 5 3 u
5. Unſere Abhängigkeit von Gott e
6. Muth zur Tugend
7. Unterlaſſung des Guten EEE DE
8. Richtigere Beurtheilung unſerer Gemüthsbewegungen
9. Schein und Weſen 7 EP
10. Der Streit der Pflichten
11. Der Menſch und feine Tgaaet eo
12. Der Kampf des Weiſen mit ſeinem e TE
13. Der Menſch ein Schöpfer feines Schickſals ee
14. Die Gewiſſenhaftigkeit des Chriſten als Unterthan gegen Ge⸗
ſetz und Obrigkeit ne de ea
48. Selene e re ͤ
16. Weltkluͤgheit und Chriſtenweisheit ee
47, Der Werth des Lebens für den Menfhen .
18. Die Verirrungen guter Menſchen in Beurtheilung des Lebens
19. Die Verleumdung —2
20. Der Schmerz, verkannt zu fin nn
21. Die Gefahren, Andere zu verkennen
22. Die Leiden ſchaftess 8
23. Die Wohlthaten der Einſamkeietetetet
24. Die Kunſt, 5 o bn
25. Das Mißfallen am Gegenwärtigen 1
26. Stilles Glück * 4 * + * + + *
27. Die Gaben des Glücks
28. Das Urtheil der Welt
29, Vorurtheil für und wider Neues
30. Der Glaube an menſchliche Tugend
31. Die Macht der Wahrheit N
22. Die Welt dein Spiegel.
33. Menſchenrath, Gottesthat
34. Selbſtkenntniß 8
35, Gleichmuth ER ?
36. Der Kummer um die Zukunft EN:
37, Die Sorge um das 888 Eigenthum
38, Abnahme des 3 ohlſtandes
39, Vergangenes Leiden „ P
40, Unverſchuldetes Leiden
44, In der Gegenwart leben re
42. Gefahren willkürlicher Träumereien
43. Selbſt e „
Der Chriſt in den Erholungsſt unden
45, Der Tag der — Wehe,, Sr
46, Von einigen gemeinen Fehlern im Verbeſſern unferer Der
mögensümſtände eng
47, Verſchwiegenheietet n
48, Geſchwatzigkeit r
40. Empfindungen am Geburtstage
50, Am Schluſſe des Jahres 5
sr + * 0 *
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* * * „* *
* * *
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— —— TEE
B cZschokke, Heinrichg
4811 Stunden der Andacht
283 26. vollständige Original-Aufl.
Bd.3
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